Selbstliebe – Gebot oder Fallstrick?
Autor: Joel Winter
Das Konzept der Selbstliebe durchdringt viele Bereiche der modernen Gesellschaft. Menschen kommen sowohl im privaten als auch im beruflichen Umfeld mit dem Konzept der Selbstliebe in Kontakt, vor allem im therapeutischen Bereich der Psychologie, Psychiatrie und Seelsorge. Der Trend der Selbstliebe prägt viele Bücher und ist zentraler Bestandteil sogenannter Coaching-Sessions sowie von Meditationen und Yoga. Aber auch die christliche Welt ist von diesem Einfluss nicht unerfasst geblieben. Prominente Prediger und Pastoren haben dieses Konzept aufgenommen und tragen es an ihre Zuhörerschaft weiter.
1. HISTORISCHE EINORDNUNG:
Der Begriff der Selbstliebe wurde maßgeblich im letzten Jahrhundert geprägt. Als führender Autor ist hier Erich Fromm (1900-1980), ein humanistischer Psychoanalytiker, zu nennen. Fromm wurde seiner jüdisch-orthodoxen Erziehung zum Trotz in seinen Studien unter anderem stark von Sigmund Freud und Karl Marx geprägt. In seinen Mittzwanzigern nahm er das humanistisch-evolutionistische Weltbild an und schrieb fortan zahlreiche Bücher, zum Beispiel „Psychoanalyse und Ethik“. Das humanistische Menschenbild betrachtet den Menschen als intrinsisch gut und in seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten als nahezu unbegrenzt. Der Mensch könne seiner eigenen Vernunft vertrauen und mithilfe dieser Vernunft gültige, ethische Normen aufstellen. Er sei die oberste Instanz. Fromms Menschenbild wird anhand des folgenden Zitats deutlich: „Vom humanistischen Standpunkt gibt es nichts Höheres und nichts Erhabeneres als die menschliche Existenz.“1 Er wetterte gegen die Vorstellung, dass der Mensch einer innewohnenden Bosheit unterworfen ist und konstatierte, dass die biblische Doktrin von der Verdorbenheit des Menschen Selbsthass und Selbstverachtung als Folge mit sich bringe. Schlussendlich resümiert Fromm, dass die fehlende Liebe zum eigenen Ich für die gesellschaftlichen Probleme seiner Zeit verantwortlich sei: „Das Versagen unserer Kultur liegt […] nicht darin, dass sie zu selbstsüchtig [ist], sondern dass sie sich selbst nicht genug [liebt].“2 Andere Verfechter der Selbstliebe, wie Romano Guardini oder Walter Trobisch, führten diese Gedanken weiter.
2. Was meint Selbstliebe?
Bei genauerer Analyse des modernen Verständnisses von Selbstliebe lassen sich drei Grundvoraussetzungen benennen:
1. Der Mensch hat keine angeborene Selbstliebe, sondern muss sie erst aktiv erlernen.
2. Aus diesem Mangel an Selbstliebe entstehen große seelische Nöte und Probleme.
3. Liebe zur eigenen Person ist die Bedingung für Liebe zu anderen Menschen.3 Die Selbstliebe meint das Hegen von positiven Gefühlen gegenüber dem eigenen Ich unter Vorzeichen eines humanistischen Menschenbildes. Dabei wird die Fokussierung auf das Ich und die eigenen Bedürfnisse besonders betont. Die bewusste Förderung des Selbst biete dabei die Lösung für etwaige seelische Probleme. Die Bewältigung des Lebens geschehe aus eigener Kraft, indem der Einzelne sich das Gute, was vermeintlich in der eigenen Person steckt, bewusst macht und fördert. In der Literatur findet man neben dem Begriff der Selbstliebe zahlreiche weitere Begriffe wie Selbstannahme, Selbstfürsorge oder Selbstakzeptanz, die zwar von Autor zu Autor mit geringfügig divergierenden Bedeutungen versehen werden, aber grundsätzlich für den gleichen Grundgedanken stehen. „bedingungslosen Annahme“. Durch die bedingungslose Akzeptanz des Therapeuten dem Klienten gegenüber, könne der Klient eine gesunde und heile Beziehung zu sich selbst aufbauen.
3. Klientenzentrierte Therapie von Carl Rogers
Über die Jahre entwickelte sich das Konzept der Selbstliebe weiter. Der Psychotherapeut Carl Rogers bildete aus Fromms Theorem eine Methode, die in der Praxis angewendet werden konnte. Entsprechend wird erkennbar: „Fromm hat formuliert, spekuliert, und theoretisiert; Rogers praktiziert.“4 Rogers lehrte, dass jedem Menschen ein Drang zur Selbstverwirklichung innewohnt. In der Folge sei es der Ratsuchende, der am besten wisse, was ihm fehle, und nicht der Therapeut. Der Behandler ist in Rogers Therapie als Hilfesteller tätig, er agiert bewusst nondirektiv, also nicht lenkend. Streng zu vermeiden seien dabei Aufforderungen wie: „Sie sollten jenes tun oder lassen.“5 Besonderes Augenmerk verdient in diesem Zusammenhang der von Rogers geprägte Begriff der
4. Coaching-Hype
In vergleichbarer Weise präsentieren sich die Methoden des sogenannten Coachings. Hierbei handelt es sich um Beratungseinheiten für verschiedene Zielsetzungen, Gruppen und Personen. Während Coaching in Unternehmen zur Führungskräfteschulung schon weit verbreitet ist, hält es auch im privaten Bereich immer mehr Einzug. Das Coaching soll dem Ratsuchenden helfen, sich selbst zu reflektieren und mehr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu setzen. Der Coach versucht, dem Klienten seine Eigenschaften und Möglichkeiten zu spiegeln, damit der Klient sich der eigenen Stärken bewusst wird und eigene Lösungen entwickeln kann. Der Coach nimmt eine neutrale Position ein und unterstützt sowohl in der Zielsetzung als auch in der Umsetzung von Strategien die Autonomie des Klienten. „Die derzeitigen Coachingkonzepte enthalten zumeist eine Kombination von allgemein-psychologischen, kognitiv verhaltensorientierten, psychodynamischen und systemischen Techniken, modifiziert durch die Lebenserfahrung und Weltanschauung der Coaches.“20 Meditation, Yoga und Alltagspsychologie Nicht nur der therapeutische Bereich, sondern auch das Privatleben wird von der Philosophie der Selbstliebe geprägt. So sind viele Yoga- und Meditationsangebote stark auf das Ich ausgerichtet. Der Meditierende soll „in sich hineinhorchen“ und auf die eigenen Körperfunktionen achten, wie zum Beispiel den Atem.6 Durch die Beschäftigung mit der eigenen Person sollen Spannungen gelöst und innere Veränderungsprozesse angestoßen werden, sodass das vermeintlich Gute im Menschen hervorkommt. Weitere populärpsychologische Ratschläge beinhalten beispielsweise eine Taktik, die an die Geschichte des Narzissus erinnern lässt, soll man doch in den Spiegel schauen und dem Gegenüber dort laut seine Liebe bekunden. Kritik an eigenen Wegen solle vermieden werden, vielmehr seien es Komplimente, die der Einzelne sich geben solle.7
5. Selbstliebe in der Christenheit und biblische Einordnung
Die Philosophie der Selbstliebe konnte sich zunehmend über Predigten, Seelsorge und Bücher in der christlichen Welt ausbreiten. Zu dieser neuen Literatur zählen auch die Werke von Joyce Meyer, einer US-amerikanischen Rednerin mit großer medialer Reichweite. Ein Titel ihrer zahlreichen Online-Predigten lautet zum Beispiel „Selbstannahme – Du bist voll in Ordnung“.8 Folgende Aussagen vermitteln einen Eindruck von Meyers Glaubensverständnis und Menschenbild: „Liebt ihr euch selbst? Habt ihr eine gute Beziehung zu euch selbst?“ oder „Ich erlaube euch, euch selbst zu mögen!“9 Aber auch an anderer Stelle wird Meyers egozentrische Theologie deutlich: „Deshalb will ich unbedingt Menschen helfen, das Leben zu genießen, denn dafür ist Jesus gestorben.“10 Die Stoßrichtung des biblischen Befundes steht dem diametral entgegen, was wir beispielsweise in 2. Korinther 5,15 lesen: „Und Jesus ist deshalb für alle gestorben, damit die, welche leben, nicht mehr für sich selbst leben, sondern für den, der für sie gestorben und auferstanden ist.“ Den Grund, warum dennoch viele begeistert Meyers Vorträgen lauschen, hat bereits der Reformator Johannes Calvin vor 500 Jahren beschrieben: „Und so ist auch jeder, der die Vorzüge der menschlichen Natur mit seinen Reden kräftig herausgestrichen hat, zu allen Zeiten mit gewaltigem Beifall aufgenommen worden.“11 Auch Calvin sah in seiner Zeit Entwicklungen von Eigenliebe in der Gesellschaft: „Denn wir sind ja alle aus furchtbarer Blindheit in Selbstliebe versunken – und deshalb glaubt jeder, einen gerechten Grund zu haben, sich selbst zu erheben […].“12 Ergänzend führt der Theologe Dr. John Stott über christlich „verkleidete“ Selbstliebe aus, dass „ein vielstimmiger Chor heute einstimmig singt, ich müsse mich um jeden Preis lieben, dass Selbstliebe ein Gebot ist, das am meisten vernachlässigt wird, und die der Liebe zu Gott und zum Nächsten hinzugefügt werden muss.“13 So bezeichnet auch Joyce Meyer Selbstliebe als zwingende Bedingung für Nächstenliebe: „Wer andere lieben will, muss sich zuerst selbst lieben.“14 Sie beruft sich auf Matthäus 22,39 (und 3. Mose 19,18), wo es heißt: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Interessanterweise war der erste, der mit dieser Bibelstelle die moderne Selbstliebe propagierte, kein Christ, sondern der Psychoanalytiker Erich Fromm.15 Aber auch Walter Trobisch, lutherischer Pastor und Autor, zieht den gleichen Schluss: „Nur wer sich selbst liebt, kann den anderen lieben.“16 Wer die genannten Bibelstellen einer gründlichen Exegese unterzieht, wird feststellen, dass die Verfechter der Selbstliebe ihre Gedanken in die Bibel hineinlegen, statt sich von der Bibel lenken und korrigieren zu lassen. Zum einen spricht Jesus explizit von zwei höchsten, nicht von drei Geboten. Jesus geht also bei uns Menschen davon aus, dass wir eine schon vorhandene Selbstliebe in uns tragen. Zum anderen macht die Bibel klar, dass unsere Fähigkeit, den anderen gottgemäß zu lieben, nicht aus der praktizierten Selbstliebe kommt, sondern daher, dass Gott uns seine Liebe geschenkt hat: „Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt.“ (1. Johannes 4,19) Der Theologe J. I. Packer hilft bei der Einschätzung der christlichen Selbstliebe-Literatur: „Die modernen Christen verteilen eine dünne Schicht biblischer Lehre über eine Mischung aus volkstümlicher Psychologie und gesundem Menschenverstand, aber ihr allgemeiner Zugang zu der Sache spiegelt ganz klar Narzissmus wider, Egoismus und Selbstbezogenheit, eben die typisch weltliche Art des modernen Westens.“17 Ein weiteres wichtiges Argument gegen Selbstliebe finden wir in der Ankündigung der Bibel, dass in „schlimmen Zeiten“ die Menschen sich selbst lieben werden: „Das aber sollst du wissen, dass in den letzten Tagen schlimme Zeiten eintreten werden. Denn die Menschen werden sich selbst lieben, geldgierig sein, …“ (2. Timotheus 3,2; vergleiche auch Lukas 9,23; Johannes 12,25; Offenbarung 12,11).
5. Wie soll ein Christ von sich denken
Wenn ein Christ aus oben genannten Gründen nicht den Weg der Selbstliebe einschlagen möchte, bleibt ihm dann nur die Alternative des Selbsthasses und das ständige Niedermachen der eigenen Person? Die biblische Alternative stellt eine andere dar. Der berühmte Theologe A. W. Tozer hat es treffend ausgedrückt: „Der siegreiche Christ jubiliert nicht über sich selbst, aber erniedrigt sich auch nicht. Sein Hauptinteresse ist von sich selbst auf Christus übergegangen.“18 Sowohl Selbsthass als auch Selbstliebe sind auf das Ich ausgerichtet.19 Ganz frei von allen Selbstbezügen wird nur derjenige,
der sich um Jesus Christus dreht. Ein Christ kann nach dem Motto des Galaterbriefes leben: „Und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir.“ (Galater 2,20) Die Lösung besteht also darin, im Blick auf den Erlöser „sich selbst zu vergessen“. Alle übertriebenen Gedanken der Selbstliebe werden verblassen, wenn ein Mensch denjenigen zum Mittelpunkt hat, für den er wirklich erschaffen wurde und sich auf ihn und sein Wort ausrichtet. „Tut nichts aus Selbstsucht oder nichtigem Ehrgeiz, sondern in Demut achte einer den anderen höher als sich selbst. Jeder schaue nicht auf das Seine, sondern auf das des anderen.“ (Philipper 2,3–4) Ein Christ sollte sich nicht im Prachtkleid von durch Selbstliebe gefördertem Hochmut und Stolz zeigen, sondern im schlichten Gewand der Demut: „Ihr alle sollt euch gegenseitig unterordnen und mit Demut bekleiden.“ (1. Petrus 5,5) Der beständige Blick auf Gott ermöglicht es, für die eigenen natürlichen Bedürfnisse zu sorgen, ohne einer Selbstliebe anheim zu fallen, die den Menschen zum Mittelpunkt macht.
[1] Fromm, Erich: Psychoanalyse und Ethik – Bausteine zu einer humanistischen Charakterologie. München. dtv. 1985. S. 21. [2] Ebd., S. 111.
[3] Trobisch, Walter: Liebe dich selbst. Wuppertal. R. Brockhaus Verlag. 1986. S. 9.
[4] Brownback, Paul: Selbstliebe – Eine biblische Stellungnahme. Asslar. Herold-Bücher im Verlag Schulte+Gerth. 1988. S. 77.
[5] Ebd., S. 78.
[6] Morrison, Mady: Geführte Meditation für Entspannung & Zufriedenheit. Abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=mn-KTgQnYg0, zuletzt abgerufen am 31.05.2024.
[7] Jeanmaire, Tushita M. in: GlücksPost Nr. 46, 16. November 2006, S. 38.
[8] Meyer, Joyce: Selbstannahme – Du bist voll in Ordnung. Abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=Gz_R15KJVyc, zuletzt abgerufen am 31.05.2024.
[9] Brenscheidt, Thorsten: Spürst du Gott schon oder liest du noch die Bibel? Lage. Lichtzeichen Verlag. 2014. S. 203-210.
[10] Meyer, Joyce: Mit Leidenschaft und Zielen leben. Abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=H026DDSz2PA, zuletzt abgerufen am 03.06.2024.
[11] Calvin, Johannes: Institutionen der christlichen Religion. Neukirchen- Vluyn. Neukirchener Verlag des Erziehungsvereins. 1984. S. 134.
[12] Ebd. S. 448.
[13] Nannen, Els: Selbstliebe und Selbstannahme. Abrufbar unter: https://horst-koch.de/selbstliebe-e-nannen/ zuletzt abgerufen am 31.05.2024.
[14] Brenscheidt, Thorsten: Spürst du Gott schon oder liest du noch die Bibel? Lage. Lichtzeichen Verlag. 2014. S. 204.
[15] Fromm, Erich: Psychoanalyse und Ethik – Bausteine zu einer humanistischen Charakterologie. München. dtv. 1985. S. 104.
[16] Trobisch, Walter: Liebe dich selbst. Wuppertal. R. Brockhaus Verlag. 1986. S. 14.
[17] Hunt, Dave: Rückkehr zum biblischen Christentum. Bielefeld. clv. 1988. S. 182.
[18] Hunt, Dave: Die Verführung der Christenheit. Bielefeld. clv. 1987. S. 201.
[19] Brownback, Paul: Selbstliebe – Eine biblische Stellungnahme. Asslar. Herold-Bücher im Verlag Schulte+Gerth. 1988. S. 133.
[20] Holm-Hadulla, R. Coaching. Psychotherapeut Nr. 47, S. 241-248, 2002. abgerufen am 11.07.2024 unter https://doi.org/10.1007/s00278-002-0236-7
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