Selbstliebe – Gebot oder Fallstrick?

Selbstliebe – Gebot oder Fallstrick?

Autor: Joel Winter

Das Konzept der Selbstliebe durchdringt viele Bereiche der modernen Gesellschaft. Menschen kommen sowohl im privaten als auch im beruflichen Umfeld mit dem Konzept der Selbstliebe in Kontakt, vor allem im therapeutischen Bereich der Psychologie, Psychiatrie und Seelsorge. Der Trend der Selbstliebe prägt viele Bücher und ist zentraler Bestandteil sogenannter Coaching-Sessions sowie von Meditationen und Yoga. Aber auch die christliche Welt ist von diesem Einfluss nicht unerfasst geblieben. Prominente Prediger und Pastoren haben dieses Konzept aufgenommen und tragen es an ihre Zuhörerschaft weiter.

1. HISTORISCHE EINORDNUNG:

Der Begriff der Selbstliebe wurde maßgeblich im letzten Jahrhundert geprägt. Als führender Autor ist hier Erich Fromm (1900-1980), ein humanistischer Psychoanalytiker, zu nennen. Fromm wurde seiner jüdisch-orthodoxen Erziehung zum Trotz in seinen Studien unter anderem stark von Sigmund Freud und Karl Marx geprägt. In seinen Mittzwanzigern nahm er das humanistisch-evolutionistische Weltbild an und schrieb fortan zahlreiche Bücher, zum Beispiel „Psychoanalyse und Ethik“. Das humanistische Menschenbild betrachtet den Menschen als intrinsisch gut und in seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten als nahezu unbegrenzt. Der Mensch könne seiner eigenen Vernunft vertrauen und mithilfe dieser Vernunft gültige, ethische Normen aufstellen. Er sei die oberste Instanz. Fromms Menschenbild wird anhand des folgenden Zitats deutlich: „Vom humanistischen Standpunkt gibt es nichts Höheres und nichts Erhabeneres als die menschliche Existenz.“1 Er wetterte gegen die Vorstellung, dass der Mensch einer innewohnenden Bosheit unterworfen ist und konstatierte, dass die biblische Doktrin von der Verdorbenheit des Menschen Selbsthass und Selbstverachtung als Folge mit sich bringe. Schlussendlich resümiert Fromm, dass die fehlende Liebe zum eigenen Ich für die gesellschaftlichen Probleme seiner Zeit verantwortlich sei: „Das Versagen unserer Kultur liegt […] nicht darin, dass sie zu selbstsüchtig [ist], sondern dass sie sich selbst nicht genug [liebt].“2 Andere Verfechter der Selbstliebe, wie Romano Guardini oder Walter Trobisch, führten diese Gedanken weiter.

2. Was meint Selbstliebe?

Bei genauerer Analyse des modernen Verständnisses von Selbstliebe lassen sich drei Grundvoraussetzungen benennen:
1. Der Mensch hat keine angeborene Selbstliebe, sondern muss sie erst aktiv erlernen.
2. Aus diesem Mangel an Selbstliebe entstehen große seelische Nöte und Probleme.
3. Liebe zur eigenen Person ist die Bedingung für Liebe zu anderen Menschen.3 Die Selbstliebe meint das Hegen von positiven Gefühlen gegenüber dem eigenen Ich unter Vorzeichen eines humanistischen Menschenbildes. Dabei wird die Fokussierung auf das Ich und die eigenen Bedürfnisse besonders betont. Die bewusste Förderung des Selbst biete dabei die Lösung für etwaige seelische Probleme. Die Bewältigung des Lebens geschehe aus eigener Kraft, indem der Einzelne sich das Gute, was vermeintlich in der eigenen Person steckt, bewusst macht und fördert. In der Literatur findet man neben dem Begriff der Selbstliebe zahlreiche weitere Begriffe wie Selbstannahme, Selbstfürsorge oder Selbstakzeptanz, die zwar von Autor zu Autor mit geringfügig divergierenden Bedeutungen versehen werden, aber grundsätzlich für den gleichen Grundgedanken stehen. „bedingungslosen Annahme“. Durch die bedingungslose Akzeptanz des Therapeuten dem Klienten gegenüber, könne der Klient eine gesunde und heile Beziehung zu sich selbst aufbauen.

3. Klientenzentrierte Therapie von Carl Rogers

Über die Jahre entwickelte sich das Konzept der Selbstliebe weiter. Der Psychotherapeut Carl Rogers bildete aus Fromms Theorem eine Methode, die in der Praxis angewendet werden konnte. Entsprechend wird erkennbar: „Fromm hat formuliert, spekuliert, und theoretisiert; Rogers praktiziert.“4 Rogers lehrte, dass jedem Menschen ein Drang zur Selbstverwirklichung innewohnt. In der Folge sei es der Ratsuchende, der am besten wisse, was ihm fehle, und nicht der Therapeut. Der Behandler ist in Rogers Therapie als Hilfesteller tätig, er agiert bewusst nondirektiv, also nicht lenkend. Streng zu vermeiden seien dabei Aufforderungen wie: „Sie sollten jenes tun oder lassen.“5 Besonderes Augenmerk verdient in diesem Zusammenhang der von Rogers geprägte Begriff der

4. Coaching-Hype

In vergleichbarer Weise präsentieren sich die Methoden des sogenannten Coachings. Hierbei handelt es sich um Beratungseinheiten für verschiedene Zielsetzungen, Gruppen und Personen. Während Coaching in Unternehmen zur Führungskräfteschulung schon weit verbreitet ist, hält es auch im privaten Bereich immer mehr Einzug. Das Coaching soll dem Ratsuchenden helfen, sich selbst zu reflektieren und mehr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu setzen. Der Coach versucht, dem Klienten seine Eigenschaften und Möglichkeiten zu spiegeln, damit der Klient sich der eigenen Stärken bewusst wird und eigene Lösungen entwickeln kann. Der Coach nimmt eine neutrale Position ein und unterstützt sowohl in der Zielsetzung als auch in der Umsetzung von Strategien die Autonomie des Klienten. „Die derzeitigen Coachingkonzepte enthalten zumeist eine Kombination von allgemein-psychologischen, kognitiv verhaltensorientierten, psychodynamischen und systemischen Techniken, modifiziert durch die Lebenserfahrung und Weltanschauung der Coaches.“20 Meditation, Yoga und Alltagspsychologie Nicht nur der therapeutische Bereich, sondern auch das Privatleben wird von der Philosophie der Selbstliebe geprägt. So sind viele Yoga- und Meditationsangebote stark auf das Ich ausgerichtet. Der Meditierende soll „in sich hineinhorchen“ und auf die eigenen Körperfunktionen achten, wie zum Beispiel den Atem.6 Durch die Beschäftigung mit der eigenen Person sollen Spannungen gelöst und innere Veränderungsprozesse angestoßen werden, sodass das vermeintlich Gute im Menschen hervorkommt. Weitere populärpsychologische Ratschläge beinhalten beispielsweise eine Taktik, die an die Geschichte des Narzissus erinnern lässt, soll man doch in den Spiegel schauen und dem Gegenüber dort laut seine Liebe bekunden. Kritik an eigenen Wegen solle vermieden werden, vielmehr seien es Komplimente, die der Einzelne sich geben solle.7

5. Selbstliebe in der Christenheit und biblische Einordnung

Die Philosophie der Selbstliebe konnte sich zunehmend über Predigten, Seelsorge und Bücher in der christlichen Welt ausbreiten. Zu dieser neuen Literatur zählen auch die Werke von Joyce Meyer, einer US-amerikanischen Rednerin mit großer medialer Reichweite. Ein Titel ihrer zahlreichen Online-Predigten lautet zum Beispiel „Selbstannahme – Du bist voll in Ordnung“.8 Folgende Aussagen vermitteln einen Eindruck von Meyers Glaubensverständnis und Menschenbild: „Liebt ihr euch selbst? Habt ihr eine gute Beziehung zu euch selbst?“ oder „Ich erlaube euch, euch selbst zu mögen!“9 Aber auch an anderer Stelle wird Meyers egozentrische Theologie deutlich: „Deshalb will ich unbedingt Menschen helfen, das Leben zu genießen, denn dafür ist Jesus gestorben.“10 Die Stoßrichtung des biblischen Befundes steht dem diametral entgegen, was wir beispielsweise in 2. Korinther 5,15 lesen: „Und Jesus ist deshalb für alle gestorben, damit die, welche leben, nicht mehr für sich selbst leben, sondern für den, der für sie gestorben und auferstanden ist.“ Den Grund, warum dennoch viele begeistert Meyers Vorträgen lauschen, hat bereits der Reformator Johannes Calvin vor 500 Jahren beschrieben: „Und so ist auch jeder, der die Vorzüge der menschlichen Natur mit seinen Reden kräftig herausgestrichen hat, zu allen Zeiten mit gewaltigem Beifall aufgenommen worden.“11 Auch Calvin sah in seiner Zeit Entwicklungen von Eigenliebe in der Gesellschaft: „Denn wir sind ja alle aus furchtbarer Blindheit in Selbstliebe versunken – und deshalb glaubt jeder, einen gerechten Grund zu haben, sich selbst zu erheben […].“12 Ergänzend führt der Theologe Dr. John Stott über christlich „verkleidete“ Selbstliebe aus, dass „ein vielstimmiger Chor heute einstimmig singt, ich müsse mich um jeden Preis lieben, dass Selbstliebe ein Gebot ist, das am meisten vernachlässigt wird, und die der Liebe zu Gott und zum Nächsten hinzugefügt werden muss.“13 So bezeichnet auch Joyce Meyer Selbstliebe als zwingende Bedingung für Nächstenliebe: „Wer andere lieben will, muss sich zuerst selbst lieben.“14 Sie beruft sich auf Matthäus 22,39 (und 3. Mose 19,18), wo es heißt: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Interessanterweise war der erste, der mit dieser Bibelstelle die moderne Selbstliebe propagierte, kein Christ, sondern der Psychoanalytiker Erich Fromm.15 Aber auch Walter Trobisch, lutherischer Pastor und Autor, zieht den gleichen Schluss: „Nur wer sich selbst liebt, kann den anderen lieben.“16 Wer die genannten Bibelstellen einer gründlichen Exegese unterzieht, wird feststellen, dass die Verfechter der Selbstliebe ihre Gedanken in die Bibel hineinlegen, statt sich von der Bibel lenken und korrigieren zu lassen. Zum einen spricht Jesus explizit von zwei höchsten, nicht von drei Geboten. Jesus geht also bei uns Menschen davon aus, dass wir eine schon vorhandene Selbstliebe in uns tragen. Zum anderen macht die Bibel klar, dass unsere Fähigkeit, den anderen gottgemäß zu lieben, nicht aus der praktizierten Selbstliebe kommt, sondern daher, dass Gott uns seine Liebe geschenkt hat: „Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt.“ (1. Johannes 4,19) Der Theologe J. I. Packer hilft bei der Einschätzung der christlichen Selbstliebe-Literatur: „Die modernen Christen verteilen eine dünne Schicht biblischer Lehre über eine Mischung aus volkstümlicher Psychologie und gesundem Menschenverstand, aber ihr allgemeiner Zugang zu der Sache spiegelt ganz klar Narzissmus wider, Egoismus und Selbstbezogenheit, eben die typisch weltliche Art des modernen Westens.“17 Ein weiteres wichtiges Argument gegen Selbstliebe finden wir in der Ankündigung der Bibel, dass in „schlimmen Zeiten“ die Menschen sich selbst lieben werden: „Das aber sollst du wissen, dass in den letzten Tagen schlimme Zeiten eintreten werden. Denn die Menschen werden sich selbst lieben, geldgierig sein, …“ (2. Timotheus 3,2; vergleiche auch Lukas 9,23; Johannes 12,25; Offenbarung 12,11).

5. Wie soll ein Christ von sich denken

Wenn ein Christ aus oben genannten Gründen nicht den Weg der Selbstliebe einschlagen möchte, bleibt ihm dann nur die Alternative des Selbsthasses und das ständige Niedermachen der eigenen Person? Die biblische Alternative stellt eine andere dar. Der berühmte Theologe A. W. Tozer hat es treffend ausgedrückt: „Der siegreiche Christ jubiliert nicht über sich selbst, aber erniedrigt sich auch nicht. Sein Hauptinteresse ist von sich selbst auf Christus übergegangen.“18 Sowohl Selbsthass als auch Selbstliebe sind auf das Ich ausgerichtet.19 Ganz frei von allen Selbstbezügen wird nur derjenige,
der sich um Jesus Christus dreht. Ein Christ kann nach dem Motto des Galaterbriefes leben: „Und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir.“ (Galater 2,20) Die Lösung besteht also darin, im Blick auf den Erlöser „sich selbst zu vergessen“. Alle übertriebenen Gedanken der Selbstliebe werden verblassen, wenn ein Mensch denjenigen zum Mittelpunkt hat, für den er wirklich erschaffen wurde und sich auf ihn und sein Wort ausrichtet. „Tut nichts aus Selbstsucht oder nichtigem Ehrgeiz, sondern in Demut achte einer den anderen höher als sich selbst. Jeder schaue nicht auf das Seine, sondern auf das des anderen.“ (Philipper 2,3–4) Ein Christ sollte sich nicht im Prachtkleid von durch Selbstliebe gefördertem Hochmut und Stolz zeigen, sondern im schlichten Gewand der Demut: „Ihr alle sollt euch gegenseitig unterordnen und mit Demut bekleiden.“ (1. Petrus 5,5) Der beständige Blick auf Gott ermöglicht es, für die eigenen natürlichen Bedürfnisse zu sorgen, ohne einer Selbstliebe anheim zu fallen, die den Menschen zum Mittelpunkt macht.

[1] Fromm, Erich: Psychoanalyse und Ethik – Bausteine zu einer humanistischen Charakterologie. München. dtv. 1985. S. 21.                                                        [2] Ebd., S. 111.
[3] Trobisch, Walter: Liebe dich selbst. Wuppertal. R. Brockhaus Verlag. 1986. S. 9.
[4] Brownback, Paul: Selbstliebe – Eine biblische Stellungnahme. Asslar. Herold-Bücher im Verlag Schulte+Gerth. 1988. S. 77.
[5] Ebd., S. 78.
[6] Morrison, Mady: Geführte Meditation für Entspannung & Zufriedenheit. Abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=mn-KTgQnYg0, zuletzt abgerufen am 31.05.2024.
[7] Jeanmaire, Tushita M. in: GlücksPost Nr. 46, 16. November 2006, S. 38.
[8] Meyer, Joyce: Selbstannahme – Du bist voll in Ordnung. Abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=Gz_R15KJVyc, zuletzt abgerufen am 31.05.2024.
[9] Brenscheidt, Thorsten: Spürst du Gott schon oder liest du noch die Bibel? Lage. Lichtzeichen Verlag. 2014. S. 203-210.
[10] Meyer, Joyce: Mit Leidenschaft und Zielen leben. Abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=H026DDSz2PA, zuletzt abgerufen am 03.06.2024.
[11] Calvin, Johannes: Institutionen der christlichen Religion. Neukirchen- Vluyn. Neukirchener Verlag des Erziehungsvereins. 1984. S. 134.
[12] Ebd. S. 448.
[13] Nannen, Els: Selbstliebe und Selbstannahme. Abrufbar unter: https://horst-koch.de/selbstliebe-e-nannen/ zuletzt abgerufen am 31.05.2024.
[14] Brenscheidt, Thorsten: Spürst du Gott schon oder liest du noch die Bibel? Lage. Lichtzeichen Verlag. 2014. S. 204.
[15] Fromm, Erich: Psychoanalyse und Ethik – Bausteine zu einer humanistischen Charakterologie. München. dtv. 1985. S. 104.
[16] Trobisch, Walter: Liebe dich selbst. Wuppertal. R. Brockhaus Verlag. 1986. S. 14.
[17] Hunt, Dave: Rückkehr zum biblischen Christentum. Bielefeld. clv. 1988. S. 182.
[18] Hunt, Dave: Die Verführung der Christenheit. Bielefeld. clv. 1987. S. 201.
[19] Brownback, Paul: Selbstliebe – Eine biblische Stellungnahme. Asslar. Herold-Bücher im Verlag Schulte+Gerth. 1988. S. 133.
[20] Holm-Hadulla, R. Coaching. Psychotherapeut Nr. 47, S. 241-248, 2002. abgerufen am 11.07.2024 unter https://doi.org/10.1007/s00278-002-0236-7


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Was soll meine Seele heilen? Eine Untersuchung zu Psychotherapie und Seelsorge

Was soll meine Seele heilen? Eine Untersuchung zu Psychotherapie und Seelsorge

Autor: Jonas Janik Ralf Koberschinski & Dr. med. Mira Pankratz

Immer mehr Menschen leiden an psychischen Erkrankungen. 2022 verzeichnete die Kaufmännische Krankenkasse 16 % mehr Krankschreibungen aufgrund seelischer Erkrankungen.1 Folglich rücken Psychopharmaka und Psychotherapie als zunehmend gefragte Heilmittel in den Fokus unserer Gesellschaft. Letzteres wollen wir in diesem Artikel näher untersuchen, da in der Psychotherapie und ihren zahlreichen Schulen eine gute Lösung gesehen wird. Auch in den Gemeinden erfahren wir einen großen Bedarf an Seelsorge. In Anbetracht der gesellschaftlichen Präsenz der Psychotherapie mit ihren zahlreichen Schulen und ihrer (scheinbaren) Professionalität, drängt sich immer wieder die Frage auf, ob die Seelsorge durch psychotherapeutische Methoden bereichert werden sollte. Sind wir mit der Bibel im Einklang, wenn wir als Christen Psychotherapie praktizieren? Verschiedene Stimmen plädieren dafür.2 Einer der Gründe dafür besteht in der ihr zugeschriebenen hohen Wirksamkeit und man meint pragmatisch, dass diese wirkmächtige Methode die Seelsorge ergänze.

1. DIE WIRKSAMKEIT DER PSYCHOTHERAPIE

Dass Psychotherapie eine wirksame Methode zur Behandlung zahlreicher psychischer Erkrankungen ist, wird inzwischen weithin, obgleich nicht ohne Widerspruch, angenommen.3 Mehr als 35.000 Primärstudien4 sprechen dafür. Dazu kommen circa 6000 Metaanalysen.5 In Metaanalysen werden Ergebnisse aus vielen Primärstudien zusammengefasst und nach verschiedenen Schwerpunkten in einem deutlich größeren Datenkontext bewertet. Durch dieses systematische Bündeln vieler Einzelstudien erhöht sich der Evidenzgrad (Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Ergebnis der Wahrheit entspricht) einer wissenschaftlichen Aussage. In Bezug auf die Frage nach der Wirksamkeit einer Intervention, kommen Metaanalysen deshalb eine besondere Relevanz zu.6 Jede Einzelstudie kann nur eingeschränkt und in unterschiedlichem Ausmaß die Wirksamkeit einer Behandlung begründen. 7 In Anbetracht der schieren Datenmenge wird heutzutage allgemeinhin angenommen, dass Psychotherapie wirklich wirkt. Gemeinsame Wirkfaktoren Nun gibt es viele unterschiedliche Psychotherapieschulen (zum Beispiel psychodynamische oder verhaltenstherapeutische Psychotherapie), die in ihrem Problem- und Therapieverständnis stark voneinander abweichen. Hier drängt sich die Frage auf, welche dieser Schulen die am besten wirksame ist. Überraschenderweise sieht sich die Psychotherapieforschung mit der Erkenntnis konfrontiert, dass keine bestimmte Therapieschule der anderen überlegen ist.8 Dieser Umstand wurde bereits 1936 von dem US-amerikanischen Psychologen und Psychotherapieforscher Saul Rosenzweig erwähnt.9 Die Erkenntnis über die Gleichwertigkeit der verschiedenen Psychotherapieansätze (bezogen auf die Wirksamkeit) lässt die Schlussfolgerung zu, dass es gemeinsame Wirkfaktoren geben muss, die zum Erfolg der Psychotherapie im Allgemeinen führen. Das stellt die Unterteilung in Schulen ein Stück weit infrage. Denn die einzelnen Schulen gehen gerade davon aus, dass aufgrund ihrer speziellen Methodik die Behandlung wirksam ist und nicht aufgrund allgemeiner Wirkfaktoren, die, egal welcher Schule man angehört, wirken, sodass die Schulzuordnung letztlich mehr oder minder überflüssig sei. Über die Jahrzehnte wurden verschiedene Modelle entwickelt, die diese gemeinsamen Wirkfaktoren darstellen sollen. Eines dieser Modelle, das Kontextuelle Metamodell, 10 wurde von Wampold et al. konzipiert. Es nimmt an, dass die Psychotherapie ihre Wirkung aufgrund eines bestimmten Kontextes entfaltet, in dem Therapeut und Patient interagieren. Dieser Kontext wird durch drei wesentliche Aspekte geschaffen: Zuerst braucht es eine echte Beziehung zwischen Therapeut und Patient. Diese Beziehung soll vertraulich, authentisch und über das Pflichtmaß an Freundlichkeit hinausgehend sein. Zweitens müssen sowohl der Patient als auch der Therapeut eine Erwartung an die Therapie haben. Der Patient muss tatsächlich davon ausgehen, dass der Therapeut seine Probleme erklären und passende Lösungsmöglichkeiten anbieten kann. Aber auch der Therapeut braucht eine positive Erwartungshaltung. Er muss davon überzeugt sein, dass die durch ihn durchgeführte Therapie hilft.
Der dritte und letzte Wirkmechanismus umfasst die tatsächliche Durchführung der Therapie durch einen ausgebildeten Therapeuten. Bei der Behandlung selbst wird die Wirkung nicht psychotherapieschulen- spezifischen Faktoren zugeordnet, sondern der Annahme, dass gesundheitsfördernde Verhaltensweisen besprochen und trainiert werden. Dazu gehören Bereiche wie ein verändertes Denken und eine Veränderung der Sicht auf die Welt, eine Erklärung für die bestehenden Probleme zu haben, Selbstreflexion oder auch das Anleiten bei sozialer Interaktion. Außerdem soll ein gestärktes Selbstwertgefühl das Bewusstsein der Selbstwirksamkeit schaffen. Erzielt der Patient eine Verbesserung in einem dieser Lebensbereiche, so wirkt sich dies positiv auf die anderen beispielhaft genannten Felder aus. Wenn sich die eigentliche Wirksamkeit der Psychotherapie entsprechend des Kontextuellen Metamodells in einer „echten Beziehung“, einer „bestimmten, positiven Erwartung“ und der „Durchführung von geschultem Personal“ finden lässt, kann dadurch auch die Effektivität von Interventions-Apps und Laientherapie erklärt werden.11 Die abstrahierten, gemeinsamen Wirkfaktoren lassen sich teilweise auch in anderen Kontexten wiederfinden, wie zum Beispiel in der Seelsorge. Worin sich Psychotherapie und Seelsorge ähneln und worin sie sich grundlegend unterscheiden, wird im Folgenden am Beispiel der kognitiven Verhaltenstherapie gezeigt.

2. KOGNITIVE VERHALTENSTHERAPIE

Die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) wird hier als ein Psychotherapiekonzept herausgegriffen, das Einzug in die christliche Seelsorge erhalten soll.12 Auf den ersten Blick könnte man meinen, die KVT sei im Vergleich zur von Siegmund Freud begründeten Psychoanalyse weltanschaulich neutral. Kann sie daher problemlos in die Seelsorge integriert oder gar losgelöst von der Seelsorge von Christen angeboten werden? Wir können die Kernfrage unserer Untersuchung zuspitzen: Sollten Christen „Kognitive Verhaltenstherapie“ praktizieren? Lerntheoretische Grundlagen Verhaltenstherapien sind aus den lernpsychologischen Erkenntnissen des Behaviorismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hervorgegangen. Zu dieser Zeit wurden Lerntheorien (zum Beispiel klassische und operante Konditionierung)13 formuliert, die bis heute an den Universitäten gelehrt werden. Die Grundannahme der Verhaltenstherapie ist, dass das Verhalten eines jeden Menschen zu einem Großteil erlernt und in der Konsequenz auch modifizierbar ist. Wir können also neue Verhaltensweisen lernen und alte wieder verlernen. Das Attribut „kognitiv“ wendet die eben genannten Überlegungen auf das Denken an, was bedeutet, dass auch unsere Denkweisen modifiziert werden können. Durch die KVT sollen „falsche“ Überzeugungen oder „nicht dienliche“, die den Patienten belasten, erkannt und verändert werden. Es soll also ein schädliches Gedankenverhalten modifiziert und in produktive Bahnen gelenkt werden. Unser Denken und unser Verhalten haben Auswirkungen auf unser gesamtes Leben. Ständig finden wir uns in verschiedenen Situationen wieder, die wir bewerten und auf die wir reagieren müssen. Diese Reaktionen können gewollte oder ungewollte Gefühle, körperliche Erregungszustände oder Verhaltensweisen sein. Wenn wir infolge einer durch uns als kritisch bewerteten Situation ein bestimmtes negatives Denk- und Verhaltensmuster erlernen, können wir dieses unbewusst auf weniger kritische Situationen übertragen. Die Kopplung von Bewertung und Reaktion führt dann zu unangemessenem Denken und Handeln. Die KVT setzt an dieser Stelle an und möchte die unangemessen negativen Gedanken durch angebrachtere Vorstellungen ersetzen. Durch die Therapie soll der Patient befähigt werden, seine Gedanken besser kontrollieren zu können und zur Bewertung von Situationen Maßstäbe heranzuziehen, die ihn eine Gegebenheit positiver erleben lassen. Die KVT lässt sich auf vier grundlegende Prinzipien reduzieren.15 Erstens ist sie zielorientiert. Sie beschäftigt sich mit der Bewältigung konkreter Probleme. Im Gegenteil dazu versucht die Psychoanalyse zuerst verborgene Traumata zu ergründen, um sie anschließend zu bewältigen. Zweitens ist die KVT im Hier und Jetzt verankert. Änderungen des Denkens und Verhaltens sollen vor Ort und in der Gegenwart vollzogen werden. Drittens ist das handelnde Subjekt der Patient selbst. Der Therapeut gibt lediglich eine Hilfe zur Selbsthilfe (Stichwort: Selbstwirksamkeit). Viertens zielt die KVT darauf ab, negative Gedankenautomatismen zu erkennen und zu durchbrechen. Klinische Anwendung Für die KVT gibt es viele Indikationen: Depression,16 Angststörungen,17 Panik,18 Schlafstörungen,19 Zwangsstörungen, Reizdarm-Syndrom, Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung, chronische Schmerzen, Tinnitus, rheumatische Erkrankungen, überaktive Blase, et cetera.20 Ein Vorzug dieser Therapieschule besteht darin, dass bis zum Eintreten einer Besserung der Beschwerden im Durchschnitt weniger Therapiesitzungen benötigt werden als bei anderen Psychotherapieformen.21 Grob skizziert läuft die KVT wie folgt ab: Ein Hilfesuchender sucht einen Therapeuten aus. In ersten Gesprächen wird überprüft, ob zwischen den beiden Parteien die nötige, vertrauensvolle Beziehung hergestellt werden kann (siehe oben). Anschließend wird eine Problem- und Verhaltensanalyse durchgeführt und ein Therapieplan aufgestellt. Dann werden Methoden besprochen, die vom Patienten regelmäßig geübt werden sollen. Hausaufgaben sind Teil der Therapie. Ein Beispiel für eine Technik, die in einer Situation mit destruktiven Gedanken zum Einsatz kommen kann, ist die kognitive Umstrukturierung. Allerlei Gedanken schwirren durch unsere Köpfe und werden selten reflektiert. Dieses Reflektieren ist der Arbeitsauftrag bei der „kognitiven Umstrukturierung“. Der Patient soll Gedanken, die ihn beeinträchtigen, identifizieren, kritisch reflektieren und gegebenenfalls modifizieren lernen. Ein kurzes Beispiel: Ein Patient hat eine Depression.22 Er identifiziert Gedanken nach dem Muster: „Was kann ich eigentlich? Ich bin nutzlos.“ Diese werden beispielsweise umstrukturiert in: „Nein, ich denke, ich bin nutzlos.“ Das Hinzufügen der Einordnung „ich denke“ bewirkt eine bewusste Distanzierung vom eigenen Denken. Erst dadurch wird eine Überprüfung des Wahrheitsgehalts ermöglicht. So kann es gelingen den „Circulus vitiosus“ in einen „Circulus virtuosus“23 zu überführen (von „fehlerhaft“ zu „fähig“). Wenn das erreicht ist und beim Hilfesuchenden zur Gewohnheit geworden ist, hat die KVT ihr Zeil erreicht.

3. BIBLISCHE BEURTEILUNG DER KVT

Diese kurze Übersicht befähigt uns bereits, eine kritische Analyse und Beurteilung dieses Therapiekonzepts im Rahmen des christlichen Weltbilds vorzunehmen. Die eben dargestellte Methode der „kognitiven Umstrukturierung“ und Distanzierung zu akzidentellen Gedankengängen weist positive Elemente auf. Was Paulus Christen aufträgt, klingt ähnlich: „Denn die Waffen unseres Kampfes sind nicht fleischlich, sondern mächtig für Gott zur Zerstörung von Festungen; so […] nehmen [wir] jeden Gedanken gefangen unter den Gehorsam Christi“ (2. Korinther 10,4). Insofern trägt uns Paulus lange vor der Begründung der KVT in gewisser Weise das Prinzip der „kognitiven Umstrukturierung“ auf. Wir sollen unsere (respektive alle) Gedanken umstrukturieren, indem wir unsere Gedanken anhand der Bibel überprüfen und sie mithilfe der uns zugesprochenen Verheißungen hinterfragen. Dazu schreibt Paulus in Philipper 4,8: „Übrigens, Brüder, alles, was wahr, alles, was ehrbar, alles, was gerecht, alles, was rein, alles, was liebenswert, alles, was wohllautend ist, wenn es irgendeine Tugend und wenn es irgendein Lob [gibt], das erwägt!“ Die KVT macht sich an dieser Stelle eine gute Methode zu eigen, weil sie unbewusst auf biblische Prinzipien zurückgreift. Neben dieser einen Methode, die wir in der KVT finden und die durchaus biblisch begründbar nachzuahmen ist, treten andere Faktoren hervor, die sich nicht mit dem christlichen Weltbild vereinbaren lassen. Was der KVT den Anschein der Neutralität nimmt, ist das zugrundeliegende Menschenbild. Im gängigen Standardwerk „Lehrbuch der Verhaltenstherapie“ heißt es dazu: „Jeder psychotherapeutische Ansatz – jede Richtung, jede ‘Schule‘ – vermittelt über die eigenen Modellvorstellungen auch ein bestimmtes Bild vom Menschen. Dies wird oft nicht explizit ausformuliert, sondern in den Behandlungsempfehlungen zeigt sich indirekt, welchen Zusammenhängen besonderes Gewicht beigemessen wird.“24 Demgemäß handelt es sich bei der KVT nicht um eine objektive und neutrale Beobachtungsmethode, sondern die gewonnenen Erkenntnisse werden innerhalb der jeweiligen Weltanschauung weiterverarbeitet. Im Fall der KVT handelt es sich um ein materialistisch geprägtes Weltbild, welches sich von geistlichen Realitäten distanziert. Damit zeichnet sich ein erster gravierender Unterschied zur Grundausrichtung der Seelsorge ab. Die Unterschiede lassen sich kategorisch in drei Punkten25 zusammenfassen:
a) Gottlos Die KVT ist gottlos aufgebaut. Gott ist nicht Teil der Gleichung, die zum Ergebnis einer gelungenen Therapie führen soll. Ausgangspunkt und handelndes Subjekt in der KVT ist nicht der heilige und gerechte Gott, wie er in der Bibel in Römer 3 oder Jesaja 6 beschrieben wird. Sondern der Fokus liegt auf menschlichen Gedanken, die für das Leben einer Person zuträglich oder hinderlich sein können. Die KVT kreist von ihrem Wesen her einzig und allein um den Menschen, während die echte Seelsorge um Gott kreist.
b) Relativistisch Die KVT hält sich weder an Gottes Maßstab (die Bibel) noch an irgendein anderes für alle Teilnehmer verbindliches Wertegerüst. Jeder Hilfesuchende muss sich zuerst seine eigene Lebens- und Moralvorstellung konzipieren, um anschließend innerhalb dieser Vorstellungen, die für niemanden sonst eine Verbindlichkeit haben, eine Lösung für seine Probleme finden. Offen bleibt die Frage, woran sich der Patient beim Erstellen seiner persönlichen Maßstäbe orientieren soll. Was ist zuträglich und was ist hinderlich? Es liegt nahe, dass die Bewertung von Patient zu Patient, aber auch von Therapeut zu Therapeut divergieren und sich jederzeit ändern, also relativieren, kann. Seelsorge entscheidet anders. Sie ist in Gottes Wort gegründet und hat damit feste, für jeden anhand der Bibel überprüfbare Werte. Denn nur Gott allein hat das Recht, die Macht und die Weisheit, gute und richtige Maßstäbe festzulegen. Und deshalb orientiert sich der Christ an ihm.
c) Menschenzentriert Weil bewusst keine definierte Transzendenz und insbesondere nicht der Gott der Bibel im Mittelpunkt der Verhaltenstherapie steht, rückt der einzelne Mensch an diesen Platz. Insofern spielen für die KVT grundsätzliche theologische Wahrheiten keine Rolle. Zwei wesentliche konstitutive Merkmale des Christentums sind die Geschöpflichkeit und die Sündhaftigkeit des Menschen, der seinem vollkommenen, heiligen Schöpfer gegenüber steht. Indem die Geschöpflichkeit geleugnet wird, erleidet der Mensch den Verlust entscheidender Bestandteile seines Wertes. Auf welcher Basis soll ich den Gedanken „ich bin wertlos“ umstrukturieren, wenn ich – zugespitzt gesprochen – arm, arbeitslos und in zerrütteten Verhältnissen lebe? Worin kann ich einen Wert finden, der nicht durch mein eigenes Denken oder das Urteilen anderer zunichte gemacht werden kann? Die Seelsorge hat keine Probleme damit, eine feststehende Lösung für diese Gedanken zu bieten, was nicht leugnet, dass es eine Herausforderung ist. Der Mensch hat einen Wert aufgrund seines Schöpfers (1. Mose 1,26). Und diesem Schöpfer sind seine Geschöpfe so viel wert, dass er trotz des Sündenfalls seinen geliebten Sohn Jesus Christus geschickt hat, um Sündern den einzigen Weg zum unverdienten Heil zu ebnen (Johannes 3,16 und 14,6). Nur über diesen gottzentrierten Ansatz kann man dem Menschen gerecht werden und seinem tiefsten Problem – der Verlorenheit vor Gott – begegnen. Die KVT missachtet diese Verlorenheit und kennt auch keine Ewigkeit. Sie verspricht „die Lösung“ von Problemen allein aus menschlicher Kraft mit täuschenden Gedanken, wie „ich bin gut“ oder „ich muss nur mir selbst gefallen“. Solche menschenzentrierten Gedanken verhüllen Hilfsbedürftigen den Blick auf ihre wahre Hilfsbedürftigkeit, die Möglichkeit der Buße und das Heil. Außerdem können sie auch zu direkt spürbaren Schäden führen. Der Berliner Psychiater Prof. Bschor verweist auf weitere, bedenkenswerte Wirkungen der Psychotherapie: „Immer wieder kommt es dazu, dass sich Menschen im Rahmen einer Psychotherapie vom Partner trennen oder die Arbeit kündigen. [...] Auch wurden Psychotherapie- Patienten beobachtet, bei denen sich durch die intensive Beschäftigung mit der eigenen Person ausgeprägte egoistische Züge entwickelt haben.“26 Insofern verliert die KVT die Verlorenheit des Menschen aus den Augen – seine prekäre Situation vor Gott. Indem die Sündennatur missachtet wird, wird der Weg zum Kreuz und zur Buße verbaut, den Gott jedem von uns eröffnet hat. Vermeintlich positive Gedanken, die helfen sollen, den Menschen aus seiner emotionalen Tiefe zu befreien, täuschen ihn vielmehr und verdecken ihm, wie bereits erwähnt, die Sicht auf seine Verlorenheit, seine wahre Hilfsbedürftigkeit und auf das Heil Gottes.

4. FAZIT

Die kognitive Verhaltenstherapie und die biblische Seelsorge27 haben eine nicht miteinander zu vereinbarende Anthropologie. Können Christen dennoch kognitive Verhaltenstherapie praktizieren? Hierauf können wir eine klare Antwort geben: Nein. Denn Christen würden, wenn sie sich der KVT bedienten, eine Methode anwenden, die entgegengesetzt zum christlichen Weltbild konzipiert wurde, auch wenn das nicht immer direkt offensichtliche Konsequenzen haben muss. Eine „normale“ KVT ersetzt und ergänzt keine Seelsorge, weil sie dahin leitet, dass man sich selbst helfen kann und Gott nicht nötig hat. Sie führt weg von der Sündenerkenntnis und arbeitet daher entgegen der Seelsorge. Nur weil Seelsorge, die es schon länger gibt, Prinzipien verwendet, die die KVT ebenfalls anwendet, heißt es nicht, dass man alles andere aus der KVT in die Seelsorge integrieren sollte. Dessen muss man sich bewusst sein, wenn man sich einst einer solchen Therapie unterzogen hat oder vielleicht gerade unterzieht. Dabei können einem Fragen helfen wie: Welche Denk-Prinzipien bekomme ich vermittelt? Stimmen diese mit der Bibel überein? Wo muss ich Buße tun? Glücklicherweise verlieren wir nichts, wenn wir uns der KVT nicht bedienen. Die oben genannten, allgemeinen Wirkfaktoren der Psychotherapie lassen sich großteils auch auf eine liebevolle, sorgfältige seelsorgerliche Begleitung im Rahmen der Gemeinde übertragen. Insofern können wir genauso einen wirksamen Kontext schaffen, in dem wir unserem Gegenüber wertschätzend und authentisch begegnen, mit der festen Überzeugung, dass unsere Methodik (Seelsorge) wirksam ist. „Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes ganz zubereitet sei, für jedes gute Werk ausgerüstet.“ (2. Timotheus 3,16–17) Wie Paulus können wir darauf vertrauen, dass Gott dazu fähig ist, durch sein Wort Christen, in egal welcher Lebenssituation sie sich befinden mögen, zu befähigen, ein ihm wohlgefälliges und zugerüstetes Leben zu führen. Jeder Christ steht in der Verantwortung „Seelsorge“ anzubieten, also sich den Problemen seiner Glaubensgeschwister anzunehmen, beziehungsweise jemanden zu suchen, der sich dessen annehmen kann und der einem hilft, die Wahrheit aus 2. Timotheus 3,16–17 auf das eigene Leben anzuwenden. Dabei mag es sicher nicht schaden, wenn der Seelsorger sich theoretisch (und natürlich auch praktisch) darin übt, Hilfesuchende anhand der Bibel und im liebevollen Gespräch zu überführen und zu begleiten. Von der Bibel her findet sich das Konzept des professionellen Seelsorgers nicht. Aber es findet sich, dass die Ortsgemeinde der Ort ist, in dem Seelsorge primär ausgeübt werden soll. Hebräer 10,23–25: „Lasst uns das Bekenntnis der Hoffnung unwandelbar festhalten – denn treu ist er, der die Verheißung gegeben hat –, und lasst uns aufeinander achthaben, um uns zur Liebe und zu guten Werken anzureizen, indem wir unser Zusammenkommen nicht versäumen, wie es bei einigen Sitte ist, sondern [einander] ermuntern, und [das] umso mehr, je mehr ihr den Tag herannahen seht!“ Jeder Christ ist generell angehalten, sich in einer Ortsgemeinde einzubringen. Durch ihren objektiven Wahrheitsgehalt, dadurch, dass sie zu Gott hinführt, dadurch, dass sie Befreiung durch Vergebung bietet und um Ewigkeit bemüht ist, bietet uns die Seelsorge so viel mehr als eine KVT. Und dadurch kann der Christ zu guter Letzt im Gegensatz zum Gottlosen, der allein auf seine Selbstwirksamkeit zurückgeworfen ist, auf Gottes Wirksamkeit hoffen. Hebräer 4,14–16 bestätigt uns dies : „Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis. Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde. Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.“

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Was sollte bei einer depressiven Symptomatik medizinisch abgeklärt werden?

Was sollte bei einer depressiven Symptomatik medizinisch abgeklärt werden?

Autor: Dr. rer. nat. Martin Schumacher & Dr. med. Matthias Klaus

„Unspezifische Verhaltens- und Stimmungsänderungen sind oft das erste und manchmal für längere Zeit das einzige und ausschließliche Anzeichen für eine unerkannte körperliche Erkrankung. Durch ihre offensichtliche und überzeugende 'psychologische' Natur und Präsentation führen solche maskierten körperlichen Zustände den Arzt häufig in die Irre und verhindern so jede weitere medizinische (das heißt somatische) Untersuchung, was zu Fehldiagnosen und damit zwangsläufig zu einer fehlgeleiteten Behandlung führt.“1
– Erwin Koranyi (1924–2012), kanadischer Psychiatrieprofessor

Eine gedrückte Stimmung, Interessenverlust, Freudlosigkeit, leichte Ermüdbarkeit, ein vermindertes Selbstwertgefühl, Schlafstörungen, eine Verminderung des Antriebs und Ähnliches mehr sind häufige Probleme von Menschen, die ärztliche oder seelsorgerliche Hilfe suchen. Wenn mehrere dieser Symptome bei einem Betroffenen länger als zwei Wochen bestehen, rechtfertigt dies gemäß dem gültigen Diagnoseschlüssel ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation2 die Diagnose einer Depression (Diagnosecodes F32-F39). Der Begriff Depression wird dabei nur beschreibend verwendet, das heißt, er fasst mehrere Symptome in einem Begriff zusammen. In diesem Sinn bezeichnet Depression keine Krankheit, sondern das zeitgleiche Auftreten mehrerer Symptome (wie zum Beispiel Fieber und Gliederschmerzen in der somatischen Medizin). Der Begriff Depression umfasst nicht nur verschiedene Schweregrade der Symptomatik (leicht/mittelgradig/ schwer), sondern auch unterschiedliche Typen, wie depressive Episode, reaktive Depression, endogene Depression (Melancholie), Dysthymie (chronische leichte Depression), atypische Depression (vorwiegend Symptome organischer Art), Prämenstruelle Dysphorische Störung (eine schwere Form des Prämenstruellen Syndroms (PMS) mit Depression), Wochenbettdepression und psychotische Depression. Differenzialdiagnostisch muss eine Depression von anderen Krankheitsbildern wie Demenz, Stupor, Delirium, Parkinson oder auch einem Burnout abgegrenzt werden. Außerdem wird die Unterscheidung zwischen einer Bipolaren Störung (früher auch als manisch-depressive Erkrankung bezeichnet) und einer Depression oft verfehlt, weil (hypo)manische Phasen des Öfteren nur von kurzer Dauer sind und von den Betroffenen nicht als krankhaft angesehen werden. Aus diesen Gründen wird das Vorliegen einer Bipolaren Störung manchmal erst nach vielen Jahren diagnostiziert, was die Wahl der Pharmakotherapie und den Krankheitsverlauf negativ beeinflusst. Umgangssprachlich wird der Begriff Depression inflationär gebraucht. Ein Blick auf die Zahlen zeigt, dass man tatsächlich von einer Volkskrankheit sprechen könnte. Das Risiko, im Laufe des Lebens an einer Depression (alle Formen) zu erkranken, liegt national wie international bei 16–20 %. Das bedeutet, dass jeder fünfte bis siebte Mensch in seinem Leben die Erfahrung einer Depression macht. Frauen sind dabei etwa doppelt so häufig wie Männer betroffen. Die Häufigkeit einer behandelten Depression (Diagnoseprävalenz) wird stetig größer; von 2009–2017 stieg sie um 26 %.3

1. Depressionstypen

Depressionen können sehr viele verschiedene Ursachen haben. Die Art und auch der Schweregrad der Symptome sind unspezifisch und lassen leider keinen Rückschluss auf die Ursache zu. Sinnvoll ist die Unterscheidung von grundsätzlich drei verschiedenen Depressionstypen, in die die oben genannten verschiedenen Ausprägungen einer Depression eingruppiert werden können. Endogene Depression (Melancholie) Die Melancholie ist eine schwere Erkrankung, die mit einer ausgeprägten somatischen Symptomatik wie beispielsweise einer psychomotorischen Verlangsamung einhergeht. Darüber hinaus zeigt sie einen wiederkehrenden (episodischen) Verlauf und tritt oft familiär gehäuft auf. Oft bestehen auch Wahnideen (zum Beispiel Versündigungswahn, Verarmungswahn) und das Risiko eines Suizids ist erhöht. Beim Auftreten einer endogenen Depression können oft keine auslösenden Faktoren erkannt werden, die Depression beginnt dann wie „aus heiterem Himmel“. Der Anteil dieses Depressionstyps beträgt etwa 10 %. Psychogene (neurotische, reaktive) Depression Bei der psychogenen Depression liegt die Ursache für die depressive Symptomatik in äußeren oder inneren psychischen Faktoren.4,5 Hierzu zählen unter anderem erlittene Traumata, Verluste, Stress und schwierige Lebensumstände. Die psychogene Depression ist mit einem Anteil von etwa 80 % die weitaus häufigste. In diesem Fall ist eine seelsorgerliche Begleitung die „Therapie“ der Wahl. Psychogen verursachte Depressionen haben bei einer Elimination der verursachenden Faktoren eine sehr gute Prognose. Exogene (sekundäre) Depression Dieser Typ umfasst alle Depressionen, die durch physische Faktoren ausgelöst werden. Die Liste der potentiellen Ursachen ist sehr lang und umfasst neben vielen verschiedenen körperlichen Erkrankungen einen Mangel an wichtigen Nährstoffen, Nebenwirkungen von Medikamenten, Drogen und Intoxikationen (Schwermetalle, organische Gifte). Der Anteil dieser Depressionsform beträgt etwa 10–20 %. Auf die Abgrenzung der exogenen Depressionen von den anderen genannten Depressionstypen wird im Folgenden näher eingegangen. Der Begriff Depression umfasst nicht nur verschiedene Schweregrade der Symptomatik (leicht/mittelgradig/ schwer), sondern auch unterschiedliche Typen, wie depressive Episode, reaktive Depression, endogene Depression (Melancholie), Dysthymie (chronische leichte Depression), atypische Depression (vorwiegend Symptome organischer Art), Prämenstruelle Dysphorische Störung (eine schwere Form des Prämenstruellen Syndroms (PMS) mit Depression), Wochenbettdepression und psychotische Depression. Differenzialdiagnostisch muss eine Depression von anderen Krankheitsbildern wie Demenz, Stupor, Delirium, Parkinson oder auch einem Burnout abgegrenzt werden. Außerdem wird die Unterscheidung zwischen einer Bipolaren Störung (früher auch als manisch-depressive Erkrankung bezeichnet) und einer Depression oft verfehlt, weil (hypo)manische Phasen des Öfteren nur von kurzer Dauer sind und von den Betroffenen nicht als krankhaft angesehen werden. Aus diesen Gründen wird das Vorliegen einer Bipolaren Störung manchmal erst nach vielen Jahren diagnostiziert, was die Wahl der Pharmakotherapie und den Krankheitsverlauf negativ beeinflusst. Umgangssprachlich wird der Begriff Depression inflationär gebraucht. Ein Blick auf die Zahlen zeigt, dass man tatsächlich von einer Volkskrankheit sprechen könnte. Das Risiko, im Laufe des Lebens an einer Depression (alle Formen) zu erkranken, liegt national wie international bei 16–20 %. Das bedeutet, dass jeder fünfte bis siebte Mensch in seinem Leben die Erfahrung einer Depression macht. Frauen sind dabei etwa doppelt so häufig wie Männer betroffen. Die Häufigkeit einer behandelten Depression (Diagnoseprävalenz) wird stetig größer; von 2009–2017 stieg sie um 26 %.3 Das folgende Flussdiagramm soll dabei helfen, sich im Diagnostikprozess zu orientieren, indem ein schrittweises Vorgehen zur medizinischen Abklärung von Depressionen vorgestellt wird. Die in diesem Artikel genannten Maßnahmen werden in einer übersichtlichen Form dargestellt und konkrete Maßnahmen aufgezeigt. Die im Flussdiagramm häufig erwähnten Basismaßnahmen (BM) sind von fundamentaler Wichtigkeit und sollten nicht vernachlässigt werden. Eine detaillierte Beschreibung findet man im Artikel „Basismaßnahmen Depressionen“ ab Seite 22 in diesem Heft.

2. Exogene Ursachen von Depressionen

Depressionen können durch viele verschiedene Faktoren verursacht werden. Einige davon sind trivial und werden deshalb oft nicht in Betracht gezogen. Einige dieser Faktoren sind beispielsweise:

– Schlafmangel
– übermäßiger Konsum digitaler Medien
– einseitige Ernährung (vegetarisch, vegan, Fastfood)
– rezeptpflichtige Medikamente (Antibabypille)
– körperliche Inaktivität, Übergewicht
– Eisenmangel (häufig bei menstruierenden Frauen; auch ohne manifeste Anämie)
– Borreliose
– Autoimmunkrankheiten (Lupus, Rheumatoide Arthritis, Hashimoto-Thyreoiditis, Sjögren-Syndrom, Diabetes Typ I)
– Medikamente
– Drogen (Kokain, Cannabis)
– Obstruktive Schlafapnoe (unbehandelt)
– Infektionen durch Bakterien, Viren, Protozoen, Würmer oder Pilze
– Erbkrankheiten (Morbus Wilson, Porphyrie, Chorea Huntington)
– Hormonelle Störungen (Fehlfunktion von Schilddrüse oder Nebenniere, Diabetes, Prämenstruelles Syndrom)
– Tumore (Gehirn, Pankreas)
– Allergien/Unverträglichkeiten (Fruktose, Laktose)
– Mangelzustände (Eisen, Vitamine, Mineralien, Spurenelemente)
– Organerkrankungen (Herz, Niere, Leber, Pankreas)
– Neurologische Erkrankungen (Epilepsie, Multiple Sklerose)
– Intoxikationen (Schwermetalle, organische Gifte)

3. Wann ist eine medizinische Untersuchung angezeigt?

In jedem Fall sollte eine medizinische Untersuchung erfolgen. Leider wird diese häufig nicht oder nur unzureichend durchgeführt. In vielen Fällen ist es schwierig zu beurteilen, ob mögliche körperliche Ursachen ausreichend abgeklärt wurden. Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen mit schwerer Depression ist an eine somatische Ursache zu denken.14–16 Im Folgenden soll ein Leitfaden an die Hand gegeben werden, mit dem man überprüfen kann, ob eine ausreichende medizinische Abklärung erfolgt ist, beziehungsweise welche Untersuchungen angezeigt sind. Das Erkennen einer organischen Ursache (zum Beispiel Hirntumor) ist von großer Wichtigkeit und Tragweite, da in solchen Fällen sowohl eine Seelsorge als auch eine medikamentöse antidepressive Therapie die Ursache nicht behandeln können.

4. Medizinische Basisuntersuchungen

Um herauszufinden, welche Ursache zu dem depressiven Beschwerdebild führen, sollten gewisse Untersuchungen immer durchgeführt werden, wir nennen sie daher Basisuntersuchungen. Hierzu gehören:
– umfassende Anamnese
– medizinische Untersuchung (inklusive Vitalzeichen und neurologischem Status)
– Laboranalysen (Blutbild, CRP, BSG, TSH, Elektrolyte, Ferritin, Leber- und Nierenwerte)
– Medikamentenanamnese (auch rezeptfreie Präparate und Nahrungsergänzungsmittel, siehe Infobox „Medikamente als Auslöser von Depressionen‟)

5. MEDIKAMENTE ALS AUSLÖSER VON DEPRESSIONEN

Eine besondere Beachtung als mögliche Ursache einer depressiven Symptomatik verdienen Medikamente und Drogen. Sehr viele Medikamente können Symptome einer Depression hervorrufen, insbesondere wenn mehrere Medikamente gleichzeitig eingenommen werden (Polypharmazie). Ältere Menschen sind diesbezüglich besonders empfindlich und auch öfters betroffen. Es ist eine gewisse Ironie, dass sogar viele Psychopharmaka psychische Symptome verursachen können, die nur schwer von denen einer psychischen Störung unterschieden werden können.17 Es wurde auch nachgewiesen, dass moderne Antidepressiva sogar Suizide und Gewalttaten auslösen können, vor allem in der ersten Woche nach Medikationsbeginn.24 Die folgenden Medikamentengruppen und Medikamente sind als mögliche Auslöser von Depressionen bekannt. Die angeführten Wirkstoffnamen stellen nur eine Auswahl  dar. Es muss betont werden, dass nicht alle Wirkstoffe einer Medikamentengruppe, zum Beispiel Antibiotika, eine Depression auslösen können. Es ist insbesondere darauf zu achten, ob es eine zeitliche Beziehung zwischen der Einnahme eines Medikaments und des Auftretens der depressiven Symptomatik gibt. Hier folgt eine kleine Auswahl von Medikamenten, die depressive Symptome auslösen können:
– Antiepileptika (Topiramat, Phenytoin, Primidon, Phenobarbital)
– Kortikosteroide (Prednisolon, Methylprednisolon)
– Kontrazeptiva (Antibabypille)
– Immunsuppressiva (Azathioprin, Zytostatika, Interferon)
– Antipsychotika (Olanzapin, Amisulprid, Quetiapin, Risperidon, Haloperidol)
– Antibiotika (Fluorchinolone, Ofloxacin, Gyrasehemmer)
– Virostatika (Aciclovir)
– Antihypertensiva (ACE-Hemmer, Betablocker, Calciumkanalblocker)
Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass ein längerfristiger Drogenkonsum häufig depressive Symptome hervorruft. Allen voran ist der Alkoholkonsum zu nennen, dann aber auch Drogen wie Kokain, Amphetamine und Cannabis

6. BESONDERHEIT AUTOIMMUNE ENZEPHALITIS (Gehirnentzündung)

In den vergangenen 25 Jahren wurde die Verursachung von Psychosen, Zwangserkrankungen und affektiven Störungen (Depressionen) durch Autoimmun Enzephalitiden (Gehirnentzündungen) intensiv erforscht. Beim Vorliegen eines oder mehrerer der untenstehenden Anzeichen ist eine Lumbalpunktion und Untersuchung des Liquors angezeigt.20 Allerdings ist es auch möglich, dass eine Autoimmun-Enzephalitis ohne die unten aufgelisteten Anzeichen oder einen positiven Befund der Autoantikörperserologie (Seronegativität) vorliegt. Vorwiegend psychiatrische Symptome und zusätzlich folgende Symptome können Ausdruck einer autoimmunen Enzephalitis sein:
– Krampfanfälle
– Bewegungsstörungen
– Bewusstseins- und/oder Kognitionsstörungen
– Fieber
– fluktuierende psychiatrische Symptome
– Kopfschmerzen
– kürzlich entdeckte Tumore
– neurologische Defizite
– Sprach- und Sprechstörungen
– Therapieresistenz gegenüber einer psychopharmakologischen Standardtherapie

7. Warnhinweise beachten – von versteckten Hinweisen bis zu ernsten Warnzeichen (Red Flags)

Entsprechend des breiten Ursachenspektrums exogener Depressionen ist die Anzahl der möglichen medizinischen Diagnostik sehr groß. Eine umfassende apparative und labormedizinische Untersuchung ist jedoch sehr aufwendig und in den meisten Fällen nicht angezeigt. Erst wenn bestimmte Indikatoren vorhanden sind, sollten weitergehende, über die genannten Basisuntersuchungen hinausgehende Schritte durchgeführt werden.18,19 Folgende Warnzeichen sprechen für eine organische Ursache.3,18-20 Insbesondere wenn die Zeichen oder Symptome in einem zeitlichen Zusammenhang mit dem Auftreten der depressiven Symptomatik stehen, sind sie ein starker Hinweis hierfür. Eine neue schwere depressive Symptomatik und:
– neurologische Fokalsymptomatik (zum Beispiel Lähmungen, Bewegungs-, Sensibilitäts- oder Sprechstörungen)
– auffällige klinische Veränderungen (zum Beispiel ausgeprägter Gewichtsverlust oder -zunahme, Fieber)
– ausgeprägte Bewusstseins- und/oder kognitive Störungen
– psychotische Symptomatik (optische Halluzinationen, Wahn)
– fehlende Hinweise auf psychosoziale Stressfaktoren und/oder schwierige Lebensumstände des Patienten
– bekannte schwere chronische oder akute somatische Begleiterkrankung
– chronischer Verlauf der depressiven Symptomatik
– Therapieresistenz gegenüber einer psychopharmakologischen Standardtherapie
– erstmaliges Auftreten der depressiven Symptomatik in einem Alter von mehr als 35 Jahren
– regelmäßiger Konsum von Medikamenten, Alkohol oder Drogen
– Kopfverletzung(en)
– ungewöhnliche Kopfschmerzen oder Änderung des Kopfschmerzmusters
– Änderung des Bewusstseins (Bewusstseinstrübung) oder der Persönlichkeit
– plötzliche Todesangst
– kürzlich entdeckte Tumore
– Krampfanfälle (Epilepsie)
– fluktuierende psychiatrische Symptome

8. Zusammenfassung

Depressionen kommen häufig vor und sind oft mit großem Leid verbunden. Dass es verschiedene Ursachen von Depressionen gibt, wird meist nicht beachtet, da die Diagnose ja zuerst einmal deskriptiv, also nur beschreibend ist. Eine depressive Symptomatik kann auch durch eine Vielzahl physischer Faktoren ausgelöst werden. Da die Symptomatik keinen Hinweis auf ihre Ursache erlaubt, ist eine medizinische Untersuchung in jedem Fall angezeigt. Wenn nötig, sollten weitergehende Untersuchungen durchgeführt werden. Ein ausführliches Literaturverzeichnis erlaubt ein vertieftes Studium dieser Thematik.

[1] Koranyi, Morbidity and rate of undiagnosed physical illness in a psychiatric clinic population. Arch Gen Psychiatry 36(4): 414 (1979)
[2] Dilling, Mombour & Schmidt, Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD–10 Kapitel V (F). Hohgrefe 2015
[3] AWMF, Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression – Langfassung Version 3.2.2022 https://register.awmf.org/assets/guidelines/nvl005l_S3_Unipolare-Depression_2023-07.pdf
[4] Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Campus Verlag 2015
[5] Hari, Der Welt nicht mehr verbunden. Die wahren Ursachen von Depressionen – und unerwartete Lösungen. HarperCollins 2021
[6] Barsky & Silbersweig, Depression in Medical Illness. McGraw-Hill 2016
[7] Hasan, Praxishandbuch Somatik und Psyche. Urban & Fischer 2024
[8] Moore & Jefferson, Handbook of Medical Psychiatry. Elsevier Mosby 2004
[9] Skaer, Depression & Other mental illnesses caused by medical diseases. Eigenverlag 2017
[10] Summergrad, Muskin, Silbersweig & Querques, Textbook of Medical Psychiatry. American Psychiatric Association Publishing 2020
[11] Whitlock, Symptomatic Affective Disorders. Academic Press 1982
[12] Cutler & Marcus, Psychiatry. Oxford University Press 2010
[13] Mateson, Missing The Diagnosis: The Hidden Medical Causes of Mental Disorders (2015) https://www.continuingedcourses.net/active/courses/course101.php
[14] Bock, Das entzündete Gehirn. Wenn der Körper die Seele krank macht. riva 2022
[15] Bock & Stauth, Healing the New Childhood Epidemics. Autism, ADHD, Asthma, and Allergies. Ballantine Books 2008
[16] Charlier, Somatische Differenzialdiagnosen psychischer Symptome im Kindes- und Jugendalter. Springer 2016
[17] Breggin & Cohen, Your Drug May Be Your Problem. Da Capo Lifelong Books 2007
[18] Taylor, Psychological Masquerade. Distinguishing Psychological from Organic Disorders. Springer Publishing Company 2007
[19] Morrison, When Psychological Problems Mask Medical Disorders. Guilford Publications 2015
[20] Universitätsmedizin Göttingen, Ambulanz für Autoantikörper-vermittelte psychiatrische Erkrankungen https://psychiatrie.umg.eu/patienten-besucher/ambulanzen/autoantikoerper-vermittelte-psychiatrische-erkrankungen/
[21] Schaub, Das unterschätzte Element. Die Wiederentdeckung des Eisenmangelsyndroms. Verlag Aude-Curare 2009
[22] Jacobson, Laboratory Medicine in Psychiatry and Behavioral Science. American Psychiatric Association Publishing 2023
[23] Kohse, Taschenlehrbuch Klinische Chemie und Hämatologie. Thieme 2019
[24] Healy, Psychiatric Drugs Explained. Elsevier 2023


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Psychopharmaka – Nutzen und Risiken

Psychopharmaka – Nutzen und Risiken

Autor: Dr. rer. nat. Martin Schumacher

Psychopharmaka sind ganz allgemein Stoffe (Chemikalien oder Pflanzenextrakte), die eine erwünschte Wirkung auf die Psyche ausüben. Wikipedia definiert Psychopharmaka folgendermaßen: „Ein Psychopharmakon ist eine psychoaktive Substanz, die als Arzneistoff genutzt wird. Sie beeinflusst die neuronalen Abläufe im Gehirn und bewirkt dadurch eine Veränderung der psychischen Verfassung“.1 Alle Psychopharmaka beeinflussen einen oder mehrere neurochemische Vorgänge im Gehirn. Dieses reagiert, indem es sich an den durch das Medikament hervorgerufenen neuen Zustand anpasst und ihn zu kompensieren versucht. Die Wirkung von Psychopharmaka kann von den Betroffenen durchaus als hilfreich empfunden werden. Diese subjektiv empfundene Wirkung setzt sich aus mehreren Komponenten zusammen. Alle Substanzen haben einen beträchtlichen Placeboeffekt und viele psychische Leiden eine natürliche Heilungstendenz, die beide fälschlicherweise auch der Wirkung des Medikaments zugeschrieben werden können.

Krankheitszentriertes Modell Wirkstoffzentriertes Modell
PP* korrigieren einen unnormalen Zustand des Gehirns. PP erzeugen einen unnormalen Zustand des Gehirns.
PP wirken spezifisch auf Krankheiten. PP sind unspezifische psychoaktive Substanzen.
Die therapeutischen Effekte beruhen auf der Wirkung auf die Pathophysiologie der Krankheit oder dem biologischen Mechanismus, der die Symptome erzeugt. Hilfreiche Effekte sind das Produkt von wirkstoffinduzierten Veränderungen der normalen Hirnfunktion.
PP wirken bei „Kranken“ anders als bei Gesunden. PP zeigen bei „Kranken“ und bei Gesunden die gleichen Wirkungen.
Beispiele: Insulin bei Diabetes, Antibiotika bei bakteriellen Infektionen Beispiel: Alkohol bei sozialer Phobie

*PP = Psychopharmaka

In der Tabelle (siehe oben) werden zwei verschiedene Modelle der Wirkungsweise von Psychopharmaka vorgestellt. 2 Das wirkstoffzentrierte Modell beschreibt meiner Meinung nach die wissenschaftlichen Beobachtungen zutreffender.

1. Gegenüberstellung von zwei Modellen der Wirkungsweise von Psychopharmaka

Die Begriffe Antidepressivum und Antipsychotikum (früher: Neuroleptikum) suggerieren, dass diese Medikamente gezielt gegen Depressionen beziehungsweise Psychosen wirken. Dies ist aber nicht der Fall. Sie wirken unspezifisch und auch nicht bei jeder Depression beziehungsweise Psychose (zum Beispiel, wenn diese durch eine körperliche Krankheit verursacht ist). Sie werden auch bei vielen anderen psychiatrischen Krankheitsbildern eingesetzt. Die Entdeckung der Neurotransmitter und das Verständnis der pharmakologischen Wirkmechanismen der Psychopharmaka führten zur Formulierung der Serotonin- Hypothese der Depression und der Dopamin- Hypothese der Schizophrenie, die gerne zur Erklärung dieser psychischen Störungen gebraucht werden. Diese Hypothesen sind jedoch keine wissenschaftlich fundierten Fakten, sondern nur grobe Erklärungsmodelle, die von den meisten Experten nicht mehr vertreten werden. So bezeichnet ein bekannter deutscher Psychiater und Depressionsexperte die Serotonin-Hypothese der Depression als „das Märchen vom Serotoninmangel“.3 Die tatsächlichen Ursachen psychischer Störungen sind offensichtlich wesentlich komplexer als die genannten einfachen Hypothesen und es gibt bis heute keine allgemein anerkannten Modelle und Erklärungen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Psychopharmaka psychische Störungen nicht im Sinne einer heilenden Wirkung beeinflussen, sondern eher eine unspezifische Unterdrückung von Symptomen bewirken. In dieser Hinsicht kann man sie mit Medikamenten wie Aspirin® oder Ibuprofen zur Behandlung von Fieber oder Schmerzen vergleichen.

2. Die Verschreibungspraxis von Psychopharmaka

Im Jahr 2021 wurden in der Bundesrepublik Deutschland 2,5 Milliarden Tagesdosen Psychopharmaka verordnet.4 Gemessen an der Zahl der Verordnungen (Rezepte) in der Bundesrepublik Deutschland standen diese Präparate im selben Jahr an dritter Stelle. Diese Zahlen deuten auf eine ernsthafte Problematik hin. Wenn man bedenkt, dass es vor 1950 nur sehr wenige Verordnungen von Psychopharmaka gab (alle wichtigen Präparate wurden erst später entdeckt und auf den Markt gebracht), wird der rasante Aufstieg des Gebrauchs der Substanzen deutlich. Der Anstieg der Verschreibungszahlen ist bis heute ungebrochen. An der Spitze stehen die Antidepressiva. Die Zahl der Tagesdosen dieser Medikamente hat sich in den letzten 40 Jahren mehr als verzehnfacht. Wie lässt sich dieser hohe Gebrauch von Psychopharmaka erklären? Als Gründe können unter anderem das gegenwärtig dominierende biologische Modell der psychischen Störungen, die Zunahme der Anzahl der psychiatrischen Diagnosen,5 die sich verändernde Gesellschaft und der Lebensstil, sowie die sinkende Resilienz in der westlichen Welt genannt werden.

3. Einteilung der Psychopharmaka

Grundsätzlich werden Psychopharmaka nach ihrer Indikation in verschiedene Klassen eingeteilt. Allerdings muss man betonen, dass diese Einteilung idealisiert ist und im psychiatrischen Alltag nicht strikt eingehalten wird. Moderne Psychopharmaka, zum Beispiel aus den Gruppen der Antidepressiva und Neuroleptika, kommen häufig bei einer Vielzahl von psychischen Störungen zum Einsatz. In den folgenden Abschnitten werden die verschiedenen Präparate zunächst mit ihrem Wirkstoffnamen und dann in Klammern mit einem oder mehreren gebräuchlichen Handelsnamen aufgeführt. Viele Psychopharmaka sind mittlerweile auch als Generika erhältlich, wobei der Handelsname dann häufig den Wirkstoffnamen erhält (zum Beispiel Quetiapin-ratiopharm®). Zu beachten ist, dass die Handelsnamen von Präparaten mit dem gleichen Wirkstoff je nach Anbieter und Land oft unterschiedlich sind.

4. Antidepressiva

Antidepressiva sind das Flaggschiff der medikamentösen Behandlung psychischer Störungen. Sie kommen nicht nur bei Depressionen zum Einsatz, sondern auch bei vielen anderen Krankheitsbildern wie zum Beispiel bei Ängsten, sozialen Phobien, posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS), Panikstörungen, Zwangsstörungen, Bulimie, Persönlichkeitsstörungen und bipolaren Depressionen. In diesem Sinne werden sie manchmal als regelrechte „Allheilmittel“ selbst bei leichteren psychischen Problemen verschrieben. Bevorzugt werden heutzutage moderne Präparate. Alte Präparate wie die Trizyklischen Antidepressiva (zum Beispiel Amitriptylin (Saroten®), Imipramin (Tofranil®), Clomipramin (Anafranil®)) und die Monoaminoxidase-Hemmer (zum Beispiel Moclobemid (Aurorix®), Tranylcypromin (Jatrosom®)) werden nur noch selten eingesetzt. Bei schweren Depressionen sind sie jedoch wirksamer als die modernen Präparate (Selektive Serotonin Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRIs)). Im Folgenden sind die wichtigsten modernen Antidepressiva aufgeführt. Sie wurden alle nach 1980 in Deutschland zugelassen. Dies sind: Fluvoxamin (Fevarin®), Fluoxetin (Fluctin®), Citalopram/Escitalopram (Cipralex®, Escitalex®), Sertralin (Gladem®, Zoloft®), Paroxetin (Paroxedura®, Paroxat®, Seroxat®), Vortioxetin (Brintellix®), Venlafaxin (Efexor®, Trevilor®), Duloxetin (Duloxalta®, Cymbalta®), Mirtazapin (Remeron®) und Trazodon (Trittico®). Am beliebtesten sind Citalopram/Escitalopram, Sertralin und Venlafaxin, die zusammen etwa zwei Drittel der verschriebenen modernen Antidepressiva ausmachen. Wie sieht es mit der Wirksamkeit dieser Medikamente bei der Behandlung von Depressionen aus? In einer großen Meta-Analyse aus dem Jahr 2018, in der die Ergebnisse vieler klinischer Studien mit insgesamt mehr als 110 000 Patienten zusammengefasst wurden, zeigte sich eine mittlere Wirksamkeit, die jedoch nur wenig über der eines Placebos (Scheinmedikament ohne Wirkstoff) liegt. In einer großen klinischen Studie (STAR*D) des Nationalen Instituts für seelische Gesundheit der USA (NIMH) mit über 4000 Patienten untersuchte man die Wirksamkeit von Antidepressiva unter sehr realitätsnahen Bedingungen über einen längeren Zeitraum. Dabei erhielten alle Patienten zunächst das bekannte Antidepressivum Citalopram und wurden bei Nichtansprechen in bis zu drei weiteren Schritten auf andere Antidepressiva umgestellt. Oder sie bekamen zusätzlich andere Präparate mit einem unterschiedlichen Wirkmechanismus. Insgesamt zeigten in der ersten Behandlungsstufe (Citalopram) nur 26 % der Patienten eine Remission (Rückbildung) der depressiven Symptomatik. In den weiteren Behandlungsschritten nahm der Anteil der Patienten mit Remission kontinuierlich ab. Auffällig ist auch der hohe Anteil von Patienten, die wegen mangelnder Wirksamkeit oder starker Nebenwirkungen aus der Studie ausschieden, obwohl die Betreuung der Patienten während der Studie ausgesprochen gut war. Untersucht wurde ebenso die Frage, wie stabil die Wirkung über einen längeren Zeitraum ist.

„Alle Substanzen haben einen beträchtlichen Placeboeffekt und viele psychische Leiden eine natürliche Heilungstendenz, die beide fälschlicherweise auch der Wirkung des Medikaments zugeschrieben werden können.“

Am Ende des einjährigen Beobachtungszeitraums zeigten insgesamt nur noch 108 der 4041 Patienten (das heißt 2,7 %), die zu Beginn an der Studie teilgenommen hatten, eine anhaltende Remission. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Wirksamkeit moderner medikamentöser Depressionstherapien unbefriedigend ist. Wie erklärt sich dann, dass viele Menschen mit Depressionen berichten, dass ihnen Antidepressiva geholfen haben? Umfangreiche Studiendaten zeigen, dass sich die Wirkung von Antidepressiva aus mehreren Komponenten zusammensetzt:
– natürlicher Krankheitsverlauf: 24 %,
– Placeboeffekt: 51 % und
– zusätzlicher Medikamenteneffekt: 25 %.
Der tatsächliche Effekt eines Antidepressivums beträgt also im Durchschnitt nur ein Viertel des beobachteten Gesamteffekts.6 Neben dem starken Placeboeffekt der Antidepressiva ist zu beachten, dass die meisten Depressionen einen gutartigen Verlauf haben und nach einigen Wochen oder Monaten von selbst, das heißt ohne Behandlung, aufhören. Verglichen mit einer Psychotherapie sind Antidepressiva ähnlich wirksam. Diese kritische Sichtweise, dass moderne Antidepressiva nur eine geringe Wirksamkeit haben, wird inzwischen auch von zahlreichen Psychiatern geteilt. Bemerkenswert ist, dass die „Leitlinie Unipolare Depression“ der deutschen psychiatrischen Fachgesellschaften zur Behandlung leichter und mittelschwerer Depressionen in erster Linie Psychotherapie empfiehlt.7 Neben ihrer bescheidenen Wirksamkeit weisen die modernen Antidepressiva einen weiteren Schwachpunkt auf: eine ganze Reihe von zum Teil schwerwiegenden Nebenwirkungen, die leider oft nicht die erforderliche Beachtung finden und vielen Betroffenen nicht hinreichend bekannt sind.8 Diese Nebenwirkungen sind keine seltenen Ereignisse, sondern treten bei einem beträchtlichen Anteil der Patienten auf. Besonders wichtige potentielle unerwünschte Wirkungen, die jedoch nicht bei jedem Antidepressivum auftreten, sind die Verursachung von Suizid und Aggression (besonders in den ersten Wochen der Einnahme), sexuelle Nebenwirkungen („genitale Anästhesie“), emotionale Abstumpfung, Auslösen einer manischen Phase, Akathisie (Sitz- und Stehunruhe) und das sogenannte Absetzsyndrom.9 Insbesondere Paroxetin und Venlafaxin sind dafür bekannt, dass das Absetzen oft problematisch ist.

5. Neuroleptika/Antipsychotika

Eine bekannte Psychiaterin bezeichnet Neuroleptika als „die bittersten Pillen“.10 Diese Medikamente kann man zu Recht so nennen, denn sie werden wegen ihrer Nebenwirkungen von vielen Patienten nur ungern eingenommen. Dabei ist zu beachten, dass dies nicht für alle Neuroleptika gleichermaßen gilt. Zudem hängt die Ausprägung der Nebenwirkungen stark von der eingesetzten Dosis ab. Die Wirkung der Neuroleptika auf Wahnvorstellungen, Halluzinationen und Denkstörungen beruht auf einer unspezifischen Symptomunterdrückung und geht mit einer Indifferenz (Gleichgültigkeit) gegenüber Gefühlen, Gedanken und Eindrücken einher. Insbesondere bei quälenden Wahnideen und psychotischen Ängsten kann dies durchaus als hilfreich und erwünscht erlebt werden. Patienten, die Neuroleptika einnehmen, berichten jedoch häufig, dass ihre Wahnvorstellungen oder Halluzinationen nicht völlig verschwinden. Sie werden aber nicht mehr als so belastend und beängstigend empfunden. Außerdem schützen sie vor äußerem Stress und erzeugen gewissermaßen ein „dickes Fell“. Wie stark diese Wirkung ist, hängt vom Präparat und vor allem von der Dosis ab. Sie sollte nur so hoch sein, dass der gewünschte Effekt erzielt wird. Bei einigen Neuroleptika (unten mit einem Stern* gekennzeichnet) treten bei Überschreiten einer bestimmten Dosis „extrapyramidale Symptome“ (EPS) auf, die sehr unangenehm sind. Dazu gehören akute Dystonien (unwillkürliche Muskelbewegungen), Rigor (Muskelsteifheit) und Tremor (Zittern). Diese Nebenwirkungen entsprechen zum Teil dem Krankheitsbild der Parkinson-Krankheit. Eine andere Gruppe von Neuroleptika (unten mit zwei Sternen** gekennzeichnet) verursacht keine oder nur wenig EPS. Dafür treten als unerwünschte Nebenwirkungen oft eine Sedierung und Stoffwechselstörungen auf, die sich in einer zum Teil drastischen Gewichtszunahme, Bluthochdruck und der Entstehung eines Diabetes Typ 2 äußern können (metabolisches Syndrom). Eine wichtige Nebenwirkung vieler Neuroleptika ist das sogenannte „Neuroleptikainduzierte dysphorische Syndrom“. Dabei handelt es sich um einen medikamentös erzeugten Zustand, der leicht mit der Negativsymptomatik einer Schizophrenie oder mit einer Depression verwechselt werden kann. Viele Patienten berichten, dass sie unter der Einnahme von Neuroleptika unter einer belastenden „emotionalen Abstumpfung“ leiden, bei der sie weder Freude noch Trauer empfinden können. In diesem Fall sollte nicht zusätzlich ein Antidepressivum oder ein weiteres Neuroleptikum eingenommen werden, sondern man sollte die Dosis reduzieren, ein besser verträgliches Präparat einnehmen oder das Neuroleptikum nach Möglichkeit ganz absetzen. Gebräuchliche Neuroleptika sind: Risperidon* (Risperdal®), Aripiprazol* (Abilify®, Arpoya®), Olanzapin** (Zyprexa®), Quetiapin** (Seroquel®), Haloperidol* (Haldol®), Cariprazin* (Reagila®), Ziprasidon (Zeldox®), Amisulprid* (Solian®) und Clozapin** (Leponex®). Die heutzutage am meisten verordneten Präparate sind Quetiapin, Olanzapin und Risperidon. Im Folgenden wollen wir einige interessante Ergebnisse der großen klinischen Studie CATIE, in der die Wirksamkeit und Nebenwirkungen von vier neueren „atypischen“ Neuroleptika (Olanzapin, Quetiapin, Risperidon, Ziprasidon) mit einem älteren (typischen) Neuroleptikum verglichen wurden, betrachten. In dieser realitätsnahen Studie erhielten insgesamt 1432 Patienten mit der Diagnose Schizophrenie über einen Zeitraum von 18 Monaten die üblichen Dosen der oben genannten Neuroleptika. Besonders bemerkenswert ist die Beobachtung, dass es keine signifikanten Unterschiede zwischen den fünf untersuchten Präparaten gab. Etwa drei Viertel der Studienteilnehmer schieden vorzeitig aus der Studie aus, insbesondere wegen mangelnder Wirkung oder unerwünschter Nebenwirkungen. Darüber hinaus mussten circa 15 % der Teilnehmer trotz der Einnahme der Neuroleptika wegen einer Verschlechterung ihres psychischen Zustandes hospitalisiert werden. Es wird oft behauptet, Neuroleptika würden nicht abhängig machen. Es ist jedoch so, dass viele Menschen nach längerer Einnahme Probleme mit dem Absetzen haben. Ein zu rasches Absetzen führt häufig zum Wiederauftreten psychotischer Symptome, die aber oft nicht Ausdruck der zugrunde liegenden Problematik sind, sondern eine Reaktion des Gehirns auf das plötzliche Fehlen des Neuroleptikums. Das Absetzen sollte daher immer langsam und in kleinen Schritten erfolgen. Eine langfristige Einnahme kann verschiedene schwerwiegende Folgen haben, die oft chronisch und therapieresistent sind. Dazu gehören Spätdyskinesien (das heißt unwillkürliche Muskelbewegungen wie Zucken, Tics, Grimassieren, Herausstrecken der Zunge und so weiter), Akathisie, Diabetes (vor allem bei Clozapin, Olanzapin und Quetiapin) und die sogenannte Supersensitivitätspsychose. Diese geht mit einer Verschlechterung der psychotischen Symptomatik trotz Neuroleptika einher und kann ein Absetzen des Präparates unmöglich machen.10-12 Neuroleptika sollte man nur bei starker psychomotorischer Erregung, Wahn und/oder Halluzinationen („Stimmen hören“) einsetzen. Bei quälenden Wahnvorstellungen, starken psychotischen Ängsten oder großer psychischer Erregung können sie sehr hilfreich sein (eine andere Möglichkeit sind Benzodiazepine). Einzelne Nebenwirkungen werden möglicherweise als psychische Probleme fehlinterpretiert. Die Dosis sollte so niedrig wie möglich sein und die Einnahmedauer so kurz wie nötig. Der Einsatz von Neuroleptika bei Kindern, Jugendlichen und älteren Menschen ist problematisch und sollte sehr zurückhaltend erfolgen.

6. Stimmungsstabilisierer/ Phasenprophylaktika

In diesem Abschnitt geht es insbesondere um die medikamentöse Behandlung von psychischen Störungen, die sich in periodisch wiederkehrenden Phasen von Manie und Depression äußern. Früher sprach man von „manisch-depressivem Irresein“ (MDI) und meinte damit wiederkehrende schwere Depressionen (Melancholie) und/oder Manien. Diese Krankheitsbilder waren sehr selten und so schwerwiegend, dass in der Regel eine stationäre Behandlung erforderlich war. Heute werden unipolare und bipolare Verläufe getrennt klassifiziert und meist nur bipolare Verläufe mit sogenannten „Stimmungsstabilisierern“, auch Phasenprophylaktika genannt, behandelt. Mit Ausnahme von Lithium setzt man die Medikamente dieser Gruppe auch zur Behandlung der Epilepsie ein. Die wichtigsten Stimmungsstabilisierer sind Lithium (Quilonum®, Hypnorex®, Lithiofor®), Valproat (Convulex®, Ergenyl®), Carbamazepin (Tegretal®) und Lamotrigin (Lamical®).
Die weitaus größte Bedeutung innerhalb dieser Medikamentengruppe hat Lithium, das in Form eines Salzes verabreicht wird. Bei der medikamentösen Behandlung der bipolaren Depression sollte Lithium das Mittel der Wahl sein. Leider ist dies in der Praxis nicht der Fall und viele Psychiater geben anderen Medikamenten (Neuroleptika und/oder Antidepressiva) den Vorzug. Lithium wirkt sowohl in akuten Phasen als auch prophylaktisch. Bei etwa einem Drittel der Patienten wird langfristig eine vollständige Beschwerdefreiheit erreicht. Bei unzureichender Wirkung oder schweren Nebenwirkungen kann Lithium durch Valproat, Carbamazepin oder Lamotrigin ersetzt werden. Insgesamt werden diese Medikamente zu wenig angewendet. Neuroleptika und Antidepressiva sind keine Stimmungsstabilisierer und sollten nicht die Mittel der ersten Wahl sein. Neuere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass es einen fließenden Übergang zwischen den beiden Polen Manie und Depression gibt. Einige Menschen, deren psychisches Problem als Depression diagnostiziert wurde, haben auch einen mehr oder weniger großen Anteil an Manie (die sich oft nicht als Euphorie, sondern als Reizbarkeit äußert). In diesem Fall sollten Antidepressiva
vermieden und eine Behandlung mit Stimmungsstabilisierern durchgeführt werden. Lithium und Lamotrigin sind auch zur Behandlung und Prophylaxe von wiederkehrenden rein depressiven Phasen (Melancholie) gut geeignet. Die Behandlung der bipolaren Depression mit Antidepressiva bringt keinen Nutzen, ist aber mit erheblichen Risiken verbunden. Der langfristige Krankheitsverlauf kann negativ beeinflusst und manische Phasen ausgelöst werden.

7. Sedativa/Hypnotika

Die folgenden Arzneimittel werden insbesondere bei Erregtheit und Unruhe, Ängsten, Panikattacken und Schlaflosigkeit eingesetzt. An erster Stelle sind hier die sogenannten Benzodiazepine zu nennen. Dabei handelt es sich um eine alte Medikamentengruppe, die man seit etwa 60 Jahren verwendet. Früher wurden Medikamente wie Valium und Librium („Mutters kleine Helfer“) in großer Zahl zur Behandlung leichterer unspezifischer psychischer Störungen, ausgelöst durch Alltagsprobleme, verschrieben. Dazu gehören psychosomatische Beschwerden („vegetative Dystonie“), Angstzustände, Depressionen und Schlafstörungen. Benzodiazepine sind wirksame Medikamente, die man früher erfolgreich gegen verschiedene Formen von Angst und Depression, die sehr häufig gemeinsam auftreten, einsetzte. In den 80er- Jahren wurde ihr Abhängigkeitspotenzial erkannt und dann an ihrer Stelle die weniger wirksamen modernen Antidepressiva (SSRIs) verschrieben. In den folgenden Jahren ging die Zahl der Verordnungen von Benzodiazepinen stark zurück. Das Absetzen von Benzodiazepinen nach längerer regelmäßiger Einnahme kann sehr problematisch sein. Einige häufig verwendete Benzodiazepine sind Bromazepam (Bromazanil®), Oxazepam (Praxiten®, Adumbran®, Seresta®), Lorazepam (Tavor®, Temesta®), Alprazolam (Tafil®), Chlordiazepoxid (Librium®) und Diazepam (Valium®), wobei Lorazepam und Diazepam am häufigsten verordnet werden.4 Gesunder und ausreichender Schlaf ist für das psychische Wohlbefinden des Menschen sehr wichtig. Länger andauernde Schlaflosigkeit kann zu psychischen Problemen führen. Eine gute Schlafhygiene ist daher unerlässlich. Erst wenn alle Änderungen der Lebensgewohnheiten keinen Erfolg gebracht haben und die Schlafstörungen ein größeres Problem darstellen, sollte man in Absprache mit einem Arzt an eine medikamentöse Behandlung denken. Dem Ausbruch einer schweren psychischen Störung geht oft eine Phase der Schlaflosigkeit voraus. Diese Entwicklung lässt sich möglicherweise durch den kurzfristigen Einsatz von Schlafmitteln aufhalten. Als Hypnotika (Schlafmittel) werden heute meist die sogenannten „Z-Substanzen“ verordnet, zum Beispiel Zolpidem (Stilnox®, Bikalm®) und Zopiclon (Ximovan®, Imovane®). Der biochemische Wirkmechanismus ist der gleiche wie bei den Benzodiazepinen. Das Abhängigkeitspotenzial ist mit dem der Benzodiazepine vergleichbar. Zur Verbesserung des Schlafes werden auch sedierende Antidepressiva wie Doxepin, Mirtazapin, Trazodon oder Trimipramin verschrieben, was durchaus hilfreich sein kann. Sedierende Neuroleptika wie zum Beispiel Quetiapin sind als Schlafmittel nicht zu empfehlen. Eine andere Option ist der Einsatz von sedierenden Antihistaminika, die man meist rezeptfrei in einer Apotheke beziehen kann. Auch diese Präparate sollten nur kurzfristig und im Notfall zur Beruhigung und als Schlafmittel verwendet werden, zum Beispiel Diphenhydramin (Betadorm®, Halbmond®, Benocten®), Doxylamin (Hoggar®) und Hydroxyzin (Atarax®).

8. Alternativen zu Psychopharmaka

Pflanzliche Mittel (Phytopharmaka) wie Baldrian und Passionsblume werden oft als „sanfte“ Mittel zur Beruhigung und Schlafförderung empfohlen.13 Auch Johanniskrautpräparate (zum Beispiel Jarsin®) können bei leichten bis mittelschweren Depressionen hilfreich sein.7 Homöopathische Mittel, Schüssler-Salze und ähnliche Präparate der Alternativmedizin können aus christlicher Sicht nicht empfohlen werden.14 Bei einer saisonal abhängigen Depression („Winterblues“) erwies sich eine Lichttherapie als wirksam. Die entsprechenden Lampen kann ein Arzt verordnen, oder man kauft oder leiht sie in einer Apotheke. Klinische Studien zeigen, dass bei Depressionen und anderen psychischen Problemen Sport hilfreich ist. Eine gesunde Lebensweise mit ausreichend Schlaf, einer ausgewogenen naturbelassenen Ernährung, körperlicher Betätigung und guten Kontakten mit anderen Menschen tragen zur seelischen Gesundheit bei.

9. Abschließende Bewertung der Psychopharmaka und praktische Ratschläge

Allgemein kann man sagen, dass zu viele Menschen Psychopharmaka einnehmen, weil ihre Wirksamkeit geringer und die Nebenwirkungen und Risiken höher als angenommen sind. Die Dosis sollte immer so niedrig wie möglich und die Einnahmedauer nur so lang wie nötig sein. Die gleichzeitige Einnahme mehrerer Psychopharmaka ist mit erhöhten Nebenwirkungen und Risiken verbunden und nach Möglichkeit zu vermeiden. Der Einsatz dieser Substanzen bei Kindern und Senioren hat besondere Risiken, die sorgfältig abgewogen werden müssen. Die möglichen Langzeitfolgen einer Einnahme von Psychopharmaka sind besorgniserregend15 und dürfen nicht verharmlost werden. Bei psychotischer Angst, längerer Schlaflosigkeit, unerträglicher Niedergeschlagenheit, quälendem Wahn und Halluzinationen und wiederkehrenden Episoden von Depression und/oder Manie sind Psychopharmaka hilfreich und ihre Einnahme angezeigt. Es ist wichtig festzuhalten, dass der Anteil der Menschen, die im Laufe ihres Lebens an einer schweren psychischen Störung („endogene Psychosen“, das heißt Melancholie, Manie, Schizophrenie, Bipolare Störung) erkranken, nur gering ist. Das bedeutet, dass der weitaus größte Teil der psychisch Erkrankten eher an funktionellen Störungen leidet, die keine Krankheit im eigentlichen Sinne darstellen. Da Psychopharmaka oft nicht die erhoffte Wirkung zeigen, wird versucht, durch Wechsel auf andere Präparate der gleichen Gruppe, Erhöhung der Dosis, Kombination mehrerer Substanzen der gleichen Gruppe oder Hinzunahme von Medikamenten aus anderen Gruppen (zum Beispiel Neuroleptika bei Depressionen) doch noch die gewünschte Wirksamkeit zu erzielen. Dieses „Ausprobieren“ kommt in der Praxis häufig vor, hat aber wenig Aussicht auf Erfolg, wie sich bei der Besprechung der Ergebnisse der STAR*D-Studie zeigte. In dem Buch „Antidepressiva – Wie man die Medikamente bei der Behandlung von Depressionen richtig anwendet und wer sie nicht nehmen sollte“ von dem Psychiater Prof. Bschor werden die verschiedenen Strategien der Depressionstherapie kritisch diskutiert.3 Mirtazapin und Trazodon wirken in niedriger Dosierung beruhigend und schlaffördernd und sind diesbezüglich hilfreich. Entscheidet man sich für die Medikamente, ist es wichtig, die Einnahme und einen Absetzplan mit dem Arzt zu besprechen. Vor häufigem Wechsel und Kombinationen von Psychopharmaka („Ausprobieren“) muss gewarnt werden. Dies führt meist nicht zum Erfolg. In jedem Fall sollte der Arzt einen sinnvollen Behandlungsplan vorlegen, dem der Patient zustimmen kann. Eine langfristige Einnahme (das heißt über Jahre) bedarf besonderer Gründe und sollte nicht ohne Absetzversuche erfolgen. Das Buch Gott ist mehr als genug von Jim Berg enthält zwei Zeugnisse von gläubigen Frauen, die jahrelang Psychopharmaka eingenommen haben, dann aber einen besseren Weg fanden.16 Dieses Buch möchten wir als seelsorgerliche Hilfe für Betroffene empfehlen. Für Interessierte steht eine ausführlichere Abhandlung (66 Seiten) über Psychopharmaka mit vielen kommentierten Literaturhinweisen zur Verfügung.17

8. Biblisch-seelsorgerliche Aspekte

Psychisches Leiden ist so alt wie die Menschheit und gehört, wie körperliche Krankheit und Tod, zum Leben dazu. Im Wort Gottes finden wir Depressionen, Ängste, psychosomatische Probleme und Wahnsinn (5. Mose 28,28; Daniel 4,29–34; 1. Samuel 21,16). Der von Gott geschaffene Mensch ist eine Einheit von Körper und Geist (oder auch Seele). Zwischen diesen Teilen bestehen enge Beziehungen. So wie ein betrübter Geist körperliche Leiden auslösen kann (psycho-somatisch), ist es auch möglich, dass sich körperliche Krankheiten auf den Zustand des Geistes auswirken (somato-psychisch). Es gibt nicht nur körperliche, sondern auch seelische Schmerzen. Diese können ganz unterschiedlicher Art und Intensität sein. Seelische Schmerzen können unerträglich stark sein und Menschen in den Suizid treiben. Wie geht man mit solchen Schmerzen in rechter Weise um? Für Christen sollte klar sein, dass alle Umstände des Lebens einen Sinn haben und Teil von Gottes Plan und dem, was er zulässt, sind. Hiob sagte in seinem großen Leid zu seiner Frau: „Wir sollten das Gute von Gott annehmen, und das Böse sollten wir nicht auch annehmen?“ (Hiob 2,10) Deshalb gilt es, alles Leid in unserem Leben zuerst aus der Hand Gottes anzunehmen und ein Ja dazu zu haben. In dieser Situation ist es wichtig, als erstes nach Gott und seinen Gedanken zu fragen. Von König Asa lesen wir: „Und Asa wurde krank an seinen Füßen im 39. Jahr seines Königreichs, und seine Krankheit war sehr schwer; doch suchte er auch in seiner Krankheit nicht den HERRN, sondern die Ärzte“ (2. Chronik 16,12; vergleiche Lukas 8,43). Asa liebte den Herrn, aber in dieser leidvollen Situation traf er die falsche Entscheidung. Das sollte uns eine Warnung sein. Es ist die Erfahrung vieler Kinder Gottes, dass sie in schwierigen Situationen und in großem Leid Gott in besonderer Weise kennengelernt haben. Gott kann im Leid besonders durch Sein Wort zu uns reden (Psalm 119,143). Das geistliche Leben wird dadurch belebt und gestärkt. Durch das Leid ist uns die Möglichkeit gegeben, uns selbst und unsere Motive, Gott und auch unsere Mitmenschen besser kennenzulernen. Auf die Frage nach dem Warum des Leidens finden wir oft keine Antwort und bei längerer Dauer sind Vertrauen, Hoffnung und Geduld gefragt (vergleiche Lukas 8,43 und Lukas 13,11). In Gottes Plan hat alles seine Zeit (Prediger 3,1–8; 1. Petrus 5,6), auch das Heilen (Prediger 3,3). Wie schön ist es, wenn ein Kind Gottes bekennen kann: „Siehe, zum Heil ward mir bitteres Leid“ (Jesaja 38,17). Selbst erlebtes Leid und erfahrene Hilfe Gottes kann auch für andere zum Segen werden: „Damit wir die zu trösten vermögen, die in allerlei Bedrängnis sind, durch den Trost, mit dem wir selbst von Gott getröstet werden“ (2. Korinther 1,4). Nach Gottes Gedanken soll Sein Kind, das leidet, in der Not nicht allein sein. Dies ist ein Aspekt, der uns die Wichtigkeit der örtlichen Gemeinde vor Augen führt. In Galater 6,2 heißt es: „Einer trage des anderen Lasten, so sollt ihr das Gesetz des Christus erfüllen!“ Verständnis, Trost und Ermutigung sind Balsam für die leidende Seele. Der Auftrag Gottes ist klar: „Wir ermahnen euch aber, Brüder: Verwarnt die Unordentlichen, tröstet die Kleinmütigen, nehmt euch der Schwachen an, seid langmütig gegen jedermann!“ (1. Thessalonicher 5,14) Unter Kleinmütigen und Schwachen dürfen wir sicher auch Menschen mit seelischen Problemen und Nöten verstehen. In diesem Dienst kommt dem Wort Gottes eine besondere Rolle zu: „Wie gut ist ein Wort, das zur rechten Zeit gesprochen wird!“ (Sprüche 15,23; vergleiche Sprüche 25,11) In der Heiligen Schrift werden mehrfach Ärzte erwähnt. Lukas, der Verfasser des dritten Evangeliums und der Apostelgeschichte, war Arzt (Kolosser 4,14). Auch von Medizin, zum Beispiel Balsam, ist die Rede (Jeremia 8,22; 51,8). In 1. Timotheus 5,23 wird Timotheus angewiesen: „Trinke nicht mehr nur Wasser, sondern gebrauche ein wenig Wein um deines Magens willen und wegen deines häufigen Unwohlseins.“ Im Zusammenhang mit unserem Thema kann man Wein auch als sanftes Psychopharmakon betrachten (Sprüche 31,6). Es ist also nicht falsch, zur rechten Zeit einen Arzt aufzusuchen, und es ist auch keine Sünde, Psychopharmaka einzunehmen. Aber letztlich sollen wir unser Vertrauen nicht auf Menschen und Medikamente setzen, sondern auf den lebendigen Gott (Jeremia 17,5; Sprüche 3,5). Gott allein kann heilen – der Arzt und seine Therapien sind nur Hilfsmittel. So wie manche körperlichen Schmerzen auch mit den stärksten Schmerzmitteln nicht verschwinden, so können auch seelische Leiden trotz aller Medikamente, die keine Wundermittel sind und ihre klaren Grenzen haben, bestehen bleiben. Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang an die Verheißung des Wortes Gottes: „Denn ich bin überzeugt, dass die Leiden der jetzigen Zeit nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns geoffenbart werden soll. [...] Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung mitseufzt und in Wehen liegt bis jetzt; und nicht nur sie, sondern auch wir, die wir die Erstlingsgabe des Geistes haben, auch wir erwarten seufzend die Sohnesstellung, die Erlösung unseres Leibes“ (Römer 8,18.22–23). Ja, es wird der Tag kommen, von dem es heißt: „Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, weder Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!“ (Offenbarung 21,4–5)

[1] Wikipedia, Psychopharmakon (o. J.) https://de.wikipedia.org/wiki/Psychopharmakon
[2] Moncrieff, A Straight Talking Introduction to Psychiatric Drugs. The Truth About How They Work and How to Come Off Them. PCCS Books 2021
[3] Bschor, Antidepressiva. Wie man die Medikamente bei der Behandlung von Depressionen richtig anwendet und wer sie nicht nehmen sollte. Südwest 2018
[4] Ludwig, Mühlbauer & Seifert, Arzneiverordnungs-Report 2022. Springer 2023
[5] Frances, Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen. DuMont Buchverlag 2014
[6] Kirsch, Listening to Prozac but hearing placebo: A meta-analysis of antidepressant medication. Prevention & Treatment, 1(2): Article 2a (1998) https://pdfs.semanticscholar.org/2e38/26a18b32d3e029400df21eae5298a02d7985.pdf
[7] DGPPN, Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression, Springer (2015) https://www.leitlinien.de/themen/depression/pdf/depressionvers3-2-lang.pdf
[8] Ansari, Unglück auf Rezept. Die Anti-Depressiva-Lüge und ihre Folgen. Klett-Cotta 2019
[9] Fava, Antidepressiva absetzen. Anleitung zum personalisierten Begleiten von Absetzproblemen. Schattauer 2023
[10] Moncrieff, The Bitterest Pills. The Troubling Story of Antipsychotic Drugs. Palgrave Macmillan 2013
[11] Healy, Psychiatric Drugs Explained. Elsevier 2023
[12] Chouinard, Samaha, Chouinard, et al. Antipsychotic-Induced Dopamine Supersensitivity Psycho-sis: Pharmacology, Criteria, and Therapy. Psychother Psychosom 86(4):189-219 (2017) https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/28647739/
[13] Wormer, Natürliche Antidepressiva. Sanfte Wege aus dem Stimmungstief. Mankau Verlag 2022
[14] Pfeifer, Gesundheit um jeden Preis? Alternative Medizin und christlicher Glaube. Brunnen Verlag 2008
[15] Whitaker, Anatomy of an Epidemic. Magic Bullets, Psychiatric Drugs, and the Astonishing Rise of Mental Illness in America. Crown 2011 Die deutsche Ausgabe (Titel: Anatomie einer Epidemie) erscheint voraussichtlich im Oktober 2024.
[16] Berg, Gott ist mehr als genug. Grundlagen für eine ruhige Seele. Impact 2018 Die beiden erwähnten Zeugnisse findet man auch hier: https://biblische-lehre-wm.de/wp-content/uploads/Zeugnissevon-Jenny-und-Anne.pdf
[17] Schumacher, Psychopharmaka und Seelsorge. Script 2021 https://biblische-lehre-wm.de/wp-content/uploads/Psychopharmaka-und-Seelsorge-MSchumacher.pdf


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Basismaßnahmen bei Depressionen

Basismaßnahmen bei Depressionen

Autor: Dr. med. Matthias Klaus

Wer depressiv ist, sieht kein Licht am Ende des Tunnels. Die Stimmung ist anhaltend trübe, die Motivation und die Freude fehlen. Häufig gesellen sich Schlaflosigkeit und rasche Erschöpfung hinzu. Die Gedanken kreisen – insbesondere in der Nacht – und lassen sich nicht stoppen. Dies sind nur einige der möglichen Symptome, die eine Depression kennzeichnen. Doch wie findet man heraus aus dem tiefen Loch? Wie kann eine Leiter nach oben gebaut werden? Der erste Schritt ist die ärztliche Einordnung, warum diese Symptome auftreten. Liegt eine körperliche Erkrankung oder eine familiäre Belastung vor oder sind die Symptome eine Reaktion auf schwere Lebensumstände? Unabhängig von der sich aus den jeweiligen Ursachen ergebenden spezifischen Behandlung, greifen die in diesem Artikel entfalteten Basismaßnahmen[1] bei jeder Art der Depression und helfen, die Symptome zu lindern oder gar zu überwinden. Die Basismaßnahmen bei Depressionen sind also nicht anstelle der spezifischen ärztlichen oder seelsorgerlichen Behandlung anzusehen, sondern als Grundlage, auf der die spezifischen Interventionen aufbauen.

1. Das vertrauensvolle Gespräch

Die wichtigste Säule bei der Behandlung von depressiven Symptomen ist das Gespräch. Der Betroffene braucht eine Beratung, in der er vermittelt bekommt, dass er mit seinen Beschwerden nicht isoliert dasteht. Die unterschiedlichen Puzzleteile, wie zum Beispiel Schlaflosigkeit, innere Unruhe und starke Stimmungsabsenkung, sind Ausdruck eines Gesamtbilds, nämlich eines depressiven Syndroms.[2] Es gilt, diese Symptome empathisch einzuordnen und in einem zweiten Schritt Hoffnung aufzuzeigen. Die meisten Depressionen klingen nach Wochen bis Monaten von selbst ab, die Prognose ist außerordentlich gut, auch wenn ein langer Atem nötig ist. Die Hintergründe, Symptome und typischen Verläufe einer Depression zu erklären, wirkt bereits therapeutisch (sogenannte Psychoedukation). Der Depressive ist seinen Krankheitszeichen nicht hilflos ausgeliefert, sondern kann ihnen durch wirksame Maßnahmen entgegentreten. Er ist also nicht Opfer einer Erkrankung, die über ihn kommt, sondern kann aktiv an seiner Genesung mitwirken. Das Gespräch muss schließlich den ins Zentrum rücken, der unser Erschaffer und zugleich unser Erlöser ist – Jesus Christus. Durch ihn gibt es tragfähige Hoffnung, die auch in die tiefste Dunkelheit hineinleuchtet. Er ruft: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, so will ich euch erquicken! Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen! Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“ (Matthäus 11,28–30) Im Zusammenhang mit einer Depression treten häufig aussichtlose Betrachtungsweisen bis hin zu Selbstmordgedanken auf. Wozu leben? Echte Antworten hierauf bietet allein Jesus Christus: Es lohnt sich zu leben, weil wir nicht nur von unserem Schöpfer gewollt, sondern auch innig geliebt sind. Wer Christus gehört, wer ihn mit Buße und im Glauben annimmt, darf aus den großen Verheißungen der Bibel Trost und Hoffnung schöpfen – und er bekommt täglich Kraft, gegen die Übermacht der lähmenden Gefühle anzukämpfen.[3]

2. Tagesstruktur

Eine wesentliche Basismaßnahme, um depressive Symptome zu bekämpfen, liegt in der Tagesstrukturierung. Aufgrund der raschen Ermüdbarkeit sowie dem fehlenden Antrieb werden häufig natürliche, tagesstrukturierende Elemente wie beispielsweise der Gang zur Arbeit oder zur Schule, sportliche Aktivitäten, Gemeinschaftsaktionen wie Treffen mit Familie und Freunden, Gottesdienstbesuche oder regelmäßige Mahlzeiten aufgegeben. Häufig steht dahinter die Überzeugung, dass die zusätzliche Ruhe und Entlastung zu einer Linderung der Depression beitragen. Leider ist jedoch häufig das Gegenteil der Fall. Beim Aufbau einer gesunden Tagesstruktur ist darauf zu achten, dass der Betroffene nicht überfordert wird. Dies gelingt durch einen schrittweisen Auf- und Ausbau einzelner Elemente im Tagesplan. Hilfreich sind klar definierte, konkrete Aufgaben, die täglich abgehakt werden können (beispielsweise Spaziergänge, regelmäßige Mahlzeiten, im Verlauf Sport, Erledigung von häuslichen Tätigkeiten, überschaubare Hilfeleistungen für Dritte). Geplante häufige Pausen zu Beginn des Strukturaufbaus werden sukzessive verkürzt. Entgegen der Neigung, sich zurückzuziehen, ist eine regelmäßige Teilnahme am Gottesdienst wichtiger Teil der Strukturierung. Das Ziel dieser Maßnahme besteht nicht darin, wieder das „alte“ Tagespensum zu erreichen. Wenn beispielsweise eine hohe körperliche Belastung, wie etwa das Pflegen von Angehörigen, zur depressiven Symptomatik geführt hat, dann ist an dieser Stelle eine Entlastung und Umstrukturierung der Lebenssituation vonnöten.[4]

„Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, so will ich euch erquicken! Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen! Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“

Matthäus 11,28–30

3. Sport

Eine der wirksamsten Methoden gegen depressive Symptome besteht in sportlicher Betätigung aller Art. [5] Dabei ist bemerkenswert, dass schon ein täglicher Spaziergang einen langanhaltenden positiven Effekt auf die Stimmungslage und Motivation hat. Wichtig bei der körperlichen Aktivität ist nicht so sehr die Intensität der Bewegung, sondern vielmehr die Regelmäßigkeit und eine ausreichende Dauer (mindestens 30 Minuten pro Tag). Häufig hilft es daher, Sport in einer Gruppe zu betreiben. Wer Sport treibt, verspürt einen nachhaltig stressmildernden Effekt, stärkt das Immunsystem, fördert die Schlafqualität und baut soziale Kontakte aus. Glückshormone werden ausgeschüttet, Stresshormone abgebaut, natürliche Killerzellen (Teil des Immunsystems) produziert und allgemein Herz und Muskeln gestärkt.[6]

4. Schlaf

Fast immer leiden Depressive unter Ein- oder Durchschlafstörungen, Früherwachen, Tagesmüdigkeit oder seltener an einer deutlich verlängerten Schlafdauer von bis zu 14 Stunden. Wer immer wieder erwacht und von Gedankenkreisen geplagt ist, fühlt sich tagsüber nicht erholt. Wenn am Tag versucht wird, den nächtlichen Schlafmangel auszugleichen, verstärken sich jedoch nachweislich depressive Symptome – eine Abwärtsspirale. Die Schlafqualität zu verbessern ist daher eine wesentliche Säule der Basismaßnahmen gegen Depressionen. Dies gelingt mittels konsequenter Schlafhygiene. Die fünf wesentlichen Schritte finden sich in der Infographik „5 Schritte zu einem erholsamen Schlaf‟.

5. Wachtherapie

Die Wachtherapie ist ein effektives Mittel, um kurzfristig und rasch depressive Symptome zu lindern. Hierfür wird eine Nacht lang ganz auf Schlaf verzichtet. Man bleibt also eine Nacht lang wach, macht weder vorher einen Mittagsschlaf noch in der Nacht kurze Nickerchen. Um eine gesamte Nacht wach zu bleiben, braucht es Verbündete, beispielsweise eine weitere Person, mit der man die Nacht über aufbleibt. Unterstützende Maßnahmen, damit es gelingt sind: ein nächtlicher Spaziergang, Bewegung mit Fitnessübungen oder Gesellschaftsspiele. Erst am Folgetag geht man zur üblichen Zeit ins Bett. Viele Depressive berichten, dass sie nach einer durchwachten Nacht bereits am nächsten Vormittag prompt eine verbesserte Stimmung und einen gesteigerten Antrieb verspüren. Dies stimmt hoffnungsvoll, da es zeigt, dass die Betroffenen tatsächlich noch gute Gefühle und Motivation wahrnehmen können. Der Nachteil besteht darin, dass die Wirkung nur von kurzer Dauer ist und meist am Folgetag bereits die depressive Grundstimmung zurückkehrt. Eine Wachtherapie kann beliebig häufig wiederholt werden, einige führen sie einmal pro Woche durch. Nur wenigen Personen ist von einer Wachtherapie abzuraten, hierzu gehören Patienten mit einer Epilepsie oder mit der Diagnose einer bipolaren Erkrankung.

6. Lichttherapie

Für die saisonal betonte Depression eignet sich in vielen Fällen eine Lichttherapie. In den dunklen Monaten kommt es bei einigen Menschen durch die nur kurze Sonnenscheindauer zu einer regelmäßig im Herbst und Winter auftretenden Depression. Der fehlende Sonnenschein wird mit einer speziellen Lichtlampe mit einer Helligkeit von 10.000 Lux ausgeglichen (zu beziehen via Rezept oder frei verkäuflich über eine Apotheke). Hierfür setzt man sich in einem Abstand von circa einem halben Meter von der Lampe entfernt hin, ohne direkt in die Lampe zu blicken. Dies sollte täglich je 30 Minuten lang für mindestens 30 Tage angewandt werden. Anschließend kann beurteilt werden, ob die Lichttherapie wirksam ist und die depressiven Beschwerden gemildert wurden. Bei guter Wirksamkeit sollte die Lichttherapie konsequent während der gesamten Wintermonate fortgeführt werden.

7. Ernährung

Eine gesunde Ernährung fördert das allgemeine Wohlbefinden. Sie sollte praktisch, schmackhaft und sättigend sein. Nicht die zeit- und kostenintensive Diät führt zum Ziel, sondern einfache Schritte: ein hoher Anteil an Gemüse, Obst und gesunden Ölen, sättigende Beilagen, weitgehender Verzicht auf Fastfood, Süßigkeiten oder Knabbergebäck. Außerdem sind regelmäßige Mahlzeiten (drei- bis viermal täglich), am besten in Gemeinschaft dienlich.[7]

8. Fazit

Mit Hilfe der Basismaßnahmen kann der Depressive unter Anleitung und Motivation durch Angehörige, Seelsorger und Ärzte das Heft des Handelns (wieder) in die Hand nehmen.

"Du hast mir meine Klage in einen Reigen verwandelt; du hast mein Trauergewand gelöst und mich mit Freude umgürtet, damit man dir zu Ehren lobsinge und nicht schweige. O HERR, mein Gott, ich will dich ewiglich preisen!"

Psalm 30,12–13

[1] Siehe hierzu Selalmazidou, A.-M. et. al.: Depression: Niedrigschwellige Kardinalmaßnahmen als Basis jeder Behandlung. Fortschr Neurol Psychiatr 2023; 91(12): 523-534. DOI: 10.1055/a-2169-2120
[2] Hier kann nicht genauer darauf eingegangen werden, dass die Psychiatrie vorrangig deskriptiv, also beschreibend vorgeht. Das depressive Syndrom (also das Nebeneinander von verschiedenen charakteristischen Symptomen über mehr als mindestens zwei Wochen) wird als Depression bezeichnet. Dabei meint Depression nicht, dass es sich um eine eigentliche Krankheit handelt, sondern beschreibt lediglich den Zustand des Patienten. Die Ursache ist damit keineswegs geklärt.
[3] In einem zweiten Schritt werden hier spezifische Maßnahmen folgen: Welche Grundüberzeugungen verbergen sich hinter den Depressionen? Welche biblische Wahrheit steht diesen Grundüberzeugungen entgegen? Wie können sie überwunden werden? Vergleiche hierzu Antholzer, R.: Lehrbuch Biblische Seelosrge, Band IV. Hamburg: tredition. 2021. S. 113–154.
[4] Vergleiche hierzu Somerville, R. B.: Christ & depressiv. Wie kann das sein? Dübendorf: Verlag Mitternachtsruf und Christliche Verlagsgesellschaft. 2. Auflage 2019. S. 65–67.
[5] Noetel, M. et al.: Effect of exercise for depression: systematic review and network meta-analysis of randomised controlled trials. BMJ. 2024 Feb 14; doi: 10.1136/bmj-2023-075847.
[6] Hier sei exemplarisch auf eine Studie verwiesen. Mathot, E. et al.: Systematic review on the effects of physical exercise on cellular immunosenescence-related markers - An update. Exp Gerontol. 2021 Jul 1. doi: 10.1016.
[7] Zur weiteren Lektüre empfohlen: Prock, P.: Welchen Stellenwert hat Lebensstilmedizin in der Seelsorge. Waldems: 3L Verlag. 2019. und Prock, P. u. G.: Essen ist mehr. Ernährung aus biblischer, wissenschaftlicher und praktischer Sicht. Augustdorf: Betanien. 2019.


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Volkskrankheit Einsamkeit

Volkskrankheit Einsamkeit

Autor: Inge Fischer, im Juni 2024

Scheinbar sind wir Menschen doch eng zusammengerückt seit World Wide Web und social media. In großer Schnelligkeit können wir mit Menschen in der ganzen Welt und zu jeder Zeit kommunizieren. Und doch: die Einsamkeit ist groß, wenn auch (auf den ersten Blick) nicht unbedingt sichtbar.

1. Einsamkeit ist zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem geworden

Wenn Sven freitagabends am Stammtisch in der Kneipe sitzt, würde kaum einer auf die Idee kommen, dass er sich einsam fühlt. Aber der 49-Jährige sagt: „Meine Einsamkeit sieht man mir nicht an.“ Sogar Freunde wüssten nicht, dass er sich oft einsam fühle. Die 30-jährige Merle hat sich vor Kurzem einen Hund zugelegt. Etwas besser erträgt sie jetzt ihre Einsamkeit, sagt sie. Trotzdem schaltet sie täglich den Fernseher an, um wenigstens eine Stimme zu hören und eine Geräuschkulisse in der Wohnung zu haben. Gerne würde sie etwas mit anderen Leuten gemeinsam unternehmen, aber ihr fällt keiner ein, den sie fragen kann. Im Dezember 2019 berichtete der Deutschlandfunk darüber, dass Großbritannien der Einsamkeit den Kampf ansagen will und ein eigenes Ministerium gegen Einsamkeit gründen wird: Einsamkeit wird sogar Regierungssache. Neun Millionen Briten gelten als einsam.[1]Laut einer Umfrage im Jahr 2021[2] gaben etwa 41% der Menschen in Deutschland an, sich einsam oder sehr einsam zu fühlen. Der bekannte Neurowissenschaftler und Psychiater Prof. Dr. Dr.   Manfred Spitzer[3] gab seinem in 2018 erschienenen Buch den Titel „Einsamkeit – die unerkannte Krankheit“. Einsamkeit ist zur Volkskrankheit geworden.

Vor „Corona“ gaben nur etwa 17% an, sich einsam zu fühlen. Mir fiel in meinen Recherchen auf, dass vor allem seit 2020 bis heute verschiedenste Medien über Einsamkeit berichteten und weiterhin berichten.[4] Der Zusammenhang zwischen den Coronaverordnungen durch die Regierung (2020-2022) und den Auswirkungen wie eben die enorme Zunahme der Einsamkeit lässt sich unschwer erkennen.

Nun will die Bundesregierung gegen Einsamkeit vorgehen.[5]

Im Juni 2024 fand eine Aktionswoche gegen Einsamkeit (vom 17. bis 23. Juni) statt. Zum Auftakt veranstalteten das Kompetenznetz Einsamkeit (KNE) und das Bundesfamilienministerium zum dritten Mal in Folge eine Konferenz zum Problem Einsamkeit.[6] Der 17. Juni 204 wurde als Tag der Einsamkeit deklariert. Bundesfamilienministerin Lisa Paus erklärte ihr Vorhaben, die Öffentlichkeit stärker für das Thema Einsamkeit zu sensibilisieren und es aus der Tabuzone herausholen. „Ob jung oder alt, das Gefühl kann in jedem Alter und in jeder Lebenssituation entstehen“, sagte Paus zum Auftakt der Aktionswoche „Gemeinsam aus der Einsamkeit“. Das Ziel: Menschen zusammenbringen, Hilfsangebote aufzeigen. Millionen von Menschen in Deutschland seien von Einsamkeit betroffen.

Frau Paus nannte Einsamkeit ein „unterschätztes Phänomen“, das langfristig auch der Demokratie schaden kann. „Wer Vertrauen in die Gesellschaft verliert, verliert auch Vertrauen in die Demokratie, politische Teilhabe nimmt ab, genauso wie die Bereitschaft wählen zu gehen“, sagte die Grünen-Politikerin den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Einsamkeit sei nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO genauso schädlich wie Fettleibigkeit, tgl. 15 Zigaretten Rauchen und Luftverschmutzung.

2. Die Coronamaßnahmen haben zu großer Einsamkeit geführt

Trotz vorliegender wissenschaftlicher Erkenntnisse setzte die Regierung umstrittene und unwirksame Coronamaßnahmen durch, die viele junge und ältere Menschen einsam werden ließen. Schulschließungen und Kontaktverbote führten zu schweren psychischen Folgen, besonders bei Kindern, Jugendlichen und Alten[7]. Die Folgen reichen noch in die Gegenwart, beispielsweise durch den Anstieg der psychischen Krankheiten. Die Ärztezeitung warf bereits am 19.10. 2020 die Frage auf, ob mit Corona nicht gleichzeitig auch eine Epidemie der Einsamkeit drohe.

Auch das Ministerium für Familie, Senioren Frauen und Jugend (BMFSFJ) gibt zu, dass sich seit der Corona-Pandemie wesentlich mehr Menschen sozial isoliert fühlen: „Wir wissen, dass das während Corona hochgeschnellt ist auf 40 Prozent in Deutschland“, so die Ministerin. Auch nach Corona habe sich das nicht wieder verflüchtigt. „Wir haben nach wie vor hohe Werte, und besonders junge Menschen und sehr alte Menschen sind davon betroffen.“

3. Wen betrifft Einsamkeit?

Es zeigt sich, dass jeder betroffen sein kann, besonders Jugendliche und im Alter mit jeweils anderen Ursachen und Folgen: im Jugendalter gibt es eine besondere Empfindlichkeit gegenüber sozialem Ausschluss und Einsamkeit. Ursachen für Einsamkeit bei den Jugendlichen gehen auf zwei wesentliche Trends zurück:  einmal durch die Urbanisierung. Menschen in Städten fehlen oft persönliche Kontakte und ihr Leben wird für sie anonymer. 1900 lebten 13% der Weltbevölkerung in Städten, heute sind es 50%, 2050 werden es voraussichtlich 70 % sein. Und dann kommt die Mediatisierung zum Tragen: Digitalisierung, Internet, social Media[8], Smartphone. Die Kinder und Jugendlichen von heute haben viel weniger reale Kontakte. Junge Menschen halten sich inzwischen mehr in virtuellen Welten als in der Realität unter echten Freunden auf Die Onlinenutzung ist inzwischen ein wesentlicher Teil der Alltagsgestaltung. [9]

Immer mehr Menschen leben im Alter allein (bundesweit 40% der über 65-jährigen, in Großstädten noch mehr), davon 85% Frauen. Besonders gefährdet sind Menschen in Übergangssituationen im Leben, wie dem Einstieg in Studium, Ausbildung, Beruf und Rente oder wenn die Person einen Schicksalsschlag bewältigen muss, etwa eine Trennung oder den Verlust eines geliebten Menschen. Alleinlebende, Alleinerziehende, pflegende Angehörige sowie Menschen mit eingeschränkter Mobilität, gesundheitlichen Problemen, niedriger Bildung oder geringen finanziellen Möglichkeiten sind mit einem erhöhten Risiko, von Einsamkeit betroffen zu sein, behaftet.

4. Was genau eigentlich ist Einsamkeit? (Merkmale/ Definition)

Einsamkeit wird beschrieben als ein empfundener Mangel an engen, emotionalen Bindungen oder weniger Kontakt zu anderen Menschen zu haben, als man es gerne möchte.[10]

Prof. Dr. Luhmann, eine der führenden deutschen Einsamkeitsforscher, definiert Einsamkeit in Anlehnung an Peplau/Perlman (1982) als „eine wahrgenommene Diskrepanz zwischen den gewünschten und den tatsächlichen sozialen Beziehungen“. Dabei ist die Qualität der sozialen Beziehungen wichtiger als die Quantität (Hawkley et al., 2008). „Einsamkeit ist ein subjektives Gefühl, das von den Betroffenen als schmerzhaft wahrgenommen wird. Im deutschen Sprachgebrauch wird Einsamkeit manchmal auch synonym mit Alleinsein verwendet, z. B. wenn man die Einsamkeit in der Natur aufsucht. Diese Art von Alleinsein wird häufig als positiv empfunden, Einsamkeit (im wissenschaftlichen Sinne) ist dagegen immer negativ.“

Problematisch wird Einsamkeit, wenn das Gefühl der Einsamkeit sich verfestigt und mit einem dauerhaften Leidensdruck einhergeht. Chronische Einsamkeit macht nicht nur unglücklich, sondern ist mit einer Vielzahl an körperlichen und psychischen Erkrankungen verbunden.

Einsam ist man also letztendlich, wenn man sich einsam fühlt!

Ist Einsam oder allein sein das gleiche? Nein, sagen Studien und es hängt auch nicht so stark damit zusammen, wie man denken könnte. Einsamkeit beschreibt das subjektive Gefühl, während „alleine sein“ ein objektiv sichtbarer Zustand ist. Zwar tritt beides häufig zusammen auf, ist aber nicht notwendigerweise miteinander verknüpft.

Es gibt verschiedene Arten von Einsamkeit:

So wird am häufigsten unterschieden zwischen:

  • Sozialer Einsamkeit“ (die Einbindung in ein soziales Netzwerk)
  • Emotionaler Einsamkeit“ (die Qualität der Kontakte)
  • Kultureller Einsamkeit“ (man fühlt sich nicht als Teil der umgebenden Gesellschaft)

5. Was sind Ursachen für Einsamkeit?

Um gegen Einsamkeit vorzugehen, sollten die Ursachen dafür herausgefunden und analysiert werden. Nur so können wirksame Lösungen in den Blick genommen werden.

5.1. Mediennutzung

Unsere Kommunikation hat sich im Vergleich zu früher stark verändert. Einige Beispiele: früher war das Einkaufen im Tante- Emma- Laden zugleich eine persönliche menschliche Begegnung. Es kam zu Gesprächen und Austausch. Seit den später entstandenen Supermärkten geht es beim Einkaufen anonymer zu. Ganz zu schweigen vom Online-Shopping. Wir fragen das Navigationsgerät nach dem Weg und regeln die Bankgeschäfte daheim am PC. Diese und andere modernen Kommunikationswege reduzieren den direkten menschlichen Kontakt und machen uns einsamer.

Wer sich früher unterhalten wollte, ging in die Kneipe. Heute sitzen die meisten Leute stattdessen vor dem Fernseher. Der Zusammenhang zwischen TV-Konsum und Einsamkeit ist schon länger kein Geheimnis mehr.

Die menschliche direkte Dienstleistung wird mehr und mehr wegrationalisiert. Wir reden viel weniger von Mensch zu Mensch. Wir erleben telefonische Warteschleifen oder holen uns Informationen an Automaten. Es wird auch überlegt bzw. schon ausprobiert, über digitale Medien mit dem Hausarzt zu kommunizieren, anstatt von ihm persönlich angehört und untersucht zu werden.

Aber es besteht ein großer Unterschied zwischen medialen Kontakten und dem direkten Umgang mit einem anderen Menschen. Ein direkter Kontakt ist durch nichts zu ersetzen! Selbst große Unternehmen, die mit Geschäftspartnern in fernen Ländern kommunizieren, legen Wert auf eine wenigstens initiale reale Begegnung. Bilder können täuschen und zu falschen Eindrücken führen.

  • Veränderungen der Familienstruktur und des Familienlebens:

Eine weitere Entwicklung ist es, dass es immer mehr alleinlebende Zeitgenossen gibt. In 2015 zählte man knapp 41 Mio. Haushalte, davon 17 Mio. Singlehaushalte. Der Anteil der klassischen Familie (Eltern und Kinder) nimmt ab. Gemeinsame Zeiten in der Familie werden seltener, wie z.B. die gemeinsamen Mahlzeiten. Scheidungen nehmen zu, dafür steigt die Anzahl der Alleinerziehenden.

  • Auswirkungen der Ichbezogenheit und der Omnipräsenz digitaler Informationstechnik:

Auch mancher Erziehungsstil und Einflüsse von Medien leisten dem Entstehen von Einsamkeit Vorschub. Zum Beispiel wird Kindern eine überbordende Selbstbezogenheit anerzogen. In Medien und Castingshows werden Kinder durch teils fragwürdige „Leistungen“ zu angeblichen Stars hofiert. Anerkannt werden nicht mehr erarbeitete Leistungen, sondern eher verrückte, auffällige Eigenschaften, wer am „schönsten“ oder „verrücktesten“ ist, usw. Unrealistische Vorstellungen, ein bequemes Leben ohne Anstrengung führen zu können, werden genährt. Selfies zählen längst als häufige Fotoobjekte, mittels derer man sich regelrecht wettbewerbsverdächtig präsentieren möchte.  All das fördert Selbstverliebtheit mit dem Potential zum Narzissmus[11].  Wesentlicher für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung ist es aber, Empathie zu entwickeln und sich für das Wohlergehen des Mitmenschen zu interessieren. Stattdessen wird maßloser Individualismus und ausgeprägte Ichbezogenheit gefördert. Die heutige Generation, die sogenannten Millennials werden bezeichnenderweise auch als „Generation Ich“/ „Generation Me“ betitelt. Ichbezogenheit ist im Prinzip kein neues Phänomen, aber laut Manfred Spitzer besteht der größte Unterschied im Vergleich zu vor 40 Jahren darin, dass die digitale Informationstechnik[12] omnipräsent ist. Das führte inzwischen zu Veränderungen der Werte, Haltungen, Kommunikation, Aufmerksamkeit und des ganz normalen Handelns im Alltag und ist sehr stark für das Aufkommen von Einsamkeit verantwortlich. Die Veränderungen der Werte zeigen sich beispielsweise darin, dass Mitgefühl und praktische Anteilnahme am Mitmenschen auf der Strecke bleiben.

Inzwischen zeigen Beobachtungen, dass die Digitalisierung die Menschen nicht zusammenbringt, sondern eher eine Zunahme von Unzufriedenheit, Depression und Einsamkeit bewirkt. Insbesondere die Nutzung von sozialen Online-Netzwerken fördert diese Entwicklung.

Ein klarer Zusammenhang zwischen dem Erleben von Einsamkeit und der Nutzung von sozialen Online-Netzwerken wurde nachgewiesen. [13] Es wird auch festgestellt, dass sich Facebook-Nutzung negativ auf das subjektive Befinden auswirkt. Manche werden unzufriedener, werden durch häufiges Vergleichen mit anderen schlechter gelaunt und gefährden sogar ihre realen Beziehungen. „Viele Freunde“ bei Facebook haben und dennoch kann man einsam sein!

Auch das Problem des Cybermobbing mit teils krimineller Ausprägung bis zu Suizidgedanken bei den Betroffenen in der Bevölkerung nicht mehr unbekannt. Jedes 6. Schulkind ist von Cybermobbing betroffen. [14]

6. Auswirkungen der Einsamkeit:

Die Auswirkungen von Einsamkeit sind vielfältig und werden zunächst oft nicht bewusst wahrgenommen.

6.1 Einsamkeit tut weh (neurobiologische Ergebnisse)

Gemeinschaft macht Freude, aber ausgestoßen, von anderen verlassen zu sein und nicht dazu zu gehören, ist schmerzlich. Amerikanische Wissenschaftler haben schon vor über 15 Jahren mittels Nachstellung von Alltagssituationen, in denen eine Person ausgestoßen wird, nachgewiesen, dass dadurch eine gesteigerte Aktivierung in einem bestimmten Bereich des Gehirns messbar ist. (Untersuchungen im MRT).  Einsamkeit und Schmerzen werden im gleichen Areal des Gehirns verarbeitet![15]Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Gemeinschaftserlebnis lindert Schmerzen!

6.2 Einsamkeit löst (Dauer-)Stress aus – Gedanken und Gefühle können krank machen

Akuter Stress durch eine Notfallreaktion kann Lebensrettend sein. Zugleich hat er durch die Ausschüttung von Stresshormonen (Cortisol, Adrenalin, Noradrenalin) aber auch Nebenwirkungen. Dauerstress schädigt das Immunsystem, weil ständig ein Zuviel an Entzündungsstoffen im Körper zirkuliert.

Chronischer Stress ist krankmachend und wird oft nicht bewusst wahrgenommen. Man weiß heute, dass Einsamkeitserlebnisse in der Kindheit (z.B. Vernachlässigung durch die Eltern) sich stärker negativ auswirken als beruflicher Dauerstress! Andersherum gilt: Das Leben in Gemeinschaft senkt das Stressniveau, baut Stress ab.

Ein zurückgezogenes Leben, sich dauerhaft einsam fühlen, senkt die Lebensqualität und wirkt sich negativ auf die körperliche Gesundheit aus. Das Risiko eines erhöhten Sterbe- und Krankheitsrisikos kann daraus entstehen, wie nachfolgend dargestellt wird.

6.3. Einsamkeit als Krankheitsrisiko

Durch Einsamkeit steigt Wahrscheinlichkeit folgende Krankheiten zu bekommen:

Hypertonie, Stoffwechselstörungen (Übergewicht, Diabetes), Gefäßkrankheiten (Schlaganfall, koronare Herzkrankheit, Herzinfarkt), Schlafstörungen, Depression, Lungenkrankheiten, Infektionskrankheiten (Schwächung des Immunsystems), Krebs.

Einsame Kinder und Jugendliche weisen als junge Erwachsene mehr Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen auf und haben ein um 37 Prozent höheres Risiko, Herz-Kreislauf- Erkrankungen zu entwickeln, unabhängig von anderen bekannten Risikofaktoren wie Stress durch ungünstige Lebensereignisse, Armut, geringer IQ, Übergewicht als Kind, Bewegungsmangel sowie Alkohol- und Tabakkonsum. Das Erkrankungsrisiko dieser jungen Erwachsenen (für jegliche Erkrankungen) war gegenüber Studienteilnehmern, die während ihrer Kindheit und Jugend nicht einsam waren, um 158 Prozent erhöht. [16]

Einsamkeit im Alter verstärkt den Abbau der geistigen Leistungsfähigkeit und ein schnelleres Fortschreiten einer Demenz. Bei Menschen, die wenig soziale Kontakte haben und älter als 50 Jahre sind, nimmt die Struktur der grauen Hirnsubstanz im Zeitverlauf stärker ab als bei Personen, die weniger isoliert sind. [17]

  • Einsamkeit verstärkt Sucht und viele Psychosen. Das Ziel psychiatrischer Prävention und Therapie ist deshalb die soziale Teilhabe und Gemeinschaft.
  • Einsamkeit ist auch oft das Problem psychisch Kranker. Das Suizidrisiko ist hoch.

6.4. Mortalität durch Einsamkeit

Sowohl objektiv bestehende soziale Isolation als auch das Erleben von Einsamkeit gehen mit einem erhöhtem Sterberisiko einher (Studienergebnisse groß angelegter Studien, USA, Schweden, Finnland mit tausenden Teilnehmern)[18]. Forscher der Harbin Medical Universitiy in China werteten 90 Untersuchungen mit mehr als 2,2 Millionen Teilnehmern aus und stellten fest, dass ein Mangel an sozialen Kontakten im Mittel mit einem um etwa 32 Prozent höheren Sterberisiko einhergehe, das Gefühl von Einsamkeit mit einem um etwa 14 Prozent höheren Risiko. [19]

Die negativen Auswirkungen von Einsamkeit und sozialer Isolation auf Gesundheit und Lebenserwartung sind größer als die Risikofaktoren Luftverschmutzung, Bewegungsmangel, mangelhafte Ernährung, Übergewicht, starker Alkoholkonsum![20]

Dass Verheiratete grundsätzlich länger leben würden als Unverheiratete, lässt sich nicht so einfach behaupten. Die Qualität einer Beziehung muss als wesentlicher Faktor dazu kommen. Dabei kommt noch hinzu, dass sich Frauen eher einsam fühlen als Männer, obwohl sie durchschnittlich mehr soziale Kontakte als Männer haben.

7. Auswege aus der Einsamkeit

Aus der Einsamkeit herauskommen, aber wie? Im Folgenden werden verschiedene Wege und Aspekte dargestellt. Ich beginne mit der Darstellung von vier unterschiedlichen Interventionen nach Erhebung einer Metanalyse, die zum Einsatz[21] kamen:

  1. Die Kontaktmöglichkeiten sollten vermehrt werden. Aber das brachte keine wesentlichen Auswirkungen auf das Erleben von Einsamkeit.
  2. Soziale Unterstützung minderte zwar die Einsamkeit, allerdings nur mittelmäßig.
  3. Soziale Fähigkeiten sollten trainiert werden. Aber auch das zeigte keine wesentlichen Auswirkungen auf das Erleben von Einsamkeit.
  4. Eine Kognitive Verhaltenstherapie zum Erlernen neuer Gedanken zeigte den größten Effekt.

Die Lösung nach den Studien lässt aufhorchen:

Beim einsamen Menschen treten oft automatisch negative Gedanken im Hinblick auf andere Menschen im Allgemeinen und spezielle Kontakte im Besonderen auf. Wie ein unsichtbares Gefängnisgitter umschließt es den Einsamen. Die Lösung bestünde darin, dieses Gefängnisgitter aufzubrechen. [22]

Aber können wir das aus eigener Anstrengung schaffen? „Negative Gedanken“ ändern? Was sagt Gottes Wort dazu?

„Lasst euch umgestalten durch die Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was der gute und wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes ist!“ (Römerbrief, 12,2)

„Jene rühmen sich der Wagen und diese der Rosse; wir aber des Namens des Herrn, unseres Gottes.“ (Psalm 20, 8)

„Meine Seele wird satt wie von Fett und Mark, und mit jauchzenden Lippen lobt dich mein Mund, wenn ich deiner gedenke auf meinem Lager.“ (Psalm 63,7)

„Was wahrhaftig, ehrbar, gerecht, rein, liebenswert, wohllautend, was irgendeine Tugend oder ein Lob ist, dem denket nach!“ (Philipper 4, 8)

Das heißt, Gott möchte unser Herz (unser Innerstes, unser Denken) verändern. Dazu müssen wir ihm unser ganzes Leben anvertrauen und ihn darüber Herr sein lassen. Entscheidend ist dann weiterhin, dass wir uns dazu entscheiden, uns auf das zu besinnen, was ihn ehrt.

Weitere Empfehlungen/ Angebote und Auswege aus unterschiedlicher Literatur:

  • Geben: wir sollten lernen zu geben.

Das vermittelt uns längst das Wort Gottes: In Apostelgeschichte 20, 35 lesen wir, dass Geben seliger als nehmen ist und Paulus schreibt, dass Gott einen fröhlichen Geber liebhat. (2. Korintherbrief 9,7)

In Befragungen zeigte es sich:  wer erhaltenes Geld (z.B. Bonus) für andere ausgegeben hatte, war danach glücklicher als einer, der es für sich behalten hatte. Mehr Geld bringt nicht mehr Glück! Geben macht glücklich. Egoismus macht nicht glücklich, das zeigte sich bei entsprechenden Versuchen!

  • Geld nicht (nur) für Sachen ausgeben, sondern für gemeinsame Erlebnisse.
  • Helfen: freiwillige Helfer erleben sich deutlich gesünder als Nicht-Helfer. Wer einem Ehrenamt nachgeht, ist im Mittel so gesund wie jemand, der volle fünf Jahre jünger ist und kein Ehrenamt ausführt. Natürlich spielen die Bedingungen des Helfens eine Rolle, denn ansonsten müssten alle Pflegepersonen glücklich sein.
  • Musizieren, singen, tanzen
  • Bewegung, wandern, etwas bauen/ sammeln – am besten gemeinsam.
  • Singen! Es sollte wieder mehr gesungen werden: zuhause, in den Gemeinden, in den Schulen und den Kindertagesstätten.

Zu den vielfältigen Anregungen wie aus „einsam“ wieder „gemeinsam“ werden kann, sollte man sich vor Augen halten, dass nicht alles, was gut gemeint ist, auch immer funktioniert. Wie ein einsamer Mensch denkt und fühlt, ist für einen Außenstehenden nicht immer nachvollziehbar. Ratschläge wie „Geh doch in die Gruppe XY“, sind nicht immer das, was dem Betroffenen hilft. Manche Kontaktmöglichkeiten überfordern manch einen. Mancher Betroffene ist sehr sensibel und verletzbar. Deshalb reagiert er möglicherweise auf ein Gesprächsangebot mit Rückzug oder Ablehnung.

Zu bedenken ist auch, dass Einsamkeit kein Schicksal ist, denn jeder Einzelne kann sich um einen anderen kümmern und sei dieses Kümmern noch so unscheinbar. Der Anfang kann sein, dass man sich für das Wohlergehen des Nächsten überhaupt interessiert, z.B. danach fragt:

  • Gehe ich auf andere zu bzw. helfe ich anderen, kümmere ich mich um andere?
  • Habe ich Mitgefühl für sensible Menschen, die Hemmungen haben, zu schüchtern sind, um auf andere zuzugehen?

Jeder kann auch irgendetwas gut. Jeder kann mit seinen Gaben/ Fähigkeiten helfen und anderen Menschen dienen. Warum nicht selber aktiv werden und sich in der Gemeinde um Einzelne praktisch kümmern, besuchen oder mitarbeiten in der Seniorenarbeit oder Familien entlasten. Sich vornehmen, einen bestimmten Menschen regelmäßig anzurufen oder einen anderen, von dem man lange nichts mehr gehört hat.

  • Nehme ich die anderen, z.B. die alleinstehenden und einsamen Menschen in meiner Umgebung/ in meiner Gemeinde wahr?
  • Wird mein Glaube ganz praktisch, indem ich zum Beispiel Waise und Witwen besuche und ihnen helfe? (siehe Jakobus 1,27)

Statt auf Gemeinschaft lediglich zu warten, ist es viel besser, Gemeinschaft aktiv zu suchen und zu pflegen. Vor allem auch überlegen, wie man Gemeinschaft selber anbieten und mit anderen Menschen Unternehmungen teilen könnte.

Es gibt weitere Anregungen, die in verschiedenen Zeitschriften oder in Mitteilungen des Wohnortes zu finden sind. Solche sind z.B.  Generationencafés, Spiel- und Musiknachmittage, Wanderungen, Ausflüge, Repaircafés, Mitfahrgelegenheiten nutzen, Tiere pflegen und hüten, als Lesepate an Schulen helfen, sich um Enkel kümmern, Alltagsbegegnungen nutzen zum Plaudern (Gartenzaun, Wartezimmer), ein neues Hobby, eine neue Sprache lernen. Durch freundliches Interesse werden menschliche Begegnungen zu bereichernden Erlebnissen. Manche sagen dazu, diese sind wie „Kitt“, der zusammenhält.

Das Ausmaß der eigenen Nutzung von Onlinemedien, social media sollte man auch einmal selbstkritisch prüfen!! Ob das vielleicht ein Grund ist, sich einsam zu fühlen? Ist man selbst zu viel online und zu wenig in wirklicher Gemeinschaft? Der Online-Gottesdienst ist nie das Gleiche wie persönlich am Gottesdienst teilzunehmen und mit den Glaubensgeschwistern Gemeinschaft zu pflegen!

Christen sollten nüchtern prüfen, welche der publizierten Anregungen/ Angebote zu einem Leben in der Nachfolge Jesu passen. Dazu gehört es auch zu überlegen, welche zeitliche Priorität diese bekommen sollen.

8. Gemeinschaft und Einsamkeit aus biblischer Sicht:

Gott hat das Bedürfnis nach Gemeinschaft geschaffen:

Er hat uns als Beziehungswesen geschaffen. Wir sind zur Gemeinschaft seines Sohnes, des Herrn Jesus Christus berufen (1. Kor. 1,9), Gott hat die menschliche Gemeinschaft geschaffen (Ehe, Familie, Gemeinde) und wir sollen sie mit seiner Hilfe zu Seiner Ehre gestalten.

Seit dem Sündenfall empfinden wir allerdings schmerzliche Lücken und manches Versagen. Die Gemeinschaft unter uns ist durch die Auswirkungen des Sündenfalls beschädigt. Das erschwert es uns, in ungetrübte Gemeinschaft mit anderen zu kommen.

Deshalb dürfen und sollten wir Gott um Hilfe bitten, wenn wir (gute) Gemeinschaft vermissen, ob allein, verheiratet, geschieden, verwitwet.

Als Christ allein

Manche Christen leben allein, weil sie ledig, geschieden oder verwitwet sind. Manche stehen allein mit dem Glauben an Jesus. Das kann in Ehe und Familie, am Arbeitsplatz, am Studienort oder Ausbildungsplatz oder am Wohnort sein. Durch Verfolgung und Gefängnisstrafen gehen manche Glaubensgeschwister in der ganzen Welt ihren Weg allein.

Man kann als Christ auch die Erfahrung machen, innerlich allein zu sein, weil Keiner in der Nähe ist, der im Wort Gottes geübt oder gewachsen ist, der gelernt hat zu unterscheiden und „feste Speise“ verträgt (s. Hebräerbrief 5, 11-14).

Paulus beschreibt die traurige Erfahrung, dass er niemanden von gleicher Gesinnung hat und dass alle nur für ihre eigenen Anliegen sorgen (Philipperbrief 2,19-21). Er kannte Verlassenheit: „Bei meiner ersten Verantwortung vor Gericht stand mir niemand bei, sondern alle verließen mich; es sei ihnen nicht zugerechnet! Der Herr aber stand mir bei und stärkte mich…“  (2. Tim. 4,16-17)

Elisa betet für den verängstigten Diener, der sich dem syrischen Heer ausgeliefert und verloren sieht: „Herr, öffne ihm doch die Augen, dass er sehe!“ Was soll er sehen? „Derer, die bei uns sind, sind mehr, als derer, die bei denen sind!“ (2. Könige 6,15-17).

Jeremia, unverstanden von einem unbußfertigen Volk, angefeindet und gehasst, leidet für das Wort, bleibt trotzdem furchtlos und treu. „Ich bin der Mann, der tief gebeugt worden ist durch die Rute seines Zorns… „(Klgl. 3, 1 ff.) Ab V.21: „Dieses aber will ich meinem Herzen vorhalten, darum will ich Hoffnung fassen:…V.26: „gut ist‘s, schweigend zu warten auf das Heil des Herrn.“

Wir können daraus lernen: in Zeiten der Bedrängnis, in denen das Alleinsein sogar bedrohlich werden kann, sollen wir unser Vertrauen weiterhin unerschütterlich auf Gott setzen, der sich der Seinen annimmt und auf seine Weise zur rechten Zeit helfen wird.

David gibt uns in einigen seiner Psalmen Einblick in seine eigene Not und Einsamkeit, z.B. Psalm 31 (s. V. 11,12, 13). Er entschließt sich dann aber, seinem Gott zu vertrauen: „Aber ich vertraue auch dich, o Herr; ich habe gesagt: Du bist mein Gott! In deiner Hand sind meine Zeiten;“ er gewann wieder Aufblick ab V. 15)

Samuel Lamb, China, konnte nach 20 Jahren Haft (Straflager und Gehirnwäsche) wegen seines Glaubens sagen: „Niemals allein“[23]. Er vertraute seinem Gott unerschütterlich.

9. Einsamkeit suchen kann auch mal geboten sein!

Einsamkeit ist nicht immer negativ, denn wir brauchen auch manchmal einen bewussten Rückzug. Zum Beispiel nach einem anstrengenden Tag, wenn man sich ausgelaugt und gestresst fühlt.

Möglichkeiten dazu gibt es ja viele. Verbunden mit Bewegung und Sport am besten hinaus ins Grüne oder ins Blaue gehen. Der Aufenthalt in der Natur wirkt sich positiv auf Körper und Seele aus. Ein 90-minütiger Spaziergang soll das Grübeln reduzieren, Ängste und negative Gedanken mindern und die Kreativität fördern.

Wir dürfen über die einzigartige und wunderbare Schöpfung Gottes staunen und uns darüber freuen: über den Sternenhimmel, über Wasserfälle, Berge, Täler, Blumen und vieles mehr. Darüber hinaus können wir zur Anbetung Gottes kommen.

Das iPhone hat leider dazu geführt, dass Kinder heute viel zu wenig draußen sind. Wir können sie dazu anleiten und sie dadurch vor Einsamkeit schützen.

10. Abschließende Gedanken

  • Die Gefahr des Narzissmus als eine wesentliche moderne Ursache für Einsamkeit!
  • Selbstprüfung und lernen von dem Jünger Johannes
  • Nie allein: mit Jesus Christus Einsamkeit bewältigen aufgrund seiner Verheißungen und meines Platzes in Seiner Nähe

Narzissmus ist eine der modernen wesentlichen Ursachen dafür, an Einsamkeit zu leiden bzw. dafür gefährdet zu sein – Narzissmus im Licht des Wortes Gottes:

Wie bereits aufgeführt, kann der vor allem zeitlich intensive Umgang mit den modernen Onlinemedien und deren Plattformen dazu führen, sich viel zu viel mit sich selbst zu beschäftigen und dadurch unempfindlich für die Situation der Mitmenschen zu werden. Eine permanente Selbstbetrachtung bleibt nicht folgenlos: statt zufriedener zu werden, werden viele Zeitgenossen unzufriedener und auch einsamer. Das eigene Nabelschauhalten und das (vielleicht unbewusste) Suchen nach Selbstbestätigung und Selbstbewusstsein führt in die Sackgasse.

Was können wir aus Gottes Wort gewinnen, wenn wir uns die Frage stellen, wo wir Zufriedenheit finden und wie wir dahin kommen, dass wir uns nicht ständig mit uns selbst beschäftigen müssen oder uns in Konkurrenz zu anderen sehen?

Ich lese über den Jünger Johannes. Er schreibt über sich selbst: „Einer seiner Jünger aber, den Jesus liebte, hatte bei Tisch Platz an der Seite Jesu.“ (Johannesevangelium 13, 23; „er lehnte sich an die Brust Jesu“, V. 25). Etwas später schreibt er, wie im Zusammenhang mit der Auferstehung Jesu, Maria Magdalena zu Simon Petrus läuft und zu dem anderen Jünger, den Jesus lieb hatte.. (Joh. 20,2) -s. auch Joh. 19,26; 21,7. Er stellt sich also vor als „der Jünger, den Jesus liebte“ und als „der andere Jünger“.

Ich habe mir einmal die Frage gestellt: Hatte Jesus denn nur den Johannes lieb oder ihn sogar lieber als die anderen Jünger?

Nein, das kann nicht sein! Denn „Wie er die Seinen geliebt hatte, die in der Welt waren, so liebte er sie bis ans Ende.“ (Joh. 13,1). Er liebte alle die Seinen!

Aber Johannes lebte in engster Gemeinschaft mit dem Herrn. Er konnte sich deshalb „zurücknehmen“ (bis in seine Selbstbezeichnung hinein), weil er sich von Jesus geliebt wusste und das genügte ihm! Das prägte sein „Selbstbild“ und dann seine (Glaubens-)Praxis! Er musste sich nicht anderweitig Anerkennung verschaffen, nicht von sich reden, sich nicht in den Mittelpunkt stellen, sich nicht mit anderen vergleichen und wetteifern und zum selbstverliebten Egoisten werden. Denn das macht einsam!!

Es genügte ihm, sich als Schreiber des Johannesevangeliums „nur“ so zu nennen: „der andere Jünger“, „der Jünger, den Jesus liebhatte“. Die Nähe Jesu und das Wissen um seine Liebe reichten ihm aus.

Wenn ich mich nun selbst prüfen will, kann ich mir diese Fragen stellen:

  • Wie ist das bei mir?
  • Welche Nähe zu Jesus habe ich denn?
  • Welchen (vertrauten) Umgang mit ihm pflege ich?

Brauche ich (so viel) Anerkennung von anderen, sogar aus dem weltweiten Netz, aus dem Vergleichen mit den anderen in ihrem „Status“, ihren Profilbildern, ihrer Anzahl der „Freunde“, der „Followers“, der „Likes“, usw.? Bin ich damit so beschäftigt, dass es mich daran hindert, um selbst Gemeinschaft zu suchen oder anzubieten?

  • Bin ich zur Ruhe gekommen, weil meine Identität in Jesus gegründet ist, der mich wirklich liebt?
  • Könnte ich mit dem Psalmisten sagen: „Mir aber ist die Nähe Gottes köstlich; ich habe Gott, den Herrn, zu meiner Zuflucht gemacht.“ (Psalm 73,28)
  • Kann ich deswegen „los sein von mir selber“ und bereit sein zum Dienst, zur Gemeinschaft?

Unser Herr Jesus Christus – Verlassen von Menschen und von Gott:

Der Herr Jesus kennt Verlassenheit. In schwersten Stunden verließen ihn seine Jünger (Joh. 19, 25/ Markus 15,40).Unter dem Kreuz Jesu standen nur noch wenige Frauen und der Jünger Johannes. Bei der Gefangennahme Jesu flohen alle Jünger (Matthäus 26, 56). In Gethsemane während des Gebetskampfes Jesu schlafen alle Jünger ein (Matthäus 26, 36 ff.).

Und schließlich muss Gottes Sohn sogar die Gottverlassenheit in seinem Todeskampf erleiden! (Matthäus 27, 46).

Nie allein: Gottes zuverlässiger wahrer Zuspruch

Einsamkeit bei Christen? Ja, das ist möglich, denn Menschen können uns verlassen oder enttäuschen (und umgekehrt sind wir leider selbst in der Lage dazu, treulos oder feige zu sein), aber wir sind niemals von Gottverlassen!

Die Gottverlassenheit, wie sie der Herr Jesus Christus für uns Sünder in seinem Sterben erlitten hat, müssen wir niemals erleben. Dagegen sprechen die Zusagen, die Gott in seinem Wort garantiert. Denn er selbst hat gesagt:

„Ich will dich nicht verlassen noch versäumen!“ (Hebr. 13,5c)

„Jesus Christus ist gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit!“ (Hebr. 13,8)

„Ich bin jung gewesen und alt geworden und habe nie den Gerechten verlassen gesehen,

oder seinen Samen um Brot betteln.“ (Psalm 37,25)

Gott wird dich tragen (F. J. Crosby 1820-1915)[24]

Gott wird dich tragen, drum sei nicht verzagt,

treu ist der Hüter, der über dich wacht.

Stark ist der Arm, der dein Leben gelenkt,

Gott ist ein Gott, der der Seinen gedenkt.

Gott wird dich tragen, wenn einsam du gehst;

Gott wird dich hören, wenn weinend du flehst.

Glaub es, wie bang dir der Morgen auch graut,

Gott ist ein Gott, dem man kühnlich vertraut.

Gott wird dich tragen durch Tage der Not;

Gott wird dir beistehn in Alter und Tod.

Fest steht das Wort, ob auch alles zerstäubt;

Gott ist ein Gott, der in Ewigkeit bleibt.

Gott wird dich tragen mit Händen so lind.

Er hat dich lieb wie ein Vater sein Kind.

Das steht dem Glauben wie Felsen so fest:

Gott ist ein Gott, der uns nimmer verlässt.

 

[1] Deutschlandfunk, 23.12 2019

[2] Laut dem Sozio-ökonomisches Panel (SOEP), einer unabhängigen forschungsbasierten Infrastruktureinrichtung, 2021; zitiert in einer Meldung des Bundesministeriums für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauen, 17.06.2024

[3] In meiner Bearbeitung des Themas bezog ich mich wesentlich auf das Buch von Manfred Spitzer, Einsamkeit, die unerkannte Krankheit, 2018. Spitzer ist Psychiater und einer der bedeutendsten deutschen Gehirnforscher. In seinem Buch bezieht er sich auf eine Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten. Er betont, dass diese Studien eine hohe methodische Strenge aufweisen würden.

[4] Beispiele: Ärztezeitung, Droht mit Corona auch eine Pandemie der Einsamkeit? 19.10. 2020; Stern, Einsamkeit im Corona-Lockdown, 1.7. 2020; Frankfurter Rundschau; Depression und Einsamkeit, 7.11. 2023; GEO, Einsame Menschen haben ein höheres Sterberisiko, 19.6. 23; Neue Westfälische Rundschau, Bielefelder Projekt will einsame Menschen aus ihrer Isolation holen, 11.6. 2023; WDR, Einsamkeit der Jugend – was kann die Landesregierung tun? 29.11. 2023; ARD alpha, Die Zahl einsamer Menschen in der BRD steigt, 13.12. 23; Deutschlandfunk Kultur, Was tun gegen Einsamkeit? 18.6. 2024; Tagesschau, Corona hat einsamer gemacht – vor allem Jüngere, 30.5. 2024

[5] Tagesschau, 13.12. 2023: Die Bundesregierung will gegen Einsamkeit vorgehen

[6] www.bundesregierung.de, 12.06. 2024

[7] In der Sendung „Nachtcafé“ am 21.06. 2024 mit dem Thema „Was von Corona bleibt“ berichtete ein betroffener Vater, dass eins seiner Kinder aufgrund der Schulschließung und der Kontaktverbote eine Depression entwickelte und magersüchtig wurde.

[8] Dazu zählen: Facebook, Twitter, WhatsApp, Youtube, Instagram, Snapchat

[9] Spitzer, 2018, S. 17 ff.

[10] Lt. dem Kompetenznetz Einsamkeit (KNE)

[11] Narzissmus: maßlose Ichbezogenheit, Selbstverliebtheit

[12] Spitzer, Einsamkeit, Die unerkannte Krankheit, S. 21 f.

[13] Veröffentlichte Studie im American Journal of Preventive Medicine, 2017, auf der Grundlage einer für die  USA  repräsentativen Studie von 1787 Erwachsenen im Alter von 19-32 Jahren. Es wurde darin der Zusammenhang zwischen dem Erleben von Einsamkeit und der Nutzung von Onlinemedien untersucht -zitiert in: Spitzer, 2018, S. 133

[14] Das Deutsche Schulportal der Robert-Bosch-Stiftung veröffentlichte am 2.4.2024 aus einem Bericht der WHO (veröffentlicht Ende März 2024), dass jedes 6. Schulkind von Cybermobbing betroffen ist.

[15] Spitzer, 2018, S. 46 f.

[16] Sozial isolierte Kinder“, eine Neuseeländische Längsschnittstudie (Herbst 1972-Frühjahr 1973): in einer Stadt wurden alle Neugeborenen erfasst (1037 Babys). Bis zu ihrem 26. Lebensjahr wurden diese im Rahmen einer Studie in Abständen von einigen Jahren immer wieder aufgesucht, befragt und teilweise untersucht, um festzustellen, wie es ihnen geht und wie sich ihr Leben entwickelt- zitiert in: Spitzer, 2018, S. 150-151

 

[17] Factum 5/ 2023, S. 31, Schwengeler Verlag AG

[18] Soziologen House/ Landis, beide University of Michigan, Soziologin Umberson, University of Texas: Social Relationships and Health, veröffentlicht im Fachblatt Science, 1988; zitiert in: Spitzer, Einsamkeit, die unerkannte Krankheit, 2018, S. 161

[19] factum 5/ 2023, S. 31, Schwengeler Verlag AG

[20] S. Spitzer, 2018, S. 166

[21] s. Spitzer, 2018, S. 194-196

[22] s. Spitzer, 2018, S. 195

[23] Ken Anderson, Niemals allein, clv Verlag

[24] Fanny Crosby erblindete als Kind. Ihr Anliegen war es, Gott mit ihrem Leben zu dienen. Sie schrieb viele Gedichte und Lieder bis ins hohe Alter. Sie ging oft in Gefängnisse. „Gott wird dich tragen“, das war ihre eigene Erfahrung. Darum konnte sie für andere da sein.

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Körperliche Ursachen psychischer Störungen

Körperliche Ursachen psychischer Störungen

Unspezifische Verhaltens- und Stimmungsänderungen sind oft das erste und manchmal für längere Zeit das einzige und ausschließliche Anzeichen für eine unerkannte körperliche Erkrankung. Durch ihre offensichtliche und überzeugende „psychologische“ Natur und Präsentation führen solche maskierten körperlichen Zustände den Arzt häufig in die Irre und verhindern so jede weitere medizinische (d.h. somatische) Untersuchung, was zu Fehldiagnosen und damit zwangsläufig zu einer fehlgeleiteten Behandlung führt.

Erwin Koranyi (1924 – 2012), kanadischer Psychiatrieprofessor

Depressionen, Psychosen, Zwänge, Ängste und Panik – was ist die Ursache all dieser und anderer psychischen Störungen? Die Antwort auf diese Frage ist nicht so eindeutig, wie viele es sich wünschen würden. Manche sind überzeugt, dass die Ursache psychischer Probleme in den Sünden der Leidenden oder ihrer mangelhaften Gottesbeziehung liegt, andere orten sie in unverarbeiteten Konflikten der Kindheit, erlittenen Traumata, negativen Einflüssen der Umwelt, den Genen oder in einem Ungleichgewicht der Neurotransmitter.

Der Mensch ist ein komplexes Geschöpf, der zudem auch noch Teil sozialer Systeme wie Familie und Gesellschaft ist. Er ist eine Einheit aus Körper und Geist-Seele (1Mo 2,7), die sehr eng miteinander verbunden sind und sich gegenseitig beeinflussen. Diese einfachen Feststelllungen deuten schon darauf hin, dass es viele verschiedene mögliche Ursachen psychischer Störungen gibt. Der Einfluss der Seele (gr. Psyche) auf den Körper (gr. Soma) ist den meisten gut bekannt und wird auch in der Bibel bezeugt (z. B. Spr 17,22; Ps 32,3). Mit dieser Thematik beschäftigt sich die medizinische Fachrichtung der Psychosomatik. Es gibt jedoch in umgekehrter Richtung auch den Einfluss des Körpers auf den Geist, der weniger gut bekannt ist. Dieser spezielle Zusammenhang und sein Einfluss auf die seelische Gesundheit soll der Gegenstand dieses Artikels sein.

Mögliche Ursachen psychischer Störungen
Über die Ursache(n) psychischer Probleme gibt es unter Christen sehr unterschiedliche Meinungen. In der modernen Psychiatrie dominiert ein biologisches Modell psychischer Störungen. Dieses Modell konzentriert sich auf die Gene, die Morphologie und die Neurochemie des Gehirns („Ungleichgewichte“ von Neurotransmittern wie Serotonin, Dopamin und Glutamat). Jedoch haben weder das Humangenomprojekt (1990-2003), die Dekade des Gehirns (1990-1999), noch die Einführung moderner bildgebender Verfahren (MRI/MRT, PET, SPECT) das Rätsel der Ursachen psychischer Störungen lösen können.

Der amerikanische Psychiater Dr. Thomas Insel war von 2002 bis 2015 Direktor des Nationalen Instituts für seelische Gesundheit der USA (NIMH), der weltweit grössten Forschungsorganisation für psychische Erkrankungen. In einem Interview im September 2015 sagte er: „Ich habe 13 Jahre am NIMH verbracht, um die Neurowissenschaften und die Genetik psychischer Störungen voranzubringen, und wenn ich zurückblicke, stelle ich fest, dass es mir zwar gelungen ist, eine Menge wirklich cooler Publikationen von coolen Wissenschaftlern zu veröffentlichen, und das zu ziemlich hohen Kosten – ich glaube, 20 Milliarden Dollar -, aber ich glaube nicht, dass wir die Nadel bei der Reduzierung von Selbstmorden, der Verringerung von Krankenhausaufenthalten und der Verbesserung der Genesung von Millionen von Menschen mit psychischen Erkrankungen bewegt haben.“ Das ist ein ziemlich ernüchterndes Fazit. Tatsächlich gibt es bis heute keine biologischen, chemischen oder physikalischen Tests, die eine psychische Störung mit ausreichender Zuverlässigkeit diagnostizieren können. In der Praxis ist es daher üblich, dass ein Psychiater aufgrund eines Gesprächs eine Diagnose stellt. Umfangreiche Laboruntersuchungen, bildgebende Verfahren, genetische Analysen usw. werden in der Regel nicht durchgeführt.

Das triadische System der deutschen Psychiatrie teilt die psychischen Störungen nach den folgenden drei möglichen Ursachen ein:
1. Endogen („im Inneren erzeugt“, bisher unbekannte Ursache, genetische Komponente wird vermutet)
2. Psychogen („in der Psyche begründet“, oft auch neurotisch oder reaktiv genannt)
3. Exogen („durch äussere Einflüsse entstehend“, körperlich/somatisch/organisch bedingt)

Zur ersten Gruppe gehören die endogenen Psychosen (melancholische Depression, Manie, bipolare Störungen und Schizophrenien), deren Ursachen noch nicht bekannt sind, man aber von einer organischen Erkrankung ausgeht.

Störungen mit einer exogenen Ursache beruhen auf körperlichen Erkrankungen (nicht nur des Gehirns). Dies ist der Fokus dieses Beitrags. In der Geschichte der Psychiatrie waren die Entdeckungen zur Neurosyphilis grundlegend, da dadurch erstmals eine psychische Krankheit auf eine somatische Ursache (nämlich der Infektion des Gehirns mit dem Bakterium Treponema pallidum) zurückgeführt werden konnte. Eine weitere wichtige Entdeckung auf diesem Gebiet war die Verursachung einer Psychose durch den Mangel eines Vitamins (Niacin/Vitamin B3), der sog. Pellagrapsychose. In dem von der WHO herausgegebenen und bei uns verbindlichen Diagnosemanual ICD-10 werden im Kapitel V, Gruppe F00-F09 (besonders F06 und F07, siehe auch die Einträge unter F02.8), „Organische psychische Störungen“ vorgestellt, die für uns von Interesse sind und eine passende Diagnose bzw. Klassifizierung erlauben. Das Wissen über die körperlichen Ursachen ist also vorhanden, kommt jedoch in der Praxis oft nicht zur Anwendung.

Die psychogenen Ursachen seelischer Störungen sind sehr vielfältiger Natur (z. B. eine schwierige Kindheit, belastende Lebensumstände, Stress, Verluste, Beziehungsprobleme, erlittene Traumata).  Die Persönlichkeit/das Temperament der Betroffenen spielt auch eine wichtige Rolle. Auch Auswirkungen der modernen Gesellschaft wie fehlende Beziehungen und Einsamkeit, übermässige Beschäftigung mit elektronischen Medien, ungesunde Ernährung („Fastfood“) oder Schlafmangel sind mögliche Gründe. Das Aussehen solcher psychogen verursachter Störungen umfasst die ganze Breite der psychiatrischen Krankheitsbilder. Zu dieser Gruppe gehört die Mehrzahl der auftretenden psychischen Störungen.
Sogar schizophrenieähnliche Krankheitsbilder können psychogen verursacht werden. In der Regel treten diese Krankheitsbilder spontan auf, dauern nur wenige Wochen und haben bei Elimination der auslösenden Faktoren eine gute Prognose.

In der Psychiatrie hat man vor etwa 40 Jahren die Diagnose psychischer Störungen auf das Vorhandensein bestimmter Symptome (ohne Berücksichtigung der Ursache) umgestellt. Dies ist mit verschiedenen Risiken verbunden, da psychiatrische Symptome unspezifisch sind. So können ganz verschiedene Ursachen wie z. B. ein Karzinom, ein Vitaminmangel oder der Tod eines Kindes das gleiche Krankheitsbild einer Depression hervorrufen. Auf der anderen Seite ist es so, dass eine bestimmte Ursache, z. B. Syphilis, ganz verschiedene psychiatrische Krankheitsbilder verursachen kann. Dies deutet schon die Wichtigkeit einer sorgfältigen internistisch-neurologischen Untersuchung zur Abklärung der möglichen Ursache an.

Eine Fallgeschichte
Um die Relevanz und Wichtigkeit des Erkennens der wahren Ursache einer psychischen Störung besser zu verstehen, wollen wir uns nun eine wahre Krankengeschichte vor Augen führen (Lamparter 2018). Ein verheirateter 40-jähriger Verkaufsleiter leidet seit 15 Jahren an ausgeprägten Kopfschmerzen, zeitweisem Schwindel und seit 5 Jahren an einer Abgeschlagenheit, die ihn bei der Ausübung seines anspruchsvollen Berufs behindert. Seine Stimmung ist ängstlich-depressiv. Der Patient ist als Einzelkind, dessen Eltern sich im Alter von 4 Jahren scheiden liessen und ist unter schwierigen Umständen aufgewachsen. In der Berufswelt hatte er wiederholt Probleme mit Autoritätspersonen. Eine internistische Abklärung ist ohne Befund. Von einem Neurologen, der seine Kopfschmerzen erfolglos behandelt hat, wird er zur Psychotherapie überwiesen, die er jedoch nach 9 Sitzungen abbricht. Die Diagnose lautet „Chronische Kopfschmerzsymptomatik bei Autonomiekonflikt und selbstunsicherer Persönlichkeit“. Eine weitere, später durchgeführte erfolglose Psychotherapie wird nach 22 Sitzungen vom Patient abgebrochen. Starke einschiessende Schmerzen wurden vom Psychotherapeuten als „Aufschrei der Seele“ interpretiert. Der Chefarzt einer Schmerzklinik stelle aufgrund einer „bizarren Schmerzschilderung“ gar die Diagnose einer Schizophrenie. 8 Jahre nach dem ersten Arztbesuch hat sich die gesundheitliche Situation körperlich und psychisch sehr verschlechtert. Der Patient ist bettlägerig und berentet. Eine erneute umfassende medizinische Untersuchung zeigt nun die Ursache all der verschiedenen körperlichen und psychischen Symptome: Neurosyphilis. Nach all den Leidensjahren, von denen er die meisten auf der „Psychoschiene“ war, starb der Patient an seiner Syphilisinfektion. Diese wäre in den ersten Jahren seiner Erkrankung sehr gut behandelbar gewesen.
Wie obige Fallgeschichte zeigt, kann die Fehldiagnose einer körperlichen Erkrankung als psychogen („Psychogener Fehler“) schwerwiegende Folgen haben.

Mögliche körperliche Ursachen psychischer Störungen
Im Prinzip kann jede Krankheit oder Substanz, die im Gehirn einen pathologischen Zustand erzeugen kann, eine psychische Störung hervorrufen.
Wie die untenstehende Auflistung andeutet, gibt es eine sehr grosse Zahl an möglichen körperlichen Ursachen psychischer Probleme. Fast alle Medikamente (insbesondere wenn man mehrere gleichzeitig nimmt) können bei prädisponierten Menschen psychische Probleme verursachen, dies gilt insbesondere für Ältere. Unter den Medikamenten sind diejenigen mit einer anticholinergen Wirkung besonders problematisch (es ist eine gewisse Ironie, dass auch manche Psychopharmaka zu dieser Gruppe gehören). Auch viele „normale“ Erkrankungen können psychische Störungen verursachen. Nun werden sich sicher manche die Frage stellen, warum diese Krankheiten nicht behandelt werden und dadurch die psychischen Probleme gar nicht erst entstehen oder wieder verschwinden. Oft ist es so, dass psychische Symptome die ersten Anzeichen sind und die eigentliche körperliche Erkrankung mit ihrer typischen Symptomatik sich erst viel später manifestiert. Hausärzte haben oft eine nicht ausreichende Kenntnis auf dem Gebiet der somato-psychischen Medizin. Dadurch werden wichtige Labortests und andere Untersuchungen nicht angefordert und so das grundlegende Problem nicht erkannt. Psychiater und Psychotherapeuten führen in der Regel keine körperlichen Untersuchungen durch und vertrauen darauf, dass alles Nötige schon vom Hausarzt oder dem überweisenden Arzt abgeklärt wurde. Auch legen sie ihr Hauptaugenmerk auf die psychiatrischen Symptome, die jedoch leider keinen Rückschluss auf die Ursache zulassen. Die ausgeprägte Spezialisierung in der Medizin (statt einer gesamtheitlichen Betrachtung des Menschen) und die jetzige Situation in der medizinischen Versorgung mit langen Wartezeiten und einem zeitlich nur kurzen Kontakt mit dem Arzt tragen zu dieser Misere bei.

Körperliche Erkrankungen, die psychische Störungen hervorrufen können
Die untenstehende Auflistung zeigt eine Übersicht der möglichen Ursachen psychischer Störungen mit einigen Beispielen. Weitere körperliche Krankheiten und die am häufigsten von ihnen verursachten psychischen Symptome werden im Anhang gezeigt. Die Anzahl der möglichen Ursachen ist sehr gross und füllt ganze Bücher. So wurden z. B. für die Symptomatik einer Depression hunderte möglicher körperlichen Ursachen beschrieben.

Hirntumore, Hirnabzess, Schädel-Hirn Trauma
Epilepsien (Temporallappenepilepsie)
 – Endokrine Erkrankungen (Schilddrüse, Nebenschilddrüse, Nebenniere)
Gehirnentzündungen (Bakterien, Viren, Pilze, Protozoen, Würmer, Autoimmun)
Erbkrankheiten (Chorea Huntington, Morbus Wilson, Porphyrie)
Elekrolytstörungen (Hyponaträmie)
Krebs (Pankreas, Lunge, Brust, Eierstock, Prostata, Hypophyse)
Mangelzustände (Eisen, B-Vitamine, Mineralien, Spurenelemente)
Intoxikationen (Schwermetalle, Organische Gifte)
Medikamente (Fluorchinolon-Antibiotika, Isoretinoine, Kortison, „Antibabypille“)
Autoimmunerkrankungen (Lupus, Multiple Sklerose, Hashimoto, Diabetes Typ I, Zöliakie)
Allergien/Unverträglichkeiten (Fruktose-, Laktoseintoleranz)
Organerkrankungen (Herz, Niere, Leber, Pankreas)
Neurologische Erkrankungen (Multiple Sklerose, Parkinson, Demenz)
Infektionen (Influenza, Syphilis, Borreliose, HIV, Herpes-Viren, Toxoplasmose)

In den letzten Jahren wurde die Wichtigkeit von Autoimmun-Gehirnentzündungen (Enzephalitiden) ohne begleitende neurologische Auffälligkeiten als Ursache von schwerwiegenden Erkrankungen wie Psychosen, Depressionen, Bipolaren Störungen und Zwangsstörungen erkannt und erfolgreich mit immunsuppressiven Therapien behandelt.
Für das Krankheitsbild einer Schizophrenie wird eine Vielzahl organischer Ursachen beschrieben (Tebartz van Elst 2021), was für Betroffene ganz neue Möglichkeiten der Behandlung und ursächlichen Heilung aufzeigt. Auch Infektionen des Gehirns mit allen möglichen Erregern können die verschiedensten psychischen Störungen hervorrufen (Niehaus 2021), die dann nicht mit Psychopharmaka, sondern mit Antibiotika, Virostatika u. ä. behandelt werden sollten. Hier sollte z. B. an eine Borreliose und an Syphilis, die wieder auf dem Vormarsch ist, gedacht werden.

Wie gross ist das Ausmass dieser Problematik?
Die Psychiater Koranyi & Potoczny haben 1998 eine Übersichtsarbeit publiziert, in der sie 21 Studien über die Häufigkeit körperlicher Erkrankungen bei Psychiatriepatienten aus den Jahren 1937 bis 1991 ausgewertet haben. Bei insgesamt 9200 Patienten wurde bei einer unabhängigen Untersuchung bei 50% eine körperliche Erkrankung festgestellt. Bei 58% dieser Patienten war die Diagnose vorher nicht bekannt und bei 27% hatte die körperliche Erkrankung eine direkte Beziehung zum psychiatrischen Krankheitsbild. Es bestand also bei ca. 14% (dieser Wert umfasst bei den o. g. 21 Studien den Bereich von 7 bis 37%) der psychiatrischen Patienten eine körperliche Erkrankung, die nachträglich als Ursache des psychiatrischen Krankheitsbildes identifiziert wurde. Die meisten dieser Patienten waren stationär in psychiatrischen Kliniken untergebracht. Unter Beachtung der Tatsache, dass früher moderne bildgebende Verfahren (MRT, CT) und manche Labormethoden noch nicht verfügbar waren, ist die mittle Häufigkeit von 14% wohl nach oben zu korrigieren. Auch ist zu berücksichtigen, dass die Verursachung psychiatrischer Krankheitsbilder durch Autoimmun-Entzündungen des Gehirns erst im Jahr 2007 entdeckt wurde. In diesem Sinn wird der Anteil körperlich bedingter psychischer Störungen immer grösser und aus psychiatrischen „Fällen“ werden solche für die Neurologie oder Innere Medizin.

Hinweise auf eine körperliche Ursache
Wenn mit dem Auftreten von psychischen Symptomen die folgenden Beobachtungen oder Bedingungen vorhanden sind, oder diesen vorausgehen, sollte immer an eine körperliche Ursache der psychischen Störung gedacht werden und eine entsprechende medizinische Untersuchung veranlasst werden.

Optische/visuelle Halluzinationen
Erhöhte Körpertemperatur
Neurologische Symptome (Bewegung, Sprache, Kognitive Probleme, Bewusstseinstrübung)
Höheres Alter (ohne frühere psychische Probleme)
Einnahme von Medikamenten oder Drogen
Einseitige Ernährung (vegetarisch, vegan, „Fastfood“)
Ungewöhnliche Kopfschmerzen
Plötzliche Verhaltensänderung
Steifer Nacken
Geschmacksverlust
Plötzliche Angst vor Auslöschung der Existenz

Häufige Ursachen psychischer Störungen
Es gibt einige körperliche Ursachen, die relativ häufig vorkommen und mit wenig Aufwand und Kosten abgeklärt werden können. Der Hausarzt kann die entsprechenden Laboruntersuchungen veranlassen. Triviale Faktoren wie Schlaf- und Bewegungsmangel, Übergewicht, übermässiger Konsum von koffeinhaltigen oder alkoholischen Getränken, usw. sollten nicht vergessen werden.
Ein Eisenmangel kommt, insbesondere bei menstruierenden Frauen, relativ häufig vor. Solch ein Eisenmangel darf nicht mit einer Anämie (Hämoglobinwert/Hb erniedrigt) verwechselt werdet, die einen schwerwiegenderen Zustand darstellt. Eine Anämie kann verschiedene Ursachen haben, die immer abgeklärt und entsprechend behandelt werden sollten. Bei einem Eisenmangel können psychische Symptome auftreten, obwohl der Hb-Wert noch im Normalbereich liegt. Laboranalytisch sollten der Ferritinwert (Soll: > 80 µg/l) und die Transferritinsättigung (Soll: >30 %) bestimmt werden. Des Weiteren ist eine gute Funktion der Schilddrüse für die psychische Gesundheit von grosser Wichtigkeit. Sowohl eine Unter- (Hypothyreose) als auch eine Überfunktion (Hyperthyreose) gehen oft mit psychiatrischen Symptomen einher. Hier bringen die Laborwerte TSH (Soll: 0.4 – 2.5 mU/l), fT3 und fT4 Klarheit. Auch die Funktion der Nebenniere sollte überprüft werden. Dies geschieht am besten mit einem Cortisol-Tagesprofil, das einfach mit 3-4 Speichelproben erstellt werden kann. Zur Abklärung von (unerkannten) Autoimmunerkrankungen sollten ein ANA-Test (Antinukleäre Antikörper) gemacht werden. Weiterhin werden Laboranalysen der B-Vitamine (insbesondere B1, B3, B6, B12 und Folsäure) empfohlen. Routineuntersuchungen wie das Blutbild, Elektrolyte, Gesamteiweiss, Nieren- und Leberwerte und CRP/Blutsenkung stellen eine notwenige Ergänzung dar.

Was ist zu tun?
Wenn eine psychische Störung so schwerwiegend ist, dass eine stationäre Behandlung nötig ist, mit grossem Leid verbunden ist, oder hartnäckig über längere Zeit bestehen bleibt, sollte eine umfassende somatische Untersuchung veranlasst werden. Dies ist auch bei jedem erstmaligen Auftreten einer Psychose angezeigt.
Neben einer ausführlichen Anamnese sollte eine körperliche Untersuchung, umfassende Laboranalysen von Blut und Liquor (Nervenwasser), ein MRT (oder CT) des Kopfes, und ein EEG gemacht werden.
Wir wollen dabei nicht aus den Augen verlieren, dass in den meisten Fällen von psychischen Problemen psychogene, und nicht endogene oder körperliche Ursachen vorliegen.

 

Literaturverzeichnis

Tebartz van Elst, Vom Anfang und Ende der Schizophrenie. Eine neuropsychiatrische Perspektive auf das Schizophrenie-Konzept. Kohlhammer 2021
Eine ausführliche Buchrezension findet man hier:
https://biblische-seelsorge.org/2019/02/22/rezension-vom-anfang-und-ende-der-schizophrenie/

Bock, Das entzündete Gehirn – wenn der Körper die Seele krank macht. Die versteckte Ursache von Depressionen, Angststörungen und anderen psychischen Erkrankungen bei Jugendlichen verstehen und behandeln. Riva 2022

Bullmore, Die entzündete Seele. Ein radikal neuer Ansatz zur Heilung von Depressionen. Goldmann 2019

Lamparter & Schmidt, Wirklich psychisch bedingt? Somatische Differenzialdiagnosen in der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie. Schattauer 2018

Morrison, Der zweite Blick: Psychische Störungen als Symptome somatischer Krankheiten. Hogrefe 2000 (nur noch über Fernleihe erhältlich, englisches Original siehe nächster Eintrag)

Morrison, When Psychological Problems Mask Medical Disorders. Guilford Publications 2015

Welch, Ist das Gehirn schuld? 3L-Verlag 2004

Kasten, Somatopsychologie. Körperliche Ursachen psychischer Störungen von A bis Z.
Ernst Reinhardt Verlag 2010

Kapfhammer, Depression, Angst, traumatischer Stress und internistische Erkrankungen. Eine psychosomatische und somatopsychische Perspektive. Springer 2023

Niehaus & Pfuhl, Die Psycho-Trojaner. Wie Parasiten uns steuern. Hirzel 2021

Dilling, Mombour & Schmid, Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD–10 Kapitel V (F). Hogrefe 2015
Eine Onlineversion kann hier eingesehen werden:
https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2020/chapter-v.htm

In englischsprachiger Sprache gibt es eine umfassende und detaillierte Literatur zu dieser Thematik. Empfehlungen auf Nachfrage.

 

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