Problematik eines Kernbegriffs für die aktive Sterbehilfe

Seit Jahrzehnten werden Fragen rund um Sterbehilfe kontrovers diskutiert.[1] Zuletzt bekam die Debatte durch die Entscheidung zur Legalisierung des assistierten Suizids Aufwind für die Sterbehilfsorganisationen. Während das Bundesverfassungsgericht über die Autonomie des Menschen argumentiert (dazu später mehr)[2], wird allgemein hin über das Leiden der Patienten argumentiert. Dieses Leiden, so die Befürworter der aktiven Sterbehilfe, sei unerträglich und müsse daher – aus Liebe zu den Patienten – aktiv beendet werden. Jeder wünscht dem Anderen (und genauso sich selbst), dass er eines Tages im hohen Alter zu Hause „ruhig einschlafen“ wird. Friedlich soll der Tod sein. Dem gegenüber steht der einsame, unerträglich qualvolle Tod in einem sterilen Krankenhaus, bei dem keine palliativmedizinische Intervention mehr Linderung verschaffen kann. Wer möchte dem nicht vorsorglich entgegen wirken? Der Verein DIGNITAS schreibt in seiner Informationsbroschüre: „Im Fall von ärztlich diagnostizierten hoffnungslosen oder unheilbaren Krankheiten, unerträglichen Schmerzen oder unzumutbaren Behinderungen bietet DIGNITAS seinen Mitgliedern die Möglichkeit eines begleiteten Freitods an.“[3] Die Niederlande oder Österreich knüpfen den Zugang zum assistierten Suizid an das Vorliegen eines solchen unerträglichen Leides. Doch es gibt einige Gründe, warum diese Bedingung als Gradmesser für die gesellschaftliche Akzeptanz des Suizids unzureichend ist. Diese sollen nun herausgearbeitet werden.

Definition „Leid“

nach Prof. Eric J. Cassel: „Ganz allgemein lässt sich Leiden als ein Zustand schwerer Not definieren, der mit Ereignissen einhergeht, die die Unversehrtheit der Person bedrohen.“

Definition „unerträgliches Leid“

nach Prof. Dr. phil. Claudia Bozzaro: „Die individuelle und subjektiv empfundene Intensität von Symptomen oder Situationen, deren andauerndes Empfinden bzw. Erleben so belastend ist, dass sie von einem Patienten nicht akzeptiert werden kann.“

Die Mehrdimensionalität des Leids

Zuerst müssen wir ein Schlaglicht auf den Begriff „Leid“ werfen, um sein Bedeutungsspektrum zu verstehen. Der Arzt Prof. Eric J. Cassel definierte Leid im New England Journal of Medicine wie folgt: „Ganz allgemein lässt sich Leiden als ein Zustand schwerer Not definieren, der mit Ereignissen einhergeht, die die Unversehrtheit der Person bedrohen.“[4] In einem Artikel arbeitet der Autor anhand vieler Beispiele heraus, dass Leid mehr umfasst als nur körperliches Leid. Leid ist auch nicht mit Schmerzwahrnehmung identisch, obgleich diese durchaus eine Teil-menge des wesentlich umfassenderen Begriffs „Leid“ beansprucht. Leid und Schmerz müssen nicht unbedingt zusammenfallen. Der sprichwörtliche „Herzschmerz“ zielt gerade auf diese geistige/seelische Dimension (Psyche) des Leidens ab, die sich nicht zwingend auf den Leib (Physis) auswirken muss – aber kann. Auf der anderen Seite kann diskutiert werden, ob ein kurzer, leichter (körperlicher) Schmerz wirklich Leid (je nach Definition des Leidensbegriffs) verursacht. Nach der oben angeführten Definition würde der geneigte Leser zustimmen, dass ein akzidenteller Tritt gegen den Türrahmen nicht zwingend die Unversehrtheit einer Person bedroht. Der Grund des Leidens muss auch nicht zwingend in der leidenden Person selbst liegen. Eine Witwe, die gerade ihren Ehemann verloren hat, kann durchaus stark leiden, auch wenn sie selbst körperlich gesund ist. Es ist naheliegend, dass auch die möglicherweise vorangegangene Krankheitsbegleitung starkes Mit-Leiden verursachen kann. Leid überfällt den (Mit-)Leidenden also nicht nur von innen, sondern kann auch von außen (z. B. durch die Angehörigen) über ihn gebracht werden. Diese Vielschichtigkeit des Leid-Begriffs[5] erschwert die Erfassung durch eine umfassende Begriffsdefinition. Das tut dieser Untersuchung keinen Abbruch, denn das Ziel besteht nicht in einer feinkörnigen Austüftelung des Leidens-Begriffs. Es soll jedoch darauf hingewiesen werden, dass „Leid“ über die leibliche Dimension (u. a. Leiden durch Krankheit) hinausgeht. Daraus ergibt sich schon jetzt, dass die Beurteilung eines individuellen Leidens erschwert wird. Mit diesem weiten Leidensbegriff im Blick müssen wir uns jetzt der „Unerträglichkeit“ zuwenden.

Die Problematik der Unerträglichkeit

Unerträgliches Leid steht erträglichem Leid gegenüber. Wenn also Leid auch erträglich sein kann, wirft das unmittelbar die Frage auf: Wann ist Leid unerträglich? Und: Wie viel Leid kann man ertragen? Diese Grenzziehung ist zentral, wenn man sie – wie z. B. in den Niederlanden – zur Legitimation assistierten Suizids gebrauchen will. Die Medizinethikerin Prof. Dr. phil. Claudia Bozzaro führt in ihrer Ausarbeitung über den Leidens-Begriff eine der wenigen auffindbaren Definitionen über unerträgliches Leiden an. Es sei „die individuelle und subjektiv empfundene Intensität von Symptomen oder Situationen, deren andauerndes Empfinden bzw. Erleben so belastend ist, dass sie von einem Patienten nicht akzeptiert werden kann.“[6] Durch diese Definition wird die Subjektivität der Beurteilung eines Leidens als „unerträglich“ sehr deutlich.

Eine objektive Bewertung eines subjektiven Leidens ist kaum möglich.

Hinzu kommt nach Bozzaro die „fehlende Eindeutigkeit“, weil unklar ist, „welche Symptome oder Situationen als unerträgliche Leiderlebnisse zu fassen sind. Analog zur Indikation für einen ärztlich assistierten Suizid und der Tötung auf Verlangen ist auch in der palliativmedizinischen Praxis seit einigen Jahren ein Trend der Verschiebung und Erweiterung zu verzeichnen: von der Indikation aufgrund körperlicher Symptome (Dyspnoe, Delir, Schmerz, Übelkeit) hin zu psychosozialen und existentiellen Leiderlebnissen. Unter psycho-existentiellen Leiderlebnissen werden dabei in der Literatur u. a. angegeben: ein Gefühl von Sinnlosigkeit, die Angst, anderen zur Last zu fallen, Abhängigkeit, Angst vor dem Tod, der Wunsch, den Zeitpunkt des eigenen Todes selbst zu bestimmen, Kontrollverlust und Einsamkeit sowie ein Gefühl von Isolation […].“[7]
Nun wird die oben genannte zentrale Grenzziehung in der Praxis problematisch und herausfordernd. Diese wäre aber notwendig, wenn Außenstehende in den Entscheidungsprozess mit einbezogen werden.
Die konsequente Fortführung der Idee, dass es ein Subjekt ist, das – individuell eingeschätzt – „unerträglich“ leidet, lässt unvermeidlich folgenden Schluss zu: Der assistierte Suizid kann nicht auf „todkranke“, alte Patienten beschränkt sein. Denn es ist ja nicht von vornherein auszuschließen, dass ein junger Mensch sein Leid als ebenso unerträglich einschätzt. Liebeskummer zum Bei-spiel kann durchaus höchst leidvoll sein. Die Endstrecke des Argumentationswegs über das „unerträgliche Leid“ führt unmittelbar über den Suizid schwerkranker, physisch Leidender hinaus. Dann wird – zugespitzt formuliert – die Sterbehilfe für alle geöffnet, die unbedingt sterben wollen (wie es bspw. am Präzedenzfall der Beneluxstaaten erkennbar ist[8]).
Das Bundesgesundheitsministerium öffnet daher in seinem „Entwurf […] der freiverantwortlichen Selbsttötungsentscheidung den assistierten Suizid für jede Person, die a) volljährig ist oder die Genehmigung des Familiengerichts eingeholt hat.‘“[9] Der assistierte Suizid soll also jeder Altersgruppe unabhängig von den Umständen ermöglicht werden. Das führt einem erneut vor Augen, wie weit-reichend das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Februar 2020 war. Mit ihrem Urteil öffneten die Verfassungsrichter auf einen Schlag die Tür für den gesellschaftlich akzeptierten und geschäftsmäßig geförderten Suizid aller Menschen, jeder Altersgruppe, solange der jeweilige Mensch sich nur autonom dazu entschließt. Deshalb soll es nach diesem Gesetzesentwurf in § 217 heißen, dass: „1. die zur Selbsttötung entschlossene Person c) ihren Willen frei und unbeeinflusst von einer akuten psychischen Störung gebildet hat und nach dieser Einsicht handeln kann.“[10] Sobald das sichergestellt wird, ist assistierter Suizid erlaubt. Der Staat muss also nur noch gewährleisten, dass die Entscheidung des suizid-willigen Individuums wirklich autonom getroffen wurde: „Diese Gefahren aufgreifend werde ein legislatives Schutzkonzept unterstützt und die Bedeutung der Suizidprävention, der Palliativ- und Hospizversorgung und der Vermeidung von sozialem Druck herausgestellt.“[11] Zusammenfassend muss der suizidwillige Mensch nur noch zweierlei sein: Autonom und entschlossen. Folglich geht die Diskussion von den unerträglichen Leidensumständen eines schwerstkranken Menschen aus und endete schließlich ohne dieselben. Und dies wird dann zu guter Letzt auch noch als Schutzkonzept deklariert – aber nicht für das Leben, sondern für die Autonomie. Dadurch wird der Staat zunehmend zum Protektor einer verabsolutierten Autonomie und opfert dafür den Schutz des Lebens.[12]

Die Fokusverschiebung der Debatte

Die Diskussion um die aktive Beendigung des Lebens aufgrund unerträglichen Leids mündet also zwangsläufig in die Autonomie des Einzelnen. Grund dafür ist, dass das Argument, man wolle den unerträglich leidenden Patienten erlösen, nicht herhalten kann, um assistierten Suizid zu begründen. „Unerträgliches Leid“ funktioniert nicht als Maßstab für die Regulierung des geschäfts-mäßigen[13], assistierten Suizids. Dieses „Ursprungsargument“ ist nicht brauchbar, da es bei genauerer Analyse (wie oben gezeigt) viel zu vage ist und gezielte Fragen nicht beantworten kann. Deshalb kann und sollte dieser Maßstab nach der Legalisierung des geschäftsmäßigen Suizids nicht in die allgemeine Gesetzgebung mit ein-bezogen werden. In der öffentlichen Debatte ging es aber um die sterbenskranken Menschen.[14] Es ging ursprünglich nicht darum, dass gesunde Menschen, wenn sie sich dazu autonom entscheiden, sich das Leben nehmen können. Darum geht es aber nun im letztlich entscheidenden Urteil des BVerfG. Dieses argumentiert über die Wahrung der Autonomie des Menschen. Entsprechend kann der Zugang zum assistierten Suizid nicht auf eine ausgewählte Gruppe beschränkt bleiben. Deshalb wird der assistierte Suizid konsequent für alle geöffnet. Die Ursprungsargumentation hat für die praktische Gesetzgebung ihre Relevanz verloren.
Es geht in der Umsetzung dann nicht mehr um das Leid des Einzelnen, sondern nur noch um die autonom beschlossene Sterbewilligkeit. Und wem mag man absprechen, wenn das Individuum so autonom dasteht, dass es unerträglich leidet? Darf man den Einzelnen dann überhaupt noch ermutigen, dass es sich lohnt weiter gegen das Leid zu kämpfen? Denn so nimmt man bereits wieder Einfluss auf den Einzelnen. An diesem Punkt sucht man verzweifelt nach einer Antwort auf die Frage: Wann lohnt es sich überhaupt noch zu leben und Leid zu er-tragen? Dabei muss auch die Frage gestellt werden, wie weit die Autonomie des Einzelnen reicht. Eine Person steht im Leben nicht für sich allein, sondern ist eingebettet in einen Lebenskontext, mit dem sie eng verwoben ist. Inwiefern ist der Einzelne autonom? Wovon ist er denn eigentlich unabhängig? Nur vom Einfluss anderer? Ist er vielleicht auch unabhängig von der Verantwortung im Leben anderer? Ist der Mensch wirklich so frei, wie es in unserer Zeit angenommen wird?
Das höchste Gut des Lebens scheint damit nicht mehr das Leben, sondern die Freiheit zu sein. Dr. med. Mira Pankratz fasst es treffend zusammen: „Das Gut der Selbstbestimmung wird höhergestellt als das Gut des Lebens.“[15]

Die Verantwortung der Christen

Im Rahmen eines christlichen Weltbilds ist Suizid zwingend abzulehnen.[16] In dem Wunsch nach Suizid steckt die Hoffnung, dass nach dem Tod und ohne Leid alles besser wird.[17] Das gilt aber nur für Christen (Joh 3,16–18). Der Mensch ohne Christus stirbt ins Gericht hinein (Hebr 9,27) und darauf folgt ewiges Leid in der Trennung von Gott (Jes 66,24; Dan 12,2). Insofern muss der Irrtum benannt und aufgedeckt werden: Mit dem Tod ist das Leiden nicht beendet. Wir müssen also evangelisieren und uns gegen den assistierten Suizid einsetzen, auch wenn unsere Argumente nicht immer eingesehen werden. Dabei lässt sich nicht verhindern, dass es auf einige so wirkt, wie der DIGNITAS-Gründer Ludwig A. Minelli es wahrnimmt: „Die Gegner (d. assistierten Suizids, Anm. d. Autors) wollen ihre weltanschauliche Sicht mithilfe des Staates anderen aufzwingen.“[18] Wenn sie es ablehnen, dann zumindest mit dem Hören auf die Warnung: „Warnst du aber den Gottlosen und er kehrt doch nicht um von seiner Gottlosigkeit und von seinem gott-losen Weg, so wird er um seiner Missetat willen sterben; du aber hast deine Seele gerettet!“(Hes 3,18–21, vgl. auch Hes 33,2–9)
Der Mensch ist nicht so autonom, wie er im Rahmen eines atheistischen Weltbilds denken mag. Die Folge der Ignoranz ist schwerwiegend, wie Dr. Matthias Klaus feststellt: „Wer die Autonomie des Menschen von Gott loslöst, zerstört den Menschen. Dieser Kultur des Todes hält die Bibel entgegen, dass Gott allein es ist, der über Anfang und Ende des Lebens befindet. Was (nicht nur) schwer kranke und lebensmüde Menschen brauchen, ist eine lebendige Hoffnung, die über den Tod hinausgeht. Diese Hoffnung findet sich alleine in Jesus Christus, der über sich sagt: ‚Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt‘ (Joh 11,25). In Jesus Christus findet sich eine Antwort, die mitten in die Leid- und Notsituation hineinspricht und Hoffnung bietet, auch über den Tod hinaus.“[19] Wenn jemand diese Wahrheit annimmt, wird er den Trost bei dem finden, der in Mt 11,28 spricht: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, so will ich euch erquicken!“
Der autonome Mensch mag autonom sterben, aber auch sehr einsam. Und dann steht er vor dem Richter. Der Christ hingegen stirbt nicht allein, sondern sein Gott ist bei ihm in jeder Lebenslage (vgl. Ps 125,2). Nur Christen können deshalb Hoffnung im Sterben haben und auch auf Hoffnung hin schwere Leiden ertragen.
Der Theologe Adolf Schlatter schreibt: „Die Gewissheit Gottes gibt uns auch gegenüber dem schwersten Druck und Schmerz die Willigkeit, zu tragen, was uns zugemessen wird, auch gegenüber der schwersten Schuld die Bereitschaft, ihre Folgen zu übernehmen und Gottes Vergebung zu suchen. Die Ziffer der Selbstmorde muß freilich wachsen, wenn zahlreiche Volksgenossen nicht mehr durch eine sichere Autorität an Gott erinnert und nur noch von der Natur und der Welt bewegt werden. Dann müssen sich die Momente häufen, in denen uns das Leben unerträglich scheint.“[20]
Deshalb müssen wir leidende, gottlose Menschen weiter-hin durch die Verkündigung des Evangeliums an Gott erinnern. Für Christen kann der assistierte Suizid kein Weg aus dem Leid sein. Zu guter Letzt ist die Assistenz beim Suizid auch nicht die einzige Möglichkeit, einem Leidenden zu helfen. Auf diese kann der Christ verweisen, da der Suizid keine Möglichkeit der Leidensminderung darstellt.[21]

Das Potential der Palliativmedizin

Sterbehilfe-Organisationen meinen trotzdem, dass Suizidassistenz eine legitime Möglichkeit und vor allem die Ultima Ratio bei schweren Leiden sei. Der Verein Sterbehilfe findet folgende Antwort: „Macht die Palliativmedizin eine Suizidassistenz überflüssig? Nein. Die Palliativmedizin hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte in Schmerzbekämpfung gemacht, jedoch kann sie nicht jedem Patienten helfen.“[22]
Doch dem treten Palliativmediziner entschieden entgegen, so wie der einstige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin Prof. Radbruch: „Es gibt keine Situation, in der die Palliativmedizin nichts mehr anzubieten hat. […] Den sehr wenigen Patienten, bei denen keine ausreichende Symptomlinderung erreicht werden kann, bleibt die palliative Sedierung als Option, um unerträgliches Leid zu lindern.“[23] Der assistierte Suizid ist also im Ernstfall nicht das einzige Mittel gegen „sinnlos gewordene […] Leidensverlängerung“[24]. Es gibt sehr wohl Möglichkeiten Schwerkranken zu helfen, ohne sie zu töten.[25] Das heißt aber leider nicht, dass diese Möglichkeit überall gegeben wird. Deshalb sollte in Deutschland vielmehr darauf hingearbeitet werden, die Palliativmedizin flächendeckend in höchster Qualität zur Verfügung zu stellen, damit jedem die beste Palliativmedizin ermöglicht wird, anstatt ihm einen verfrühten Tod schmackhaft zu machen.[26] So mündet die Debatte letztlich in die Frage, was uns als Gesellschaft das Leben des Einzelnen wert ist.
An dieser Stelle wundert es einen nicht, dass viele Palliativmediziner klare Worte gegen die Suizidassistenz finden, weil sie auch von dem Potential der Palliativmedizin wissen. So können die Herausgeber des Lehrbuchs „Palliativmedizin“, Dr. med. Stein Husebø und Univ. Prof. Dr. Gebhard Mathis, nicht anders, als ihr Kapitel über die Ethik mit folgenden Worten zu schließen: „Eine Gesellschaft, in der der Arzt, aus welchen Motiven auch immer, nicht mehr das Leiden bekämpft, sondern den Leidenden tötet, ist auf dem besten Weg zu einer Menschenfeindlichkeit, die im ‚Kranken‘ und im ‚Leiden‘ nur noch das Unnütze sieht, das durch die Euthanasie beseitigt werden soll. Der Wert, den ein Mensch seinem Leben beimisst, hängt entscheidend von dem Wert ab, den andere seinem Leben beimessen. Seine Würde hängt wesentlich vom Ansehen ab, das er in den Augen der Umwelt hat. Wenn wir ihm zu verstehen geben, dass wir sein Leben so wenig achten, dass wir bereit sind, ihn zu töten, nehmen wir bereits im Voraus seiner Existenz Würde und Wert. Nicht mehr die Erlösung des anderen, sondern die Erlösung vom anderen würde angestrebt. […] Aktive Lebenshilfe ist die Aufgabe und der fachliche und menschliche Inhalt der Palliativmedizin. Das Hauptargument der Palliativmediziner gegen eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe beruht auf der Befürchtung, dass diese Legalisierung der aktiven Sterbehilfe von der heute noch immer nicht ernst genommenen Aufgabe der Ärzte und der Gesellschaft ablenkt, schwer kranken Menschen ein würdevolles Leben bis zu ihrem Tode zu ermöglichen.“[27]
Wie viel mehr müssen wir Christen uns prinzipiell gegen eine Todeskultur stellen, weil wir dem Schöpfer allen Lebens dienen.

„Eine Gesellschaft, in der der Arzt, aus welchen Motiven auch immer, nicht mehr das Leiden bekämpft, sondern den Leidenden tötet, ist auf dem besten Weg zu einer Menschenfeindlichkeit, die im ‚Kranken‘
und im ‚Leiden‘ nur noch das Unnütze sieht, das durch die Euthanasie beseitigt werden soll.“
Dr. med. Stein Husebø & Univ. Prof. Dr. Gebhard Mathis

 

¹ 2011 änderte der 114. Deutsche Ärztetag seine Berufsordnung in § 16 „Beistand für Sterbende“ wie folgt: „Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und unter Achtung ihres Willens beizustehen. Es ist ihnen verboten, Patientinnen und Patienten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.“ Vgl.: (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte – MBO-Ä 1997 – in der Fassung der Beschlüsse des 114. Deutschen Ärztetages 2011 in Kiel, in: Deutsches Ärzteblatt, Bd. 108, Nr. 38, 2011, https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=106362 (abgerufen am 28.07.2022), S. A 1984–A 1992. Das Ärzteblatt kommentiert es als einen „vorläufigen Schlusspunkt“ (jedenfalls für die Ärzteschaft) hinter der Debatte über den assistierten Suizid im Jahr 2011. (Oduncu, Fuat S./Hohendorf, Gerrit: Assistierter Suizid: Die ethische Verantwortung des Arztes, in: Deutsches Ärzteblatt, Bd. 108, Nr. 24, 2011, https://www.aerzteblatt.de/archiv/93852/Assistierter-Suizid-Die-ethische-Verantwortungdes-Arztes (abgerufen am 28.07.2022), S. A 1362–4.) Gesellschaftlich wurde die Debatte fortgeführt. Sie mündete schließlich 2015 in die Etablierung des § 217 StGB, der ein Verbot über die „Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“ verhängte. Fünf Jahre nach der Etablierung des § 217 StGB erklärt das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 den „Sterbehilfeparagrafen für nichtig“. (Bundesverfassungsgericht erklärt Sterbehilfeparagrafen für nichtig, in: Deutsches Ärzteblatt, 2020, https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/109605/ (abgerufen am 28.07.2022).)
² BVerfG: Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 – 2 BvR2347/15 -, Rn. 1-343, http://www.bverfg.de/e/rs20200226_2bvr234715.html (abgerufen am 28.07.2022). Vgl. Paul, Philip: Suizid ein Menschenrecht?, in: CDK-Rundbrief, Nr. 85, 2021, https://www.cdkev.de/app/download/25615111/Suizid_+ ein+Menschenrecht+_+Philip+Paul.pdf (abgerufen am 28.07.2022), S. 42-48.
³ Hervorhebung des Autors; DIGNITAS: Informations-Broschüre, in: DIGNITAS, o.D., http://www.dignitas.ch/images/stories/pdf/informations-broschuere-dignitas-d.pdf (abgerufen am 28.07.2022).
⁴ Cassel, Eric J.: The nature of suffering and the goals of medicine, in:The New England Journal of Medicine, Bd. 306, Nr. 11, 1982, doi:10.1056/NEJM198203183061104, S. 639-645. (Original: „Most generally, suffering can be defined as the state of severe distress associated with events that threaten the intactness of the person.“) Anm. d. Autors: Der Artikel ist hilfreich in seiner vielfältigen Ausarbeitung der Leidensmöglichkeiten von Personen und der zahlreichen Einflüsse. Er ist aber unzureichend in seiner theologischen und diskussionswürdig in der philosophischen Einordnung.
⁵ ebd., Eric Cassel räumt die Möglichkeit ein, dass Leid widerstanden, ja, getrotzt werden könne. Dadurch bestünde potentiell die Möglichkeit, Leid in Stärke umzukehren (Resilienz). Doch auch hier stellt sich die brisante Frage, wann nicht mehr?
⁶ (Hervorhebung des Autors); Bozzaro, Claudia: Der Leidensbegriff im medizinischen Kontext: Ein Problemaufriss am Beispiel der tiefen palliativen Sedierung am Lebensende, in: Ethik in der Medizin, Bd. 27, Nr. 2, 2015, doi: 10.1007/s00481-015-0339-7, S. 93–106.
⁷ ebd.
⁸ Klaus, Matthias: Kultur des Todes, in: Factum, Nr. 2, 2022, https://www.cdkev.de/app/download/25847027/fac02_2022_S56_57.pdf (abgerufen am 01.08.2022), S. 56-57.
⁹ Diskussionsentwurf – Entwurf eines Gesetzes zur Neufassung der Strafbarkeit der Hilfe zur Selbsttötung und zur Sicherstellung derfreiverantwortlichen Selbsttötungsentscheidung, https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/S/Diskussionsentwurf_Suizidhilfe_Gesetz.pdf (abgerufen am 28.07.2022), S. 4.
¹⁰ ebd.
¹¹ ebd., S. 13.
¹² Äquivalent und fortgeschrittener ist die Situation in der Abtreibungsdebatte, wo die Autonomie der Mutter über das Leben des Kindes gestellt wird. Auch hier wurde ein sogenanntes Schutzkonzept gesetzlich verankert, welches das ungeborene Leben schützen sollte. Das Ergebnis sind 100.000 Abtreibungen jährlich. (Siehe: Klaus, Matthias: Risikogruppen schützen, in: CDK-Rundbrief, Nr. 84, 2020, https://www.cdkev.de/app/download/25110699/Risikogruppen+schützen.pdf (abgerufen am 01.08.2022), S. 4-5.)
¹³ Dies meint im Prinzip nicht eine auf Regelmäßigkeit, finanzielle Zugewinne oder ähnliches hin angelegte Suizidassistenz.
¹⁴ „Mund auf, Knarre rein, abdrücken“, in: DER SPIEGEL, 31.03.2018, https://www.spiegel.de/spiegel/schwerstkranke-kaempfen-fuerdas-recht-auf-sterbehilfe-a-1200672.html (abgerufen am 01.08.2022). »Wir sind nicht Christus«, in: DER SPIEGEL, 09.11.2014, https://www.spiegel.de/politik/wir-sind-nichtchristus-a-43321e08-0002-0001-0000-000130223268 (abgerufen am 01.08.2022). Suizid auf Rezept, in: DER SPIEGEL, 22.06.2020, https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/sterbehilfe-wissenschaftler-wollen-suizid-auf-rezept-gesetzlich-regeln-a-8fd1fb29-4158-47bf-a77c-22aeb-6975fe9 (abgerufen am 01.08.2022).
¹⁵ Pankratz, Mira: Leben und Sterben in Deutschland 2021 – Gedanken zu einer paradoxen Entwicklung, in: CDK, 2021 https://www.cdkev.de/ethik-am-lebensende/leben-und-sterben-in-deutschland-2021/ (abgerufen am 28.07.2022).
¹⁶ Koberschinski, Jonas: Assistierter Suizid & Menschenwürde – Eine biblisch-theologische Einordnung, in: CDK-Rundbrief, Nr. 85, 2021, https://www.cdkev.de/app/download/25615118/Assistierter+Suizid++Menschenwürde_+Eine+biblisch-theologische+Einordnung_+J.+Koberschinski.pdf (abgerufen am 28.07.2022), S. 49-53.
¹⁷ vgl. Pankratz, Mira: Leben und Sterben in Deutschland 2021 – Gedanken zu einer paradoxen Entwicklung, in: CDK, 2021, https://www.cdkev.de/ethik-am-lebensende/leben-und-sterben-in-deutschland-2021/ (abgerufen am 28.07.2022).
¹⁸ Stoffel, Deborah: «Unser Ziel? Irgendwann zu verschwinden», in: Landbote, 2017, https://www.landbote.ch/front/unser-ziel-irgendwann-zu-verschwinden/story/25591753 (abgeru-fen am 28.07.2022).
¹⁹ Klaus, Matthias: Kultur des Todes, in: Factum, Nr. 2, 2022, https://www.cdkev.de/app/download/25847027/fac02_2022_S56_57.pdf (abgerufen am 01.08.2022), S. 56-57.
²⁰ Schlatter, Adolf, „Die christliche Ethik“, 5. Aufl., Stuttgart, Deutschland: Calwer Verlag, 1986, S. 391f.
²¹ siehe in diesem Magazin, S. 67: Markus Vogel, „Palliativmedizin – eine echte Alternative“
²² Häufige Fragen, in: Verein Sterbehilfe, o.D., https://www.sterbehilfe.de/haeufige-fragen/ (abge-rufen am 28.07.2022).
²³ Urban & Vogel: Palliativmedizinische Maßnahmen ausschöpfen, in: Pflegemagazin, Bd. 66, Nr. 12, 2014, doi: 10.1007/s00058-014-1026-7.
²⁴ Über uns, in: Verein Sterbehilfe, o.D., https://www.sterbehilfe.de/ueber-uns/ (abgerufen am 28.07.2022).
²⁵ Das entspricht dem Auftrag der Ärzte. E. Cassel erinnert daran: „Die Genesung vom Leiden ist oft mit Hilfe verbunden, so als ob Menschen, die Teile ihrer selbst verloren haben, durch die Persönlichkeit anderer gestützt werden können, bis ihre eigene wiederhergestellt ist. Dies ist eine der verborgenen Funktionen von Ärzten: Kraft zu geben.“, Cassel, Eric J.: The nature of suffering and the goals of medicine, in: The New England Journal of Medicine, Bd. 306, Nr. 11, 1982, doi: 10.1056/NEJM198203183061104, S. 639-645. (Original: „Recovery from suffering often involves help, as though people who have lost parts of themselves can be sustained by the personhood of others until their own recovers. This is one of the latent functions of physicians: to lend strength.“)
²⁶ Günstig würde das natürlich nicht werden. Prof. Dr. med. Christoph von Ritter (Internist) wies in der Tagespost auf den damit zusammenhängenden weiteren ungenannten Grund für den assistierten Suizid hin: Den Kostenfaktor. „Natürlich spielen ökonomische Aspekte in der Diskussion eine Rolle. Die meisten Kosten in der Krankenversicherung fallen in den letzten drei Lebensmonaten vor dem Tod an (Zweifel et al., Health Econ 8: 485 ff., 1999). Eine verkürzte Lebensdauer setzt also Rationalisierungspotenziale frei. Nietzsches „Stirb zur rechten Zeit“ bedeutet in diesem Zusammenhang, den Einzelnen davon zu überzeugen, sich tunlichst „freiwillig“ durch Suizid aus den Sozialsystemen zu entfernen, sobald er die Pflichten als Beitragszahler nicht mehr erfüllen kann und nur noch (ein, Anm. d. Autors) schwer erträglicher Kostenfaktor ist. Da macht es Sinn, anstatt für Verbesserungen bei der Versorgung zu kämpfen, Angst und Schrecken vor Krankheit, Altern, demenzieller Entwicklungen und Verlust der Selbstständigkeit durch Pflegebedürftigkeit zu schüren. Zusammen mit demographischen Horrorszenarien ist es gelungen, eine kollektive Paranoia zu verursachen. Als Ausweg aus den Schrecken des Alterns wird der frühzeitige, „selbstbestimmte“ Tod propagiert.“ In: Christoph von Ritter, Suizidalität ist eine heilbare Krankheit, Die Tagespost, 2014, https://www.die-tagespost.de/politik/suizidalitaetist-eine-heilbare-krankheit-art-152515 (abgeru-fen am 28.07.2022).
²⁷ Husebø, Stein (Hrsg.)/Mathis, Gebhard (Hrsg.): Palliativmedizin, 6. Aufl., Springer, Berlin, Hei-delberg, doi: 10.1007/978-3-662-49039-
6_2, S. 75.

 

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