Screentime statt Greentime – der Verlust der spielenden Kindheit und die Folgen
Screentime statt Greentime – der Verlust der spielenden Kindheit und die Folgen
Autoren: Alexander und Liane Blank
Ich (Alexander) war fünf Jahre alt, als ich mit meinem achtjährigen Bruder beim Spielen in Schwierigkeiten geriet. Wir wuchsen im Zentrum einer deutschen Großstadt auf, aber unsere Eltern trauten uns zu, draußen alleine zurechtzukommen. Wir fuhren mit dem Aufzug aus dem Hochhaus in die Fußgängerzone, nahmen die Rolltreppe hinaus aus dem Zentrum, überquerten eine Brücke über den Fluss und dort begann unser Abenteuer. Wir schauten über das Brückengeländer und sahen unten ein dichtes Gebüsch. Es war dunkel und dicht, aber wir entdeckten einen freien Platz, der irgendwie gemütlich wie ein Nest aussah. Also hüpften wir über das Geländer, ließen uns an der Betonwand herunterhängen, ein Sprung und dann saßen wir in unserer „Höhle". Der Bewegungsraum war ziemlich begrenzt und wir hatten nicht darüber nachgedacht, wie wir wieder herauskommen würden. Die Betonwand bot keinen Halt und das Gebüsch war zu dicht und stachelig, um hindurch zu klettern. Also machte ich eine Räuberleiter und schob meinen Bruder hoch. Er konnte nach dem Geländer greifen und sich hochziehen. Er war wieder auf der Brücke, aber ich saß fest. Mein Bruder lief nach Hause und holte unseren Vater zu Hilfe. Auch über 30 Jahre später erinnere ich mich gut daran, wie ich ununterbrochen nach oben schaute, nur ein kleiner Fleck Himmel über mir, und auf Rettung wartete.
1. Vom Spielen zum Glotzen
Eine Kindheit, wie wir sie in den 90er Jahren erlebten, ist heutzutage für die meisten Kinder in Städten und Vororten sehr weit von der Realität entfernt. Eltern bevorzugen es, ihre Kinder in professionelle Obhut zu geben oder zu Hause mit digitalen Medien zu beschäftigen. Im letzten Jahrzehnt haben Gesundheit und Leistungsfähigkeit bei Kindern und Jugendlichen in fast allen Bereichen abgenommen. Das Übergewicht hat um 50 % zugenommen. Die psychische Gesundheit der jungen Generation ist so stark beeinträchtigt, dass von einer Krise gesprochen wird: Autismus und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) werden häufiger diagnostiziert, Ängstlichkeit und die Suizidrate bei Jugendlichen steigen an. Depressionen haben sich bei 15- bis 19-Jährigen in Deutschland im Zeitraum von 2009 bis 2017 verdoppelt. Auch die kognitiven Leistungen sind beeinträchtigt. Der Intelligenzquotient nimmt in den westlichen Staaten ab, und laut PISA-Studie werden Lese- und Rechenfähigkeiten schlechter. Die Ursachen dafür sind bisher nicht vollständig verstanden, aber da diese Entwicklungen so rasant voranschreiten, geraten Umweltfaktoren der letzten 10 bis 15 Jahre in den Blick: Das Internet wurde um die Jahrtausendwende für den Normalbenutzer zugänglich, kurz darauf entstanden die großen Social-Media-Plattformen. Das iPhone wurde 2007 vorgestellt, und 2010 wurde die Frontkamera für Selfies eingeführt. Und obwohl die noch jüngeren Kinder meistens kein eigenes Gerät besitzen, sind sie täglich digitalen Medien ausgesetzt. Manche Eltern halten es bereits im Alter von wenigen Monaten für eine gute Idee, ihre Kinder mit Medienkonsum zu beruhigen, oder besser gesagt zu sedieren. Die Sicherheit der Mediennutzung für die physische und psychische Gesundheit sowie die Entwicklung wurde vor der Einführung nicht systematisch oder experimentell untersucht, wie es beispielsweise bei Medikamenten, Chemikalien oder technischen Geräten üblich ist. In den letzten Jahren häufen sich jedoch Hinweise auf negative Folgen.
2. Wieso sind digitale Medien so erfolgreich?
Die ständige Verfügbarkeit eines Geräts in der Hosentasche, das sofort einsatzbereit ist und keine Hürden bei der Nutzung aufweist, ist ein verlockender Grund dafür, dass Eltern es in herausfordernden Situationen als Babysitter verwenden und bereits Säuglingen und Kleinkindern anbieten. Die Wahrnehmung anderer Eindrücke, auch negativer, nimmt messbar ab. In der Medizin wird dieser Effekt beispielsweise genutzt, um Patienten bei schmerzhaften Interventionen abzulenken. Es funktioniert hervorragend als „Stillhalter“. Wird dem Kind der Bildschirm angeboten, können sich die Erwachsenen plötzlich in Ruhe unterhalten. Diese „positiven“ Erfahrungen üben auf beide Seiten, bei Eltern und Kindern, einen starken Wiederholungsreiz aus. Wenn Kinder selbstständig beginnen, mit Smartphones und Tablets zu interagieren, haben sie bei digitalen Geräten ein intensives, unmittelbares Erleben und nur ein geringes Frustrationsrisiko. Während beim Spielen mit Bausteinen der Turm immer wieder bei Ungeschicklichkeit zusammenfällt, rufen die intuitiv gestalteten Basisfunktionen von Smartphone und Tablet schnelle Erfolgserlebnisse hervor. Das digitale Spielen übt einen noch größeren Reiz aus, weil die Erfahrungen von Macht, Schönheit und Größe in der realen Welt in diesem Alter nicht zu erleben sind. Ein behüteter Alltag, der zunehmend als langweilig empfunden wird, wo Kinder natürlicherweise mit Frust, Niedergeschlagenheit und Hilflosigkeit zurechtkommen müssen, ist eine schwache Alternative. Die negativen Gefühle aus der Realität können am digitalen Gerät herabreguliert werden, da großartige Erfahrungen schnell erreicht werden. Unangenehme Dinge werden durch digitales Erleben schnell vergessen gemacht. Dies führt zu selbstverstärkendem Verhalten. Kinder fühlen sich nur noch wohl, wenn sie vor dem Gerät sitzen.
3. Freies und riskantes Spiel ist gesund
In den ersten drei Lebensjahren durchläuft das kindliche Gehirn wesentliche Prozesse der neuronalen Reifung und Strukturierung, die in vielen Bereichen, insbesondere in der sensomotorischen Entwicklung, abgeschlossen werden. Kinder benötigen daher umfassende Gelegenheiten, sich kreativ in der dreidimensionalen Welt zu betätigen und vielfältige reale Erfahrungen mit allen Sinnen zu sammeln. Die Effekte des zunehmenden digitalen Medienkonsums und des Verlusts von freiem Spiel sind schwer voneinander zu trennen, da sie sich gegenseitig bedingen. Unstrukturiertes und unbeaufsichtigtes Spiel wird zusätzlich durch professionelle Betreuung und ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis der Eltern reduziert. Freies Spiel ist jedoch für die Entwicklung von Kindern sowie für ihre körperliche, geistige und soziale Gesundheit essenziell. Der Drang, auf riskante Weise zu spielen, ist für Kinder entscheidend, um Mut, Selbstvertrauen und körperliche Fähigkeiten zu entwickeln. Mit diesem Wissen können sie die Herausforderungen und Notfälle des Lebens meistern. Diese Fähigkeit wird als Resilienz bezeichnet. In den letzten Jahrzehnten wurde Kindern im Westen zunehmend die Freiheit genommen, auf eigene, selbstbestimmte und riskante Weise zu spielen, fernab der Kontrolle durch Erwachsene. Dies liegt zum Teil daran, dass Sicherheitsmaßnahmen darauf abzielen, alle spielbezogenen Verletzungen zu verhindern, anstatt sich auf ernsthafte und tödliche Verletzungen zu konzentrieren. Langfristig sind Kinder jedoch einem größeren Risiko ausgesetzt, wenn wir ihnen riskantes Spiel vorenthalten, als wenn wir es zulassen. Das Verletzungsrisiko unstrukturierten Spiels ist niedriger als bei Sportarten, die von Erwachsenen angeleitet werden, zum Beispiel beim Fußballtraining. Während Eltern, Pädagogen und Ärzte in den letzten Jahren immer mehr und sehr erfolgreiche Regeln zur Risikoreduktion vor Verletzungen eingeführt haben, wurde der Medien- und Onlinebereich, wo es viele Gefahren für Kinder gibt, vernachlässigt. Ein 14-jähriges Mädchen beschrieb im Rückblick ihre unbeaufsichtigte Onlinezeit als Zehnjährige in einem Essay für eine amerikanische Zeitung folgendermaßen: „Wo war meine Mutter? Im Raum nebenan, und sorgte dafür, dass ich täglich neun unterschiedlich gefärbte Früchte und Gemüsesorten aß. Sie war aufmerksam, fast eine Helikoptermutter, aber trotzdem stieß ich im Internet zufällig auf Pornographie. Meine Freunde auch.“ Dies ist ein Beispiel für den beschriebenen Sachverhalt, dass wir unsere Kinder in der realen Welt zu sehr schützen, während wir es online zu wenig tun.
4. Die negativen Effekte von audiovisuellen Medien
Der Unterschied zwischen dem Spielen mit Kameraden und Gegenständen und dem einsamen, unbeweglichen Ansehen von YouTube-Videos im Autoplay-Modus ist enorm. Digitale Medien sind „Erfahrungsblocker“. Selbst wenn Kinder stundenlang gefesselt Filme über Fußball, Fußballer und Fußballtricks ansehen, werden sie dadurch nie das Spielen selbst erlernen. Ein Säugling lernt das Gehen nur durch Übung und nicht am Bildschirm. Für jede Stunde, die ein Kind am Bildschirm verbringt, nimmt seine Interaktion mit Eltern und Geschwistern um circa 1,5 Stunden ab. Offensichtlich benötigt die Verarbeitung des Gesehenen auch Zeit, in der das Kind nicht interagiert. Im Kleinkindalter sind zahlreiche nachteilige Folgen des Konsums von Bildschirmmedien dokumentiert. Kleinkinder können Emotionen schlechter regulieren, neigen zu autistischen Verhaltensweisen und ihre soziale Interaktion ist beeinträchtigt. Das Schlafmuster ist gestört: Widerstand beim Schlafengehen, nächtliches Erwachen und Tagesschläfrigkeit treten häufiger auf. Die Eltern-Kind-Beziehung ist beeinträchtigt und es treten mehr Verhaltensstörungen auf. Kognitive, sprachliche und motorische Verzögerungen bei Kleinkindern hängen signifikant mit der Bildschirmzeit zusammen. Das Vokabular ist geringer und exekutive Funktionen (zum Beispiel Planen und Entscheidungsfindung) bilden sich schlechter aus. Für die Computerspielsucht im Schulalter wird der Grundstein schon im Kleinkindalter gelegt. Auch wird der spätere Schulerfolg negativ beeinflusst und der BMI dieser Kinder ist nachhaltig höher. Außerdem muss die elterliche Seite beachtet werden. Durch die Mediennutzung der Eltern im Beisein der Kinder sinken die Zahl und die Qualität der Interaktionen mit den Kindern, welche die Grundlage für die Sprachentwicklung bilden. Kleinkinder, deren Eltern gestresst sind, nutzen Bildschirmmedien intensiver. Die Kinder lernen hier am Modell. Im Gegensatz zu den negativen Effekten von Bildschirmmedien zeigen zahlreiche Studien positive Effekte des Spiels im Grünen auf die physische und psychische Gesundheit in dieser Altersgruppe. Beispielsweise werden traurige Emotionen, Aggressionen und Unaufmerksamkeit reduziert. Es ist Konsens, dass die Dauer der Bildschirmzeit Auswirkung auf die Kognition hat. Je mehr Zeit mit Bildschirmmedien verbracht wird, desto größer sind die Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung. Bisher ist noch nicht geklärt, ob das Betrachten von Bildschirmen an sich eine direkte schädliche Wirkung hat, oder ob andere wichtige tägliche Aktivitäten wie Schlafen, sportliche Aktivität und soziale Interaktion verdrängt werden, die Bildschirmzeit also als Zeiträuber fungiert. In einigen Studien wurde eine Unterscheidung zwischen sitzendem Verhalten am Bildschirm und sitzendem Verhalten ohne Bildschirm (zum Beispiel Lesen) getroffen, wobei nur das Sitzen am Bildschirm mit psychischen Auffälligkeiten verbunden war. Zusammengefasst spricht vieles dafür, dass es direkte Effekte vom Bildschirmkonsum gibt. Die Auswirkungen auf lebenswichtige Fähigkeiten wie Einfallsreichtum, Handlungskompetenzen, handwerkliches Geschick sowie künstlerische, sportliche und musikalische Fähigkeiten und Neigungen sind derzeit nur schwer abschätzbar. Es ist jedoch zu befürchten, dass diese erheblich in Mitleidenschaft gezogen werden könnten. In der Zusammenstellung der Studienlage bleiben inhaltliche Aspekte, welche durch die Medien transportiert werden, unbeachtet. Viele Medienschaffende richten ihre politischen Botschaften mit Eifer speziell an Kinder, die sich als Heranwachsende in einer besonders sensiblen Phase befinden. Dies spielt beispielsweise bei von Genderdysphorie betroffenen Kindern eine nachgewiesene Rolle. Hierbei sollte der Einfluss von Medien auf die Entwicklung von Überzeugungen und Verhaltensweisen nicht unterschätzt werden.
5. Positive Effekte mit Nebenwirkungen
Aber was ist mit den positiven Effekten? Wie steht es um Lernprogramme und Lernvideos? Es gibt Nachweise, dass altersgerechte, hochwertige Videos das Vokabular und Wissen fördern. Dieser Effekt tritt jedoch erst ab einem Alter von etwa 2,5 Jahren ein und beschränkt sich auf hochwertige Inhalte, die unter elterlicher Begleitung genutzt werden. Die meisten angebotenen Programme sind jedoch stark auf Unterhaltung ausgerichtet und fördern antisoziales und aggressives Verhalten. Für Kinder unter 2,5 Jahren sind keine positiven Effekte von Lernvideos erkennbar. Sie können jedoch davon profitieren, über Videotelefonie Kontakt zu ihren Bezugspersonen zu halten. Jugendliche können durch die Nutzung digitaler Medien Fähigkeiten erlangen, die in ihrem späteren Berufsleben sonst schwerer zu erlernen wären. Beispielsweise zeigt sich ein verbessertes räumliches Verständnis. Dies bietet Chirurgen Vorteile beim Erlernen minimalinvasiver Verfahren, da das Gehirn auf eine gute Koordination von Hand und Bildschirm zurückgreifen kann. Dasselbe gilt auch für Piloten und Architekten. Sehr spezifische Fähigkeiten können an digitalen Geräten gut erlernt werden. Für Kleinkinder, die vor allem mit dem Erlernen von Motorik, Sprache und Verhalten beschäftigt sind, sind dies jedoch keine Bildungsziele, die zu ihren Schlüsselkompetenzen gehören und den Raum für neues Lernen eröffnen. Der Begriff „Medienkompetenz“ wird oft als wichtiger Bildungsbaustein in der modernen Welt propagiert. Er umfasst die Fähigkeit, Medien bewusst und kritisch zu nutzen, zu verstehen und selbst zu gestalten. Doch bei Kleinkindern fehlen die kognitiven Voraussetzungen, um Fiktion von Realität zu unterscheiden und eine kritische Distanz zum Medium zu entwickeln. Das Bedienen eines Touchscreen-Geräts ist keine Medienkompetenz im eigentlichen Sinne. Im Gegenteil, zu frühes Heranführen an digitale Medien kann dazu führen, dass ein tieferes Verständnis ausbleibt.
6. Die Empfehlungen der Fachgesellschaften
Die deutsche AWMF-Leitlinie „Leitlinie zur Prävention dysregulierten Bildschirmmediengebrauchs in Kindheit und Jugend“ empfiehlt:11
– Kinder unter drei Jahren sollten von jeglicher passiven und aktiven Nutzung von Bildschirmmedien ferngehalten werden.
– Wenn Eltern ihre Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren an die Nutzung von Bildschirmmedien heranführen möchten, sollte dies höchstens 30 Minuten an einzelnen Tagen gestattet werden und stets in Anwesenheit der Eltern erfolgen.
– Für Kinder im Alter von sechs bis neun Jahren sollte die freizeitliche Nutzung von Bildschirmmedien auf höchstens 30 bis 45 Minuten an einzelnen Tagen beschränkt sein.
– Bildschirmmedien sollten weder zur Belohnung,
Bestrafung noch zur Beruhigung eingesetzt werden.
– Während des Essens, insbesondere bei gemeinsamen Mahlzeiten, sollten keine Bildschirmmedien genutzt werden und es sollte auch nicht während der Nutzung von Bildschirmmedien gegessen werden.
– Eltern sollten sich für die digitalen Aktivitäten ihrer Kinder interessieren und diese kritisch begleiten. Die Fachgesellschaften aus dem angelsächsischen Raum sind in ihren Empfehlungen etwas liberaler, empfehlen aber, dass Kinder unter zwei Jahren grundsätzlich auf Bildschirme verzichten, und Kinder bis fünf Jahre nur hochwertige pädagogische Programme mit maximaler Dauer von 30 bis 60 Minuten pro Tag nutzen sollten.
Die Canadian Pediatric Society hat im Januar 2024 eine explizite Empfehlung zum riskanten Spiel herausgegeben und benennt dabei folgende Situationen, denen Kinder ausgesetzt werden sollen:12
– Höhe: Klettern, Springen, Balancieren in der Höhe
– Geschwindigkeit: Radfahren mit hoher Geschwindigkeit, Rodeln, Rutschen, Rennen
– Werkzeuge: Überwachte Aktivitäten mit Axt, Säge, Messer, Hammer oder Seilen (zum Beispiel Bau eines Unterschlupfs oder Schnitzen)
– potenziell gefährliche Elemente: Spielen in der Nähe von Feuer oder Wasser
– Raues und turbulentes Spiel: Ringen, spielerische Kämpfe, Fechten mit Stöcken
– Spiel mit Risiko des Verschwindens oder Verlorengehens: Erkunden von Spielplätzen, Nachbarschaften oder Wäldern ohne Aufsicht durch Erwachsene, oder im Fall von Kleinkindern mit begrenzter Aufsicht (zum Beispiel Verstecken hinter Büschen)
7. Unsere Empfehlung für Eltern
Wie lassen sich diese Empfehlungen konkret in den Alltag integrieren? Beginnen Sie mit der Reflexion Ihres eigenen Medienkonsums. Interessieren Sie sich für die Gedanken und Ideen Ihrer Kinder. Schaffen Sie Möglichkeiten zum Erleben von Abenteuern und Unabhängigkeit, zum Beispiel durch das Klettern auf Bäume oder das Schnitzen mit einem Taschenmesser. Wenn bereits eine problematische Mediennutzung vorliegt, schaffen Sie attraktive Alternativen. Klare Familienregeln, die alle Familienmitglieder kennen und einhalten, sind für Kinder leichter zu akzeptieren, als wenn täglich neue Bildschirmzeiten ausdiskutiert werden müssen. Wenn Sie Bildschirmmedien zulassen, setzen Sie sich zu Ihrem Kind und begleiten Sie die Nutzung. Videotelefonate mit Bezugspersonen, wie den Großeltern, oder das Anschauen von Fotos vergangener Ereignisse sind unproblematisch. Aber auch hier sehen wir bei unseren Kindern einen kaum zu sättigenden Hunger. Eine Zeitbegrenzung ist auch bei diesen harmlosen Tätigkeiten sinnvoll. Verwenden Sie Medien nicht als Trost- oder Beruhigungsmittel. Kinder verinnerlichen, dass negative Emotionen mit digitalen Medien in den Hintergrund gedrängt werden können, sollen aber andere Bewältigungsstrategien entwickeln.
8. Fazit
Es besteht in unserer Gesellschaft für Mediennutzung im Kindesalter erstaunlich wenig Problembewusstsein. Die Datenlage ist gerade für das Kleinkindalter eindeutig und die Folgen auf das kindliche Gehirn sind beklemmend. Das Narrativ von früh erlernter Medienkompetenz hält sich aber selbst unter sonst kritischen und reflektierten Eltern aufrecht. Es ist höchste Zeit, dass wir den Wert des freien Spiels wiederentdecken und den Bildschirm gegen das echte Leben eintauschen.
1 Norddeutscher Rundfunk, Krankhaftes Übergewicht bei Kindern nimmt zu. [Online]. Verfügbar unter: https://www.tagesschau.de/ wissen/gesundheit/kinder-uebergewicht-101.html.
2 Ärzteblatt, Depressionen machen Kindern und Jugendlichen zunehmend zu schaffen. [Online]. Verfügbar unter: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/105287/Depressionen-machen-Kindern-und-Jugendlichen-zunehmend-zu-schaffen.
3 Deutschlandfunk, Deutsche Schulleistungen sinken weiter. [Online]. Verfügbar unter: https://www.deutschlandfunk.de/pisa-studie-2022-102.html.
4 Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, JIM-Studie & KIM-Studie. [Online]. Verfügbar unter: mpfs.de (Zugriff am: 21. Juli 2024).
5 M. Brussoni et al., "What is the Relationship between Risky Outdoor Play and Health in Children? A Systematic Review" (eng), International journal of environmental research and public health, Jg. 12, Nr. 6, S. 6423–6454, 2015, doi: 10.3390/ijerph120606423.
6 J. Haidt, The anxious generation: How the great rewiring of childhood is causing an epidemic of mental illness. New York: Penguin Press, 2024. Inzwischen in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Generation Angst“ erhältlich Online-Ressourcen mit den kollaborativen Reviews zu diesem Buch sind ein wahrer Schatz. Zu finden unter: https://www.anxiousgeneration.com/research/collaborative-review-docs
7 T. K. Oswald, A. R. Rumbold, S. G. E. Kedzior und V. M. Moore, "Psychological impacts of "screen time" and "green time" for children and adolescents: A systematic scoping review" (eng), PloS one, Jg. 15, Nr. 9, e0237725, 2020, doi: 10.1371/journal.pone.0237725.
8 B. Guellai, E. Somogyi, R. Esseily und A. Chopin, "Effects of screen exposure on young children's cognitive development: A review" (eng), Frontiers in psychology, Jg. 13, S. 923370, 2022, doi: 10.3389/fpsyg.2022.923370.
9 S. P. Suggate und P. Martzog, "Screen-time influences children's mental imagery performance" (eng), Developmental science, Jg. 23, Nr. 6, e12978, 2020, doi: 10.1111/desc.12978).
10 A. Leonhardt, M. Fuchs, M. Gander und K. Sevecke, "Geschlechtsdysphorie in der Adoleszenz: Die Rapid-Onset-Hypothese auf dem Prüfstand" (eng), Neuropsychiatrie: Klinik, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation: Organ der Gesellschaft Österreichischer Nervenärzte und Psychiater, 2024, doi: 10.1007/s40211-024-00500-8.
11 Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e. V., Leitlinie zur Prävention dysregulierten Bildschirmmediengebrauchs in Kindheit und Jugend. [Online]. Verfügbar unter: https://leitlinie.bildschirmfrei-bis-3.de/.
12 E. Beaulieu und S. Beno, Healthy childhood development through outdoor risky play: Navigating the balance with injury prevention. [Online]. Verfügbar unter: https://cps.ca/en/documents/position/outdoor-risky-play.
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INTERVIEW: Und trotzdem Hoffnung?
Hilfe nach einer Abtreibung
Patricia Nestvogel
ist seit 1987 mit Dr. Wolfgang Nestvogel verheiratet und unterstützt ihn als Ehefrau im Gemeindedienst. Sie erfreuen sich an 2 Kindern mit Schwiegerkindern und 2 kleinen Enkeln.
Birgit Karahamza
ist verheiratet mit Dündar Karahamza, einem ehemaligen Moslem aus der Türkei, der zum lebendigen Glauben an Jesus Christus gekommen ist. Sie haben 4 Kinder. Frau Karahamza leitet eine Zweigstelle der Lebensrechtsorganisation „KALEB e. V.“ in Hannover-Langenhagen.
Patricia Nestvogel:
Liebe Frau Karahamza, herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit zu diesem Interview nehmen, denn ihre Tage sind immer sehr ausgefüllt, auch als Leiterin der Kaleb-Zweigstelle. Was ist das größte Problem für eine Frau, die eine Abtreibung hinter sich hat?
Birgit Karahamza:
Es ist wichtig, geduldig zu sein und da, wo es geht, Verständnis zu signalisieren. Oftmals werden Frauen, die abtreiben, auch von anderen Personen dazu gedrängt oder falsch beraten. Man muss sich Zeit zum Zuhören nehmen, damit die Frauen das Geschehene zusammen mit der Vorgeschichte erzählen können. Diese Gespräche können zum Teil Stunden dauern. Es muss der betroffenen Frau versichert werden, dass sie sich zu jeder Zeit wieder melden darf und man für weitere Gespräche gern zur Verfügung steht. Sie sollte aber nicht gedrängt werden.
Patricia Nestvogel: Wie kann man taktvoll mit der Schuldfrage umgehen?
Birgit Karahamza:
Meine Erfahrung ist es, dass Frauen häufig die Schuldfrage von selber ansprechen. Aber dies geschieht meist nicht gleich in den Erstgesprächen, sondern später. Wenn ein gewisses Vertrauen vorhanden ist, kann man dieses Thema der Schuld auch ansprechen.
Patricia Nestvogel: Welche Hilfestellung können wir vom christlichen Glauben her geben?
Birgit Karahamza:
Schuld kann nicht wegtherapiert werden, Schuld muss vergeben werden. Das kann nur der allmächtige Gott. Dieser hat Vergebung ermöglicht durch den Glauben an die stellvertretende Erlösung seines Sohnes Jesus Christus am Kreuz. Viele Frauen berichten auch, dass sie eine sehr schwere Last durch diese Schuld mit sich getragen haben und nach der Vergebung erst wieder richtig leben konnten. Weitere seelsorgerliche Begleitung und Kontakt zu einer bibeltreuen Gemeinde sind wichtig.
Patricia Nestvogel: Kennen Sie ein Beispiel, wo eine Frau nach einer geschehenen Abtreibung die Tragweite erkannt hat und schließlich auch zum Glauben an Jesus Christus gekommen ist?
Birgit Karahamza:
Ja, eine solche Frau ist mir gut bekannt. Weil sie ihre beruflichen Vorstellungen verwirklichen wollte, hat sie das Kind abgetrieben. Im Krankenhaus lagen bei ihr im Zimmer auch Frauen, die ein Baby bekommen haben. Das hat sie aufgerüttelt. Als sie zurück nach Hause kommt, unternimmt sie einen Selbstmordversuch, der daran scheitert, dass die Nachbarin rechtzeitig vorbeischaut. Danach erhält sie eine Arztdiagnose, dass sie nie mehr Kinder bekommen kann. Sie lernt Christen kennen und darf zum lebendigen Glauben an Jesus Christus finden. Dann heiratet sie auch und bringt 5 Kinder zur Welt. Sie setzt sich nun selber im Lebensschutz ein und in der Seelsorge.
Hilfe für Schwangere und Mütter in Not:
www.CDKev.de oder
www.kaleb.de/gruppe/region-hannover-langenhagen/
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Foto von National Cancer Institute auf Unsplash
Diagnostik in der Schwangerschaft
Ja, Nein, Vielleicht?
Wenn die Frau voller Erwartung und mit Herzklopfen den Teststreifen in den Urinbecher taucht und dieser nach wenigen Minuten zwei Balken zeigt, macht die Seele einen Freudensprung. Die überwältigende Vorstellung, dass kürzlich im eigenen Körper neues Leben entstanden ist, lässt sich gar nicht richtig fassen. Am liebsten würde man es in die ganze Welt hinausjubeln. Viele Paare behalten diese Freudenbotschaft jedoch einige Wochen noch ganz für sich. Denn mit der Freude wächst gleichwohl die Sorge; die Sorge, es könnte doch noch schiefgehen mit dem neuen Leben – insbesondere in den ersten zwölf Wochen, wenn das Risiko einer Fehlgeburt am höchsten ist. Schon zu Beginn einer Schwangerschaft, bevor man dieses Wunder selbst realisiert hat und während man sich emotional ordnen muss, wird man beim Frauenarzt mit diversen Untersuchungen konfrontiert, der sogenannten Pränataldiagnostik (prä = vor; natal = geburtlich; Diagnostik = Untersuchung). Im weiteren Sinne umfasst die Pränataldiagnostik jegliche Untersuchungen, die während der Schwangerschaft an der Schwangeren oder am Kind durchgeführt werden.
Einerseits gibt es zum Beispiel Blutdruck-, Urin- und Gewichtskontrollen, sowie die drei Standard-Ultraschalluntersuchungen entsprechend der Mutterschaftsrichtlinien. Und andererseits erstreckt sich, oft auf hübschen Flyern beworben, eine Palette an möglichen Untersuchungen, die überwiegend selbst bezahlt werden müssen. Hierbei handelt es sich in der Regel um Untersuchungen, die eine Aussage darüber treten sollen, inwiefern das Kind im Bauch auch dem gesunden, fehlbildungsfreien Wunschkind entspricht. Auf diese Art der Pränataldiagnostik im engeren Sinne und insbesondere auf ihre ethische Beurteilung und praktischen Auswirkungen wird im Folgenden näher eingegangen.
Gängige pränataldiagnostische Methoden
Als ungefährliche, nicht-invasive Diagnostik wird den Schwangeren in der Regel das Ersttrimester-Screening, der Feinultraschall und ein molekulargenetischer Bluttest, auch Nicht Invasiver-Pränataltest (NIPT) genannt, angeboten. Zu betonen ist hier, dass sich das Adjektiv „ungefährlich“ darauf bezieht, wie niedrig die Wahrscheinlichkeit ist, dass das Kind im Mutterleib beim Durchführen der Diagnostik Schaden nimmt. Beim Ersttrimester-Screening wird aus verschiedenen Faktoren (Hormonspiegel, Nackenfaltentransparenz und weiteren Parametern wie Alter der Mutter, medizinische Vorgeschichte, Raucherstatus, gegebenenfalls Nasenbeinverknöcherung, etc.) eine Wahrscheinlichkeit errechnet, mit der eine Veränderung des kindlichen Erbgutes oder andere Fehlbildungen auftreten könnten. Findet sich ein ausfälliges Ergebnis, wird zu weiterer invasiver Diagnostik geraten. Beim Feinultraschall werden die Organe des Kindes, sowie Nabelschnur, Plazenta und umgebende Gefäße von einem Spezialisten besonders genau und intensiv beurteilt und ausgemessen. Empfohlen wird dieser Ultraschall bei Auffälligkeiten im Rahmen der Untersuchungen gemäß der Mutterschaftsrichtlinien, beziehungsweise entsprechenden Risikoschwangerschaften. Er wird häufig auch ohne diese vorherige Risikokalkulation auf eigene Kosten der Schwangeren durchgeführt. Wo besonders viele Messdaten erhoben werden, ohne dass im Vorhinein von einem erhöhten Risiko auszugehen ist, muss man sich immer dessen bewusst sein, dass Abweichungen von der Norm nicht zwangsweise mit Krankheit einhergehen, aber dennoch Unsicherheit zurücklassen. Relativ neu im Portfolio der Pränataldiagnostik ist der NIPT. Hierbei handelt es sich lediglich um eine Blutentnahme bei der Mutter. Es werden dann Häufigkeiten verschiedener fetaler DNA-Fragmente im mütterlichen Blut ausgezählt. Darüber können Rückschlüsse auf den fetalen Rhesusfaktor, sowie auf eventuelle Erbgutabweichungen gezogen werden (Trisomie 13, 18, 21 und Abweichungen der X- und Y-Chromosomen). Durch das Ermitteln des Rhesusfaktors des Kindes kann bei einer Rhesus-D-negativen Mutter die Gabe von möglicherweise nicht notwendigen Immunglobulinen verhindert werden. Die molekulargenetischen Bluttests haben eine recht genaue Vorhersagekraft. Aber auch hier muss beachtet werden, dass ein Ergebnis bei einer Schwangeren, die vorher kein Risikoprofil für das Gebären eines kranken Kindes hat, nur eine eingeschränkte Aussagekraft bietet.[1,2] Invasive Pränataldiagnostik kommt in der Regel nur dann zum Einsatz, wenn sich bei der nicht-invasiven Diagnostik ein erhöhtes Risiko für eine Erbkrankheit oder Fehlbildung ergibt. Jede dieser invasiven Methoden erhöht das Fehlgeburtsrisiko – wenn auch oft nur in geringem Ausmaß – eines möglicherweise gesunden Kindes. Am häufigsten wird eine Amniozentese (Fruchtwasseruntersuchung) durchgeführt. Aber auch eine Chorionzottenbiopsie (Plazentapunktion) oder Chordozentese (Nabelschnurpunktion) kann erfolgen. Bei letzterem Eingriff können nicht nur Aussagen über genetische Stoffwechselerkrankungen oder Chromosomenveränderungen getroffen werden, sondern es können auch Tests auf bestimmte Antikörper und Bluterkrankungen, sowie in therapeutischer Hinsicht eine Bluttransfusion für das Ungeborene erfolgen.[3,4]
Umgang mit Pränataldiagnostik als Christ
Zugespitzt kann man sagen, dass der Großteil der pränatalen Diagnostik im engeren Sinne auf eine Abtreibung eines möglicherweise kranken Kindes abzielt. Als Christ ist man zwar nach dem Prinzip aus dem 14. Kapitel des Römerbriefes in vielen Alltagsentscheidungen seinem von Gott gegebenen Gewissen unterworfen. Das Ermorden eines Menschen, egal ob geboren oder ungeboren, fällt aber nicht in diese Kategorie. Hier finden wir in 2. Mose 20,13 eine klare Aussage: „Du sollst nicht töten!“ Damit wird von Gott jedes Leben als lebenswert eingestuft. Auch wenn für christliche Paare feststeht, dass sie ihr Kind unter keinen Umständen abtreiben würden, klingt es verlockend, vorher wissen zu können, ob das Kind gesund ist oder man sich auf ein krankes Kind einstellen muss. Bevor man sich dafür entscheidet eine risikoarme, nicht-invasive Pränataldiagnostik, wie zum Beispiel den NIPT oder das Ersttrimester-Screening, in Anspruch zu nehmen, sollte man sich folgender Umstände bewusst sein: Eine solche Diagnostik kann lediglich 4,5% aller Behinderungen überhaupt erkennen. 95,5¿% der körperlichen und geistigen Einschränkungen entstehen erst im Laufe des Lebens. Was die Untersuchungen ebenfalls nicht leisten können, ist eine Aussage darüber zu treffen, wie hoch das Maß der Auswirkung einer gefundenen Auffälligkeit im Leben des noch nicht geborenen Menschen sein wird. Sowohl das Ersttrimester-Screening als auch der NIPT zeigen nur ein Risiko für eine Erkrankung an, begründen aber keine Diagnose. Tritt der Fall ein, dass ein Testergebnis ein erhöhtes Risiko für eine angeborene Erkrankung angibt, wie zum Beispiel das Down-Syndrom, dürfte das Gefühl der Angst und Sorge im Vordergrund stehen. Falsch-positive Ergebnisse sind insbesondere beim Ersttrimester-Screening aber leider keine Seltenheit. Deshalb wird bei einem auffälligen Ergebnis eine invasive Folgediagnostik (zum
Beispiel eine Amniozentese, Chorionzottenbiopsie oder Chordozentese) empfohlen, die das bereits oben erwähnte Fehlgeburtsrisiko mit sich bringt. Nur in ca. 4% der Fälle zeigen sich in dieser Folgediagnostik tatsächlich genetische Veränderungen.[5] Konkret bedeutet dies: Zwischen Ersttrimester-Screening und weiterführender Diagnostik liegen quälende Tage bis Wochen voller Ungewissheit und Sorge und man unterzieht Mutter und Kind einer medizinischen Maßnahme, die bei einem (oft kerngesunden) Kind ein erhöhtes Fehlgeburtsrisiko in Kauf nimmt. Werden bereits bei den Standard-Vorsorgeuntersuchungen gemäß der Mutterschaftsrichtlinien Anzeichen für eine Erkrankung des Kindes gefunden, wird der Gynäkologe zu weiteren, angemessenen Untersuchungen raten. Wird in dieser Situation beispielsweise ärztlicherseits ein Feinultraschall empfohlen und durchgeführt und die Hinweise auf eine Fehlbildung festigen sich, sollte zum Wohl des Kindes in einer größeren Klinik mit Neonatologie entbunden werden. Die Therapie eines nachweislich kranken Kindes vor der Geburt ist nur enorm selten, zum Beispiel im Rahmen einer fetalen Bluttransfusion, möglich und nötig. Genetische Veränderungen sind aktuell pränatal nicht therapierbar und die operative Fetalmedizin ist risikoreich und beendet sich in einem experimentellen Stadium.[3] Um dem Für und Wider jeglicher Diagnostik in der Schwangerschaft aus dem Weg zu gehen, könnte man sich auch dafür entscheiden, diese vollständig abzulehnen. Man darf hierbei aber nicht außer Acht lassen, dass Eltern schon vor der Geburt Verantwortung für ihr Kind tragen. Wenn die medizinischen Mittel zur Verfügung stehen, das Wohl von Mutter und Kind zu fördern, dann sollte dies im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen auch wahrgenommen werden. Abseits der Frage, ob ein Kind im Mutterleib getötet werden sollte, bleibt es am Ende die Entscheidung der Eltern, welche diagnostischen Optionen sie in der Schwangerschaft durchführen lassen wollen. Bei dieser Entscheidung unterliegen sie keinem menschlichen Gesetz, sondern ihrem Gewissen vor Gott. Wichtige Prinzipien, die dabei einbezogen werden sollten, sind, ob ein therapeutisches Ziel aus dem Ergebnis der Diagnostik erfolgen kann oder ob das Leben des Kindes und das der Mutter unnötig gefährdet werden.
Einfluss der Pränataldiagnostik auf unsere Gesellschaft
Die Möglichkeit, eine pränatale Diagnostik durchzuführen, stellt nicht nur werdende Eltern in ihrer konkreten Situation vor viele Fragen, sondern sie hat auch Auswirkungen auf unsere Gesellschaft und den Zeitgeist und umgekehrt. Mithilfe der Pränataldiagnostik kann man schon vor der Geburt eines Kindes Informationen über dessen Gesundheitsstatus erlangen. Die Frage, die sich zwangsläufig daraus ergibt, ist, welche Konsequenzen eine Nation oder auch Einzelpersonen daraus ziehen. In unserem Grundgesetz steht, dass die Würde des Menschen und somit auch sein Leben unantastbar sind. Dennoch wurde von den Volksvertretern unseres Landes festgelegt, dass in bestimmten Fällen Leben im Mutterleib getötet werden darf. Darunter fällt das Leben, bei dem es Hinweise auf bestimmte Gendefekte, wie zum Beispiel Trisomie 21, gibt. Durch den bereits vorherrschenden Zeitgeist geprägt wurde in Deutschland entschieden, dass die Lebensqualität der Mutter gegen das Leben des Kindes abgewogen werden darf. Die Idee, dass diese zwei Güter überhaupt gegeneinander abgewogen werden dürfen, entsteht dadurch, dass die Selbstbestimmung rechtlich wie moralisch höher gewertet wird als das Leben. Dies wurde kürzlich durch ein Urteil vom Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die deshalb jetzt gestattete Suizidbeihilfe bestätigt. Die überaus hohe Wichtigkeit, die der Selbstbestimmung beigemessen wird, lenkt den Blick der Einzelnen weg vom Nächsten und weg von der Gesellschaft als Ganzes hin zu sich selbst und nährt infolgedessen den Egoismus dieser Einzelnen. Die Inanspruchnahme der Pränataldiagnostik ist folglich häufig ein Ausdruck dieser starken Selbstbezogenheit. Wenn man sich aller Konsequenzen im Vorhinein bewusst ist, kann man die Motivation für die Untersuchungen wie folgt zuspitzen: „Ich möchte kein behindertes Kind haben und bin bereit, dafür menschliches Leben zu töten.“ Beim Umhören unter werdenden Eltern oder jenen, die es gerne werden wollen, trifft man oft auf weniger eindeutige Aussagen zu diesem Thema. Während die meisten „zur Beruhigung, dass alles in Ordnung ist“ eine pränatale Diagnostik durchführen lassen wollen, stößt man auf enorme Unsicherheit bei der Frage, ob sie ein vermeintlich krankes Kind abtreiben würden. Diese Unsicherheit entpuppt sich als lebensgefährlich für das ungeborene Kind, denn einer aktuellen Studie zufolge werden in Europa geschätzt mehr als die Hälfte der Kinder mit entsprechender pränataler Diagnose beziehungsweise pränatalem Risiko abgetrieben. In Medienberichten der Welt oder des Spiegels wird erwähnt, dass es sogar noch deutlich mehr sind.[6] Die meisten Schwangeren würden die Veranlassung einer Pränataldiagnostik vielleicht sogar mit dem Kindswohl begründen, indem sie behaupten zu wissen, das Sterben im Mutterleib sei für das Kind besser als ein womöglich kurzes Leben mit gesundheitlichen Einschränkungen. Menschen entscheiden hier in einem Land der Selbstbestimmung über Lebensqualität und Leben anderer. Natürlich gibt es auch Eltern, die auf die pränatale Diagnostik verzichten und ein Kind mit abnormaler Genetik zur Welt bringen oder die ihr Kind trotz auffälligen, pränatalen Befunds zur Welt bringen. Sie bejahen das Leben und maßen sich nicht an, über die Würde und Lebensqualität eines anderen Menschen zu urteilen. Wenn man sich in Internetforen oder gar in seinem privaten Umfeld unter Betroffenen umhört, die ein Kind mit Behinderung, wie dem Down-Syndrom, zur Welt gebracht haben, findet man quasi niemanden, der im Nachhinein sagt, er hätte lieber abgetrieben. Im Gegenteil sehen sich viele dieser Paare unter einem Rechtfertigungsdruck ausgehend von der Gesellschaft, wieso sie das Leben ihres gesundheitlich eingeschränkten Kindes nicht verhindert haben.[7] Hier kristallisiert sich heraus, wie es in unserem Land wirklich um die überall propagierte und von der Politik stolz vor sich her getragene „Toleranz und Gleichberechtigung“ steht. Eine Frage, die sich aus der gesetzlichen Legalität des Tötens eventuell kranker, ungeborener Kinder ergibt, ist, wieso Leben mit Behinderung nicht generell beendet wird, wenn es entsprechend der Mehrheitsmeinung nicht lebenswert erscheint? Wo ist der Unterschied, ob es vor oder nach der Geburt geschieht? Wer kann und darf Entscheidungen über die Menschenwürde und das Leben anderer treffen? Abgeordnete im Bundestag, die sich möglicherweise keine tiefgehenden Gedanken über diese Situationen gemacht haben und ihnen ferner stehen denn je? Emotional aufgeriebene Eltern, denen es bei einem „schlechten Ergebnis“ der Pränataldiagnostik kaum möglich ist einen einzigen klaren Gedanken zu fassen? Angehörige am Rande der Belastungsgrenze? Das Leben von jedem von uns ist in Gefahr, wenn es derartiger menschlicher Willkür unterliegt. Daraus leitet sich die Notwendigkeit ab, dass es eine übergeordnete (göttliche) Macht geben muss, um Leben und Menschenwürde zu garantieren. Als Christen dürfen wir wissen, dass dies der Gott der Bibel ist. In seinem Wort lässt er uns unmissverständlich wissen, dass wir uns für das Leben – insbesondere von Kindern – und gegen den Mord einsetzen sollen:
Aus dem Mund von Kindern und Säuglingen hast du ein
Lob bereitet um deiner Bedränger willen, um den Feind
und den Rachgierigen zum Schweigen zu bringen.
Psalm 8,3Was ist der Mensch, dass du an ihn gedenkst, und der
Sohn des Menschen, dass du auf ihn achtest?
Psalm 8,5Aber Jesus rief sie zu sich und sprach: Lasst die Kinder
zu mir kommen und wehrt ihnen nicht, denn solcher ist
das Reich Gottes.
Lukas 18,16
Fazit
Bevor man sich Gedanken über medizinische Diagnostik im Rahmen einer Schwangerschaft macht, sollte man sich als Christ zweier Dinge bewusst sein:
1. Jedes noch so kurze Leben ist in Gottes Augen würdig und vollendet; auch das Leben eines Kindes mit genetischen Auffälligkeiten, die nur eine geringe Lebenserwartung erhoffen lassen.
2. Jedes Ehepaar sollte bereit sein auch ein behindertes Kind (gegebenenfalls mit Hilfe) zu lieben und nach Gottes Willen groß zu ziehen. Man sollte darüber nachdenken, darüber mit seinem Ehepartner sprechen und kein Tabu-Thema daraus machen. Gleichzeitig müssen wir als Christen immer wieder darauf achten, dass unser Bild von Familie nicht durch Mainstream-Medien und eine Schein-Idylle, wie sie oftmals in den sozialen Netzwerken zu finden ist, geprägt wird, sondern durch die Bibel. Um in diesem Zusammenhang auf die pränatale Diagnostik zurückzukommen, sollten wir uns folgendes vor Augen führen: Mit dem Verschmelzen von Eizelle und Spermium entsteht neues Leben und ab diesem Zeitpunkt besteht auch eine elterliche Fürsorgepflicht. Das Wohl des Kindes sollte höchste Priorität haben. Alle pränatale Diagnostik, die das Leben und die Gesundheit des Ungeborenen und der Schwangeren fördert, kann dazu beitragen. Pauschal zusammengefasst fallen darunter alle Untersuchungen, die im Rahmen der Mutterschaftsrichtlinien durchgeführt werden. Pränatale Diagnostik im engeren Sinne, die die Existenz des Kindes durch eine Abtreibung zur Diskussion stellt, sollte als Christ abgelehnt werden. Der Weg zum Designer- Baby scheint heute nicht mehr allzu weit zu sein. Doch der Gläubige steht immer wieder vor der Frage: Vertraue ich Gott oder vertraue ich der Medizin, und damit Menschen, um Sicherheit, Beruhigung oder erfüllte Wünsche zu erlangen.
[2] „Rechnung mit vielen Unbekannten“, Deutsche Hebammen Zeitschrift. https://www.dhz-online.de/archiv/archiv-inhalt-heft/archiv-detail-leseprobe/artikel/rechnung-mit-vielen-unbekannten/ (zugegriffen 20. Mai 2022).
[3] „Vorgeburtliche Therapien: Pränataldiagnostik | Was? Wie? Wozu?“ http://www.xn--prnatal-info-hcb.at/de/moeglichkeiten-bei-auff aelligen-befunden/vorgeburtliche-therapien-der-ungeborene-patient.html (zugegriffen 13. November 2021).
[4] „Was ist Pränataldiagnostik?“ https://www.pnd-beratung.de/was-ist-praenataldiagnostik/#zahlen-und-fakten (zugegriffen 10.November 2021).
[5] „Ersttrimester-Screening: Untersuchungen zur Risikoeinschätzung“. https://www.familienplanung.de/schwangerschaft/praenataldiagnostik/risikoeinschaetzungen/ (zugegriffen 21. Mai 2022).
[6] G. de Graaf, F. Buckley, und B. G. Skotko, „Estimation of the number of people with Down syndrome in Europe“, Eur J Hum Genet, Bd. 29, Nr. 3, Art. Nr. 3, März 2021, doi:10.1038/s41431-020-00748-y.
[7] Spiegelautorin – anonym, „Die Angst vor dem eigenen Kind“, DER SPIEGEL, Bd. 30, S. 32–34, Juli 2022.
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Haben Verhütungsmittel eine abtreibende Wirkung?
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Von: Rahel Hedrich
Häufig kommt im Rahmen der Ehe die Frage der Familienplanung und damit die der Verhütung auf – eine theologische Einordnung findet sich im Artikel von Prof. Grisanti. Hier möchte ich mich auf die medizinischen Aspekte konzentrieren. Was nur Wenige wissen, ist, dass es Verhütungsmittel gibt, die abtreibend wirken können. Das bedeutet, dass die Einnistung einer befruchteten und damit lebensfähigen Eizelle in die Gebärmutter verhindert und somit bereits entstandenes Leben getötet wird. Dem steht entgegen, dass jedes Leben, auch das ungeborene, vollumfänglich Leben ist und damit umfassend geschützt gehört. Jedes Leben kommt von Gott.
Wenn jedoch bestimmte Verhütungsmittel entstandenes Leben abtreiben, lässt eine gesunde Ethik keinerlei Verwendung derselben zu.
Dieser Artikel soll eine Übersicht über die verschiedenen Möglichkeiten der Verhütungsmethoden und ihrer Wirkungsweisen geben. Dabei soll ein besonderer Schwerpunkt auf die Frage gelegt werden, welche von ihnen eine abtreibende Wirkung haben.
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Christ und Verhütung
Christ und Verhütung
Aktuelle Diskussion und theologische Orientierungshilfe
Autor: Prof. Michael A. Grisanti
In seinem Artikel geht Michael A. Grisanti ausführlich auf die gesellschaftliche Entwicklung und die medizinischen Aspekte von
Verhütungsmethoden ein und beleuchtet die Thematik anschließend im Licht der Bibel. Dabei gibt der achtfache Vater und Professor
für Altes Testament Ehepaaren einen biblisch begründeten Leitfaden an die Hand, um eine Familie(nplanung) zur Ehre Gottes
zu gestalten. Der Artikel, der im Original in englischer Sprache veröffentlicht wurde, ist hier in Auszügen abgedruckt und beschränkt sich auf die wesentlichen theologischen Aspekte und Standpunkte zu diesem Themenbereich.
Prof. Grisanti - Christ und Verhütung_CD[...]
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