Screentime statt Greentime – der Verlust der spielenden Kindheit und die Folgen
Screentime statt Greentime – der Verlust der spielenden Kindheit und die Folgen
Autoren: Alexander und Liane Blank
Ich (Alexander) war fünf Jahre alt, als ich mit meinem achtjährigen Bruder beim Spielen in Schwierigkeiten geriet. Wir wuchsen im Zentrum einer deutschen Großstadt auf, aber unsere Eltern trauten uns zu, draußen alleine zurechtzukommen. Wir fuhren mit dem Aufzug aus dem Hochhaus in die Fußgängerzone, nahmen die Rolltreppe hinaus aus dem Zentrum, überquerten eine Brücke über den Fluss und dort begann unser Abenteuer. Wir schauten über das Brückengeländer und sahen unten ein dichtes Gebüsch. Es war dunkel und dicht, aber wir entdeckten einen freien Platz, der irgendwie gemütlich wie ein Nest aussah. Also hüpften wir über das Geländer, ließen uns an der Betonwand herunterhängen, ein Sprung und dann saßen wir in unserer „Höhle". Der Bewegungsraum war ziemlich begrenzt und wir hatten nicht darüber nachgedacht, wie wir wieder herauskommen würden. Die Betonwand bot keinen Halt und das Gebüsch war zu dicht und stachelig, um hindurch zu klettern. Also machte ich eine Räuberleiter und schob meinen Bruder hoch. Er konnte nach dem Geländer greifen und sich hochziehen. Er war wieder auf der Brücke, aber ich saß fest. Mein Bruder lief nach Hause und holte unseren Vater zu Hilfe. Auch über 30 Jahre später erinnere ich mich gut daran, wie ich ununterbrochen nach oben schaute, nur ein kleiner Fleck Himmel über mir, und auf Rettung wartete.
1. Vom Spielen zum Glotzen
Eine Kindheit, wie wir sie in den 90er Jahren erlebten, ist heutzutage für die meisten Kinder in Städten und Vororten sehr weit von der Realität entfernt. Eltern bevorzugen es, ihre Kinder in professionelle Obhut zu geben oder zu Hause mit digitalen Medien zu beschäftigen. Im letzten Jahrzehnt haben Gesundheit und Leistungsfähigkeit bei Kindern und Jugendlichen in fast allen Bereichen abgenommen. Das Übergewicht hat um 50 % zugenommen. Die psychische Gesundheit der jungen Generation ist so stark beeinträchtigt, dass von einer Krise gesprochen wird: Autismus und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) werden häufiger diagnostiziert, Ängstlichkeit und die Suizidrate bei Jugendlichen steigen an. Depressionen haben sich bei 15- bis 19-Jährigen in Deutschland im Zeitraum von 2009 bis 2017 verdoppelt. Auch die kognitiven Leistungen sind beeinträchtigt. Der Intelligenzquotient nimmt in den westlichen Staaten ab, und laut PISA-Studie werden Lese- und Rechenfähigkeiten schlechter. Die Ursachen dafür sind bisher nicht vollständig verstanden, aber da diese Entwicklungen so rasant voranschreiten, geraten Umweltfaktoren der letzten 10 bis 15 Jahre in den Blick: Das Internet wurde um die Jahrtausendwende für den Normalbenutzer zugänglich, kurz darauf entstanden die großen Social-Media-Plattformen. Das iPhone wurde 2007 vorgestellt, und 2010 wurde die Frontkamera für Selfies eingeführt. Und obwohl die noch jüngeren Kinder meistens kein eigenes Gerät besitzen, sind sie täglich digitalen Medien ausgesetzt. Manche Eltern halten es bereits im Alter von wenigen Monaten für eine gute Idee, ihre Kinder mit Medienkonsum zu beruhigen, oder besser gesagt zu sedieren. Die Sicherheit der Mediennutzung für die physische und psychische Gesundheit sowie die Entwicklung wurde vor der Einführung nicht systematisch oder experimentell untersucht, wie es beispielsweise bei Medikamenten, Chemikalien oder technischen Geräten üblich ist. In den letzten Jahren häufen sich jedoch Hinweise auf negative Folgen.
2. Wieso sind digitale Medien so erfolgreich?
Die ständige Verfügbarkeit eines Geräts in der Hosentasche, das sofort einsatzbereit ist und keine Hürden bei der Nutzung aufweist, ist ein verlockender Grund dafür, dass Eltern es in herausfordernden Situationen als Babysitter verwenden und bereits Säuglingen und Kleinkindern anbieten. Die Wahrnehmung anderer Eindrücke, auch negativer, nimmt messbar ab. In der Medizin wird dieser Effekt beispielsweise genutzt, um Patienten bei schmerzhaften Interventionen abzulenken. Es funktioniert hervorragend als „Stillhalter“. Wird dem Kind der Bildschirm angeboten, können sich die Erwachsenen plötzlich in Ruhe unterhalten. Diese „positiven“ Erfahrungen üben auf beide Seiten, bei Eltern und Kindern, einen starken Wiederholungsreiz aus. Wenn Kinder selbstständig beginnen, mit Smartphones und Tablets zu interagieren, haben sie bei digitalen Geräten ein intensives, unmittelbares Erleben und nur ein geringes Frustrationsrisiko. Während beim Spielen mit Bausteinen der Turm immer wieder bei Ungeschicklichkeit zusammenfällt, rufen die intuitiv gestalteten Basisfunktionen von Smartphone und Tablet schnelle Erfolgserlebnisse hervor. Das digitale Spielen übt einen noch größeren Reiz aus, weil die Erfahrungen von Macht, Schönheit und Größe in der realen Welt in diesem Alter nicht zu erleben sind. Ein behüteter Alltag, der zunehmend als langweilig empfunden wird, wo Kinder natürlicherweise mit Frust, Niedergeschlagenheit und Hilflosigkeit zurechtkommen müssen, ist eine schwache Alternative. Die negativen Gefühle aus der Realität können am digitalen Gerät herabreguliert werden, da großartige Erfahrungen schnell erreicht werden. Unangenehme Dinge werden durch digitales Erleben schnell vergessen gemacht. Dies führt zu selbstverstärkendem Verhalten. Kinder fühlen sich nur noch wohl, wenn sie vor dem Gerät sitzen.
3. Freies und riskantes Spiel ist gesund
In den ersten drei Lebensjahren durchläuft das kindliche Gehirn wesentliche Prozesse der neuronalen Reifung und Strukturierung, die in vielen Bereichen, insbesondere in der sensomotorischen Entwicklung, abgeschlossen werden. Kinder benötigen daher umfassende Gelegenheiten, sich kreativ in der dreidimensionalen Welt zu betätigen und vielfältige reale Erfahrungen mit allen Sinnen zu sammeln. Die Effekte des zunehmenden digitalen Medienkonsums und des Verlusts von freiem Spiel sind schwer voneinander zu trennen, da sie sich gegenseitig bedingen. Unstrukturiertes und unbeaufsichtigtes Spiel wird zusätzlich durch professionelle Betreuung und ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis der Eltern reduziert. Freies Spiel ist jedoch für die Entwicklung von Kindern sowie für ihre körperliche, geistige und soziale Gesundheit essenziell. Der Drang, auf riskante Weise zu spielen, ist für Kinder entscheidend, um Mut, Selbstvertrauen und körperliche Fähigkeiten zu entwickeln. Mit diesem Wissen können sie die Herausforderungen und Notfälle des Lebens meistern. Diese Fähigkeit wird als Resilienz bezeichnet. In den letzten Jahrzehnten wurde Kindern im Westen zunehmend die Freiheit genommen, auf eigene, selbstbestimmte und riskante Weise zu spielen, fernab der Kontrolle durch Erwachsene. Dies liegt zum Teil daran, dass Sicherheitsmaßnahmen darauf abzielen, alle spielbezogenen Verletzungen zu verhindern, anstatt sich auf ernsthafte und tödliche Verletzungen zu konzentrieren. Langfristig sind Kinder jedoch einem größeren Risiko ausgesetzt, wenn wir ihnen riskantes Spiel vorenthalten, als wenn wir es zulassen. Das Verletzungsrisiko unstrukturierten Spiels ist niedriger als bei Sportarten, die von Erwachsenen angeleitet werden, zum Beispiel beim Fußballtraining. Während Eltern, Pädagogen und Ärzte in den letzten Jahren immer mehr und sehr erfolgreiche Regeln zur Risikoreduktion vor Verletzungen eingeführt haben, wurde der Medien- und Onlinebereich, wo es viele Gefahren für Kinder gibt, vernachlässigt. Ein 14-jähriges Mädchen beschrieb im Rückblick ihre unbeaufsichtigte Onlinezeit als Zehnjährige in einem Essay für eine amerikanische Zeitung folgendermaßen: „Wo war meine Mutter? Im Raum nebenan, und sorgte dafür, dass ich täglich neun unterschiedlich gefärbte Früchte und Gemüsesorten aß. Sie war aufmerksam, fast eine Helikoptermutter, aber trotzdem stieß ich im Internet zufällig auf Pornographie. Meine Freunde auch.“ Dies ist ein Beispiel für den beschriebenen Sachverhalt, dass wir unsere Kinder in der realen Welt zu sehr schützen, während wir es online zu wenig tun.
4. Die negativen Effekte von audiovisuellen Medien
Der Unterschied zwischen dem Spielen mit Kameraden und Gegenständen und dem einsamen, unbeweglichen Ansehen von YouTube-Videos im Autoplay-Modus ist enorm. Digitale Medien sind „Erfahrungsblocker“. Selbst wenn Kinder stundenlang gefesselt Filme über Fußball, Fußballer und Fußballtricks ansehen, werden sie dadurch nie das Spielen selbst erlernen. Ein Säugling lernt das Gehen nur durch Übung und nicht am Bildschirm. Für jede Stunde, die ein Kind am Bildschirm verbringt, nimmt seine Interaktion mit Eltern und Geschwistern um circa 1,5 Stunden ab. Offensichtlich benötigt die Verarbeitung des Gesehenen auch Zeit, in der das Kind nicht interagiert. Im Kleinkindalter sind zahlreiche nachteilige Folgen des Konsums von Bildschirmmedien dokumentiert. Kleinkinder können Emotionen schlechter regulieren, neigen zu autistischen Verhaltensweisen und ihre soziale Interaktion ist beeinträchtigt. Das Schlafmuster ist gestört: Widerstand beim Schlafengehen, nächtliches Erwachen und Tagesschläfrigkeit treten häufiger auf. Die Eltern-Kind-Beziehung ist beeinträchtigt und es treten mehr Verhaltensstörungen auf. Kognitive, sprachliche und motorische Verzögerungen bei Kleinkindern hängen signifikant mit der Bildschirmzeit zusammen. Das Vokabular ist geringer und exekutive Funktionen (zum Beispiel Planen und Entscheidungsfindung) bilden sich schlechter aus. Für die Computerspielsucht im Schulalter wird der Grundstein schon im Kleinkindalter gelegt. Auch wird der spätere Schulerfolg negativ beeinflusst und der BMI dieser Kinder ist nachhaltig höher. Außerdem muss die elterliche Seite beachtet werden. Durch die Mediennutzung der Eltern im Beisein der Kinder sinken die Zahl und die Qualität der Interaktionen mit den Kindern, welche die Grundlage für die Sprachentwicklung bilden. Kleinkinder, deren Eltern gestresst sind, nutzen Bildschirmmedien intensiver. Die Kinder lernen hier am Modell. Im Gegensatz zu den negativen Effekten von Bildschirmmedien zeigen zahlreiche Studien positive Effekte des Spiels im Grünen auf die physische und psychische Gesundheit in dieser Altersgruppe. Beispielsweise werden traurige Emotionen, Aggressionen und Unaufmerksamkeit reduziert. Es ist Konsens, dass die Dauer der Bildschirmzeit Auswirkung auf die Kognition hat. Je mehr Zeit mit Bildschirmmedien verbracht wird, desto größer sind die Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung. Bisher ist noch nicht geklärt, ob das Betrachten von Bildschirmen an sich eine direkte schädliche Wirkung hat, oder ob andere wichtige tägliche Aktivitäten wie Schlafen, sportliche Aktivität und soziale Interaktion verdrängt werden, die Bildschirmzeit also als Zeiträuber fungiert. In einigen Studien wurde eine Unterscheidung zwischen sitzendem Verhalten am Bildschirm und sitzendem Verhalten ohne Bildschirm (zum Beispiel Lesen) getroffen, wobei nur das Sitzen am Bildschirm mit psychischen Auffälligkeiten verbunden war. Zusammengefasst spricht vieles dafür, dass es direkte Effekte vom Bildschirmkonsum gibt. Die Auswirkungen auf lebenswichtige Fähigkeiten wie Einfallsreichtum, Handlungskompetenzen, handwerkliches Geschick sowie künstlerische, sportliche und musikalische Fähigkeiten und Neigungen sind derzeit nur schwer abschätzbar. Es ist jedoch zu befürchten, dass diese erheblich in Mitleidenschaft gezogen werden könnten. In der Zusammenstellung der Studienlage bleiben inhaltliche Aspekte, welche durch die Medien transportiert werden, unbeachtet. Viele Medienschaffende richten ihre politischen Botschaften mit Eifer speziell an Kinder, die sich als Heranwachsende in einer besonders sensiblen Phase befinden. Dies spielt beispielsweise bei von Genderdysphorie betroffenen Kindern eine nachgewiesene Rolle. Hierbei sollte der Einfluss von Medien auf die Entwicklung von Überzeugungen und Verhaltensweisen nicht unterschätzt werden.
5. Positive Effekte mit Nebenwirkungen
Aber was ist mit den positiven Effekten? Wie steht es um Lernprogramme und Lernvideos? Es gibt Nachweise, dass altersgerechte, hochwertige Videos das Vokabular und Wissen fördern. Dieser Effekt tritt jedoch erst ab einem Alter von etwa 2,5 Jahren ein und beschränkt sich auf hochwertige Inhalte, die unter elterlicher Begleitung genutzt werden. Die meisten angebotenen Programme sind jedoch stark auf Unterhaltung ausgerichtet und fördern antisoziales und aggressives Verhalten. Für Kinder unter 2,5 Jahren sind keine positiven Effekte von Lernvideos erkennbar. Sie können jedoch davon profitieren, über Videotelefonie Kontakt zu ihren Bezugspersonen zu halten. Jugendliche können durch die Nutzung digitaler Medien Fähigkeiten erlangen, die in ihrem späteren Berufsleben sonst schwerer zu erlernen wären. Beispielsweise zeigt sich ein verbessertes räumliches Verständnis. Dies bietet Chirurgen Vorteile beim Erlernen minimalinvasiver Verfahren, da das Gehirn auf eine gute Koordination von Hand und Bildschirm zurückgreifen kann. Dasselbe gilt auch für Piloten und Architekten. Sehr spezifische Fähigkeiten können an digitalen Geräten gut erlernt werden. Für Kleinkinder, die vor allem mit dem Erlernen von Motorik, Sprache und Verhalten beschäftigt sind, sind dies jedoch keine Bildungsziele, die zu ihren Schlüsselkompetenzen gehören und den Raum für neues Lernen eröffnen. Der Begriff „Medienkompetenz“ wird oft als wichtiger Bildungsbaustein in der modernen Welt propagiert. Er umfasst die Fähigkeit, Medien bewusst und kritisch zu nutzen, zu verstehen und selbst zu gestalten. Doch bei Kleinkindern fehlen die kognitiven Voraussetzungen, um Fiktion von Realität zu unterscheiden und eine kritische Distanz zum Medium zu entwickeln. Das Bedienen eines Touchscreen-Geräts ist keine Medienkompetenz im eigentlichen Sinne. Im Gegenteil, zu frühes Heranführen an digitale Medien kann dazu führen, dass ein tieferes Verständnis ausbleibt.
6. Die Empfehlungen der Fachgesellschaften
Die deutsche AWMF-Leitlinie „Leitlinie zur Prävention dysregulierten Bildschirmmediengebrauchs in Kindheit und Jugend“ empfiehlt:11
– Kinder unter drei Jahren sollten von jeglicher passiven und aktiven Nutzung von Bildschirmmedien ferngehalten werden.
– Wenn Eltern ihre Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren an die Nutzung von Bildschirmmedien heranführen möchten, sollte dies höchstens 30 Minuten an einzelnen Tagen gestattet werden und stets in Anwesenheit der Eltern erfolgen.
– Für Kinder im Alter von sechs bis neun Jahren sollte die freizeitliche Nutzung von Bildschirmmedien auf höchstens 30 bis 45 Minuten an einzelnen Tagen beschränkt sein.
– Bildschirmmedien sollten weder zur Belohnung,
Bestrafung noch zur Beruhigung eingesetzt werden.
– Während des Essens, insbesondere bei gemeinsamen Mahlzeiten, sollten keine Bildschirmmedien genutzt werden und es sollte auch nicht während der Nutzung von Bildschirmmedien gegessen werden.
– Eltern sollten sich für die digitalen Aktivitäten ihrer Kinder interessieren und diese kritisch begleiten. Die Fachgesellschaften aus dem angelsächsischen Raum sind in ihren Empfehlungen etwas liberaler, empfehlen aber, dass Kinder unter zwei Jahren grundsätzlich auf Bildschirme verzichten, und Kinder bis fünf Jahre nur hochwertige pädagogische Programme mit maximaler Dauer von 30 bis 60 Minuten pro Tag nutzen sollten.
Die Canadian Pediatric Society hat im Januar 2024 eine explizite Empfehlung zum riskanten Spiel herausgegeben und benennt dabei folgende Situationen, denen Kinder ausgesetzt werden sollen:12
– Höhe: Klettern, Springen, Balancieren in der Höhe
– Geschwindigkeit: Radfahren mit hoher Geschwindigkeit, Rodeln, Rutschen, Rennen
– Werkzeuge: Überwachte Aktivitäten mit Axt, Säge, Messer, Hammer oder Seilen (zum Beispiel Bau eines Unterschlupfs oder Schnitzen)
– potenziell gefährliche Elemente: Spielen in der Nähe von Feuer oder Wasser
– Raues und turbulentes Spiel: Ringen, spielerische Kämpfe, Fechten mit Stöcken
– Spiel mit Risiko des Verschwindens oder Verlorengehens: Erkunden von Spielplätzen, Nachbarschaften oder Wäldern ohne Aufsicht durch Erwachsene, oder im Fall von Kleinkindern mit begrenzter Aufsicht (zum Beispiel Verstecken hinter Büschen)
7. Unsere Empfehlung für Eltern
Wie lassen sich diese Empfehlungen konkret in den Alltag integrieren? Beginnen Sie mit der Reflexion Ihres eigenen Medienkonsums. Interessieren Sie sich für die Gedanken und Ideen Ihrer Kinder. Schaffen Sie Möglichkeiten zum Erleben von Abenteuern und Unabhängigkeit, zum Beispiel durch das Klettern auf Bäume oder das Schnitzen mit einem Taschenmesser. Wenn bereits eine problematische Mediennutzung vorliegt, schaffen Sie attraktive Alternativen. Klare Familienregeln, die alle Familienmitglieder kennen und einhalten, sind für Kinder leichter zu akzeptieren, als wenn täglich neue Bildschirmzeiten ausdiskutiert werden müssen. Wenn Sie Bildschirmmedien zulassen, setzen Sie sich zu Ihrem Kind und begleiten Sie die Nutzung. Videotelefonate mit Bezugspersonen, wie den Großeltern, oder das Anschauen von Fotos vergangener Ereignisse sind unproblematisch. Aber auch hier sehen wir bei unseren Kindern einen kaum zu sättigenden Hunger. Eine Zeitbegrenzung ist auch bei diesen harmlosen Tätigkeiten sinnvoll. Verwenden Sie Medien nicht als Trost- oder Beruhigungsmittel. Kinder verinnerlichen, dass negative Emotionen mit digitalen Medien in den Hintergrund gedrängt werden können, sollen aber andere Bewältigungsstrategien entwickeln.
8. Fazit
Es besteht in unserer Gesellschaft für Mediennutzung im Kindesalter erstaunlich wenig Problembewusstsein. Die Datenlage ist gerade für das Kleinkindalter eindeutig und die Folgen auf das kindliche Gehirn sind beklemmend. Das Narrativ von früh erlernter Medienkompetenz hält sich aber selbst unter sonst kritischen und reflektierten Eltern aufrecht. Es ist höchste Zeit, dass wir den Wert des freien Spiels wiederentdecken und den Bildschirm gegen das echte Leben eintauschen.
1 Norddeutscher Rundfunk, Krankhaftes Übergewicht bei Kindern nimmt zu. [Online]. Verfügbar unter: https://www.tagesschau.de/ wissen/gesundheit/kinder-uebergewicht-101.html.
2 Ärzteblatt, Depressionen machen Kindern und Jugendlichen zunehmend zu schaffen. [Online]. Verfügbar unter: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/105287/Depressionen-machen-Kindern-und-Jugendlichen-zunehmend-zu-schaffen.
3 Deutschlandfunk, Deutsche Schulleistungen sinken weiter. [Online]. Verfügbar unter: https://www.deutschlandfunk.de/pisa-studie-2022-102.html.
4 Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, JIM-Studie & KIM-Studie. [Online]. Verfügbar unter: mpfs.de (Zugriff am: 21. Juli 2024).
5 M. Brussoni et al., "What is the Relationship between Risky Outdoor Play and Health in Children? A Systematic Review" (eng), International journal of environmental research and public health, Jg. 12, Nr. 6, S. 6423–6454, 2015, doi: 10.3390/ijerph120606423.
6 J. Haidt, The anxious generation: How the great rewiring of childhood is causing an epidemic of mental illness. New York: Penguin Press, 2024. Inzwischen in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Generation Angst“ erhältlich Online-Ressourcen mit den kollaborativen Reviews zu diesem Buch sind ein wahrer Schatz. Zu finden unter: https://www.anxiousgeneration.com/research/collaborative-review-docs
7 T. K. Oswald, A. R. Rumbold, S. G. E. Kedzior und V. M. Moore, "Psychological impacts of "screen time" and "green time" for children and adolescents: A systematic scoping review" (eng), PloS one, Jg. 15, Nr. 9, e0237725, 2020, doi: 10.1371/journal.pone.0237725.
8 B. Guellai, E. Somogyi, R. Esseily und A. Chopin, "Effects of screen exposure on young children's cognitive development: A review" (eng), Frontiers in psychology, Jg. 13, S. 923370, 2022, doi: 10.3389/fpsyg.2022.923370.
9 S. P. Suggate und P. Martzog, "Screen-time influences children's mental imagery performance" (eng), Developmental science, Jg. 23, Nr. 6, e12978, 2020, doi: 10.1111/desc.12978).
10 A. Leonhardt, M. Fuchs, M. Gander und K. Sevecke, "Geschlechtsdysphorie in der Adoleszenz: Die Rapid-Onset-Hypothese auf dem Prüfstand" (eng), Neuropsychiatrie: Klinik, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation: Organ der Gesellschaft Österreichischer Nervenärzte und Psychiater, 2024, doi: 10.1007/s40211-024-00500-8.
11 Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e. V., Leitlinie zur Prävention dysregulierten Bildschirmmediengebrauchs in Kindheit und Jugend. [Online]. Verfügbar unter: https://leitlinie.bildschirmfrei-bis-3.de/.
12 E. Beaulieu und S. Beno, Healthy childhood development through outdoor risky play: Navigating the balance with injury prevention. [Online]. Verfügbar unter: https://cps.ca/en/documents/position/outdoor-risky-play.
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Ich bin krank gewesen & ihr habt mich besucht
Ich bin krank gewesen & ihr habt mich besucht
Autor: Inge Fischer
Innerhalb meiner Beschäftigung mit dem Christentum in der Antike, insbesondere mit der damaligen Krankenversorgung, beeindruckte mich sehr, wie unerschrocken Christen auch angesichts eigener Gefährdung für Leib und Leben Kranke und Schwache pflegten. Der damalige Staat hatte nichts für diese Menschen übrig. Kranke oder schwache Menschen galten als wert- und nutzlos. Doch in der Bibel in Matthäus 25,36b finden wir die entgegenstehende Aussage: „Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht.“ Christen füllten durch ihre Hingabe an Gott Lücken aus, die ein gottloser Staat zu schließen nicht willens und auch nicht fähig war. Die Angst vor Ansteckung und Gefahr war für die Menschen oft zu groß, um ans Helfen Schwacher überhaupt zu denken. Das praktische Zeugnis der Christen für ihren Gott der Liebe dagegen, nämlich sogar das Risiko in Kauf zu nehmen, selber krank zu werden oder zu sterben, war immens und beeindruckend. Die Christen setzten praktisch um, was es heißt, Gott und den Nächsten zu lieben. Sie hatten eine Antwort auf aussichtslose Situationen. Wie ist es heute? Sind Christen heute nicht genauso aufgerufen, Lücken zu füllen, die sich auftun? Dieser Gedanke beschäftigte mich so sehr, dass ich den Entschluss fasste, Patienten im Krankenhaus zu besuchen. Denn sie erleben immer mehr, wie hektisch die Behandlungsprozesse ablaufen und wie kaum noch Zeit für ihre innere Not aufgebracht werden kann. Barmherzigkeit und Nächstenliebe in der Pflege sind heute nicht die ersten Prämissen, die in der Ausbildung vermittelt werden. Wachsender Personalmangel und Zeitdruck erschweren eine notwendige Zuwendung zusätzlich. Die starke ökonomische Ausrichtung in den Gesundheitseinrichtungen sorgt dafür, dass eine adäquate und für beide Seiten zufriedenstellende empathische Begleitung durch die Mitarbeiter oft unmöglich ist. Sie verstellt auch die Tatsache, dass Kranke niemals und schon gar nicht primär mit der betriebswirtschaftlichen Sicht des Kunden in Verbindung gebracht werden können, was leider zunehmend der Fall ist. Aber sind diese genannten Entwicklungen die alleinigen Gründe für diese Zustände? Fehlt nicht auch der Blick für die wahre Situation vieler Patienten? Denn Krankheit und gesundheitliche Einschränkungen stellen oft lebensverändernde Einschnitte dar, die Angst machen. Das bisher gewohnte Leben kann manchmal ganz schnell aus den Fugen geraten und Fragen brechen auf, zum Beispiel nach Sinn und Ziel des Lebens. Manche Patienten sehnen sich gerade deshalb nach Zuwendung, Trost und Ermutigung. Wenn nicht mehr das Essen und die Zimmerqualität die erste Rolle spielen, was können Beschäftigte im Gesundheitswesen darüber hinaus geben? Sind sie selber getröstete und hoffnungsvolle Menschen? Woher beziehen sie Hoffnung? Welchen Trost haben sie, wenn Medizin nicht mehr helfen kann und Pflegekräfte ohnmächtig vor manchen Situationen stehen? Nach Beendigung meines langen Berufslebens in verschiedenen Funktionen des Pflegedienstes (Praxis, Lehre, Leitung), entschloss ich mich, am ehrenamtlichen Besuchsdienst im Krankenhaus meiner Region teilzunehmen. Die Organisation und das Tätigkeitsspektrum dieser sogenannten Grünen Damen können sich innerhalb der Krankenhäuser unterscheiden – je nach Leitung und Ausgestaltung vor Ort. Bei uns ist es so, dass jede Mitarbeiterin eine feste Station bekommt und sich auf einen bestimmten Wochentag festlegt. Wir sind völlig frei in unserem Einsatz, auch zu welcher Uhrzeit wir kommen oder wie lange wir bleiben. Genau das hat mich ermutigt und mir entsprochen! In einem Informationspapier, das mir die Leiterin in der Einführung aushändigte, stand zum Profil des Dienstes: kleine Handreichungen, Hilfe zur Selbsthilfe, bei essen und trinken unterstützen, uns Zeit nehmen für die Kranken, mit ihnen sprechen, zu schweigen, zu beten, Angehörige begleiten und zeitweise entlasten, Mut machen. „Beten“, das ermutigte mich. Denn ich hatte bereits davon gehört, dass es in manchen Einrichtungen verboten sei, zu missionieren. Man müsse sich „neutral“ verhalten. Und nun sah ich sozusagen grünes Licht dafür, nämlich wenn Gott es schenken würde, auf ihn hinzuweisen und sein Wort weiterzugeben. So gehe ich über die Station, ausgerüstet zum Beispiel mit schönen Bildkarten mit Bibelvers und Texten oder kleinen Broschüren. Das alles befindet sich in meiner Kitteltasche. Gerüstet zu sein heißt aber auch, im Vertrauen auf den Herrn zu gehen und zu beten. Deshalb bin ich für Gebetsunterstützung dankbar. Nach einem Dreivierteljahr als Grüne Dame konnte ich feststellen, dass dieses Ehrenamt überwiegend positiv auf- und angenommen wird. Auch wenn natürlich nicht alle Patienten den Dienst in Anspruch nehmen, so begrüßen es bisher die meisten, dass es ihn überhaupt gibt. Ich weiß nie, was mich erwartet, wenn ich auf der Station beginne. Vom Pflegepersonal darf ich eine Patientenliste erbitten. Darauf stehen Name, Zimmernummer und Alter der Patienten. Zusätzlich auch manche Hinweise, wie zum Beispiel, dass eine Reha oder eine bestimmte Untersuchung geplant ist. Das Pflegepersonal selbst äußert sich mir gegenüber so gut wie nicht. Aber die Anwesenheit der Grünen Dame ist es gewohnt und lässt sie frei gewähren. Die Fluktuation der Pflegekräfte nehme ich als hoch und die Verweildauer der Patienten als kurz wahr. Selten sehe ich einen Patienten zweimal. Ich bin auf einer großen chirurgischen Station tätig. Dort gibt es 33 Zimmer mit jeweils zwei bis drei Betten. Die Station ist fast immer voll belegt und nicht immer schaffe ich es, in alle Zimmer zu gehen. Bevor ich anklopfe, bete ich kurz still. Dann trete ich ein und begrüße die Patienten. Mir ist es wichtig, einen ruhigen, freundlichen, aber auch einen munteren Ton zu finden. Manchmal gibt es bereits eine Reaktion eines Patienten und ich stelle mich darauf ein, so gut ich kann. Augenkontakt ist sehr wichtig und wenn ich merke, dass mir der Patient vertraut, ist das eine gute Ausgangssituation für alles Weitere. Ich laufe nicht zu schnell von Bett zu Bett, sondern bleibe vor den Betten stehen und schaue in die Gesichter der Patienten. Nie geht es nach Schema F und das ist sehr interessant und abwechslungsreich. Manche Patienten fragen etwas oder wollen Näheres zu meinem Dienst wissen. Manchmal frage ich etwas oder ich entdecke einen Anknüpfungspunkt für ein Gespräch. Zum Beispiel nehme ich wahr, dass etwas auf dem Boden liegt, dass der Patient nicht gut liegt, dass gelüftet werden müsste, dass die Wasserflaschen (die jeder Patient bekommt) leer sind, und so weiter. Oder ich sehe Hilfsmittel und Verbände am Körper, die mir als gelernte Krankenschwester vermitteln, um welches Gesundheitsproblem es sich handeln könnte. Ich staune oft, wie bereitwillig mir viele Patienten dann auf eine Frage von mir zu erzählen beginnen. So entwickelt sich manchmal ein Gespräch, in dem ich mehr über den Patienten, seine Situation und seine Empfindungen erfahre. Von einigen Begegnungen will ich berichten: Da war ein selbstständiger Unternehmer, der nach einem Unfall nun einige Monate ausfallen wird. Meine erste Vermutung war, dass er als jüngerer, auf mich modern wirkender Mann möglicherweise nichts mit Glauben am Hut haben könnte. Nachdem ich ihm zuhörte, welche Auswirkungen sein Unfall für sein Geschäft haben würde, schaute er auf das Kreuz im Patientenzimmer und meinte, dass Gott wohl wisse, was er täte. So konnte ich anknüpfen und er nahm auch eine Karte mit einem biblischen Wort an. Ein anderer Patient saß am Tisch vor seinem Laptop. Es schien so, dass er kein Interesse an einem Besuch hatte. Eine banale Frage meinerseits, ob er beruflich am Laptop arbeiten würde, führte dann doch dazu, dass er anfing von seiner Situation zu erzählen. Er wurde von einer schlechten Diagnose überrascht und war nun beschäftigt damit, ein aus seiner Sicht dafür besser geeignetes Krankenhaus zu finden. Auch sagte er mir, dass er selbst keinen Glauben an Gott brauche. Wenn den jemand brauche, dann würde er das akzeptieren, aber er selbst brauche das nicht. Er lasse die anderen leben, wie sie wollen und so wünsche er auch behandelt zu werden. Ich stockte innerlich. Was kann ich jetzt sagen? Und dann erlebte ich, dass ich doch Worte finden durfte, um ihn „vorsichtig“ dafür zu gewinnen, dass es ernst damit sei, wie Gott der Schöpfer über unser Leben denken würde. Zum Schluss nahm er dann doch ein Bibelwort an. Er steckte es in seine Handytasche. Ich frage übrigens immer, ob ein Patient die Karte oder das Heft haben will. Aus solchen Situationen lerne ich, wie ich mich in meiner Einschätzung eines Menschen täuschen kann und manch einer doch nicht so sicher ist, wenn er meint, Jesus Christus nicht zu brauchen. Ein anderes Mal stand ich am Bett einer alten Patientin, die sehr schwach war. Ziemlich unvermittelt sagte sie: „Dass Jesus sterben musste, das verstehe ich nicht.“ Darauf durfte ich mir etwas Zeit nehmen und ihr erläutern, warum Jesu Tod für uns notwendig war, und dass wir ihn als Erlöser annehmen müssen. Was sie damit machen wird, konnte ich nicht mehr erfahren. So viele Faktoren spielen eine Rolle dabei. Wen habe ich vor mir? In welcher Situation befindet er sich? Welche Not, welche Frage hat er? Geht es ihm nur um belangloses Reden, etwa, um lediglich Ablenkung zu finden? Oft entdecke ich erst während des Gespräches, was zu sagen ist. Es ist eine Gratwanderung, im Gespräch warten zu können, aber auch im richtigen Moment das Richtige zu sagen. Sowieso ist es unglaublich herausfordernd, Menschen, die man nicht kennt, zu begegnen und hilfreich für sie sein zu dürfen. Und dann dem Herrn zu überlassen, was er mit dem ausgestreuten Wort macht. Ihm und seiner Macht will ich vertrauen. Ich habe mich auch damit beschäftigt, wie Jesus Kranken begegnet ist. Besonders im Lukasevangelium ist viel darüber zu finden. Davon kann ich viel lernen. So hat Jesus zum Beispiel nach dem Willen des Kranken gefragt und er hatte immer seinen geistlichen Zustand im Blick. An einem anderen Tag saß ich am Bett einer schwerkranken älteren Patientin. Vorher fragte ich sie, ob ich mich setzen dürfe. Es war in einem Einzelzimmer. Im Gespräch fasste ich Mut, sie zu fragen, wie sie über Ewigkeit denken würde. Ich war entsetzt, als sie antwortete: „Das lasse ich offen.“ Innerlich bewegt, dass sie von meinem Gesamteindruck her wohl nicht mehr lange zu leben hatte, sagte ich ihr, dass wir alle einmal vor Gott stehen und dass wir die Erlösung durch Jesus Christus brauchen würden, weil wir ohne ihn verloren sind. Sie reagierte nicht darauf. Ich fragte, ob ich ihr etwas vorlesen darf. Das bejahte sie und ich hatte einen passenden Text zu Psalm 23 dabei, den ich las. Mit diesem Psalm habe ich der Patientin erklärt, dass der Herr Jesus dieser gute Hirte ist und die Menschen ruft. Ich betete noch dafür, dass sich die Patientin diesem Herrn zuwenden möge. Bei dieser Situation konnte ich nicht anders, als „steil“ einzusteigen und von der Ewigkeit zu sprechen. Ich sah ja wie schlecht es der Frau ging. Und doch ist es so, dass der Herr mich führen und mir aufs Herz legen muss, was ich sagen soll. Ohne ihn kann ich nichts tun, wie es uns Johannes 15,5 sagt! Einen alten Herrn traf ich fertig angezogen auf seinem Bett sitzend an, seine Tasche war gepackt. Er wartete auf sein Taxi. Wir kamen ins Gespräch. Er erzählte mir, dass er gestern wegen eines Leistenbruchs operiert worden war. Den habe er sich vermutlich beim „Lupfen“ seiner Frau zugezogen, die in der Mobilität eingeschränkt sei. Nun sei die Ehefrau selbst in einem anderen Krankenhaus, weil eine Unterschenkelamputation vorgenommen werden musste. Wie dann die häusliche Situation gemeistert werden könne, sei noch unklar. Er wirkte allerdings nicht niedergeschlagen deswegen. Als ich den Glauben ins Gespräch brachte und ihm ein Bibelwort anbot, lehnte er mit der Begründung ab, dass er die Tasche ja schon gepackt habe. Dann begann er mir zu erklären, dass Gott die Menschen gar nicht vor Gericht ziehen könnte. Millionen von Menschen wären im Krieg verstümmelt worden und es kämen immer wieder Tote hinzu, die er nicht „zusammensetzen“ könne. Unglaublich, dachte ich, was sich Menschen so zurecht denken. Er zeigte sich wenig bereit, zu überlegen, dass der einzige Gott des Himmels und der Erde heilig und allmächtig ist und dass es für ihn kein Problem ist, seine Geschöpfe zur Verantwortung zu ziehen. Später meinte er, er hätte auch ein bisschen Spaß gemacht. Wir wurden unterbrochen. Eine Krankenschwester kam herein, dann eine Ärztin. Ich verabschiedete mich von Erich, so sollte ich ihn anreden. Er meinte noch, es sei schade, dass wir nicht noch weiterreden könnten. Ich ging ins nächste Zimmer. Danach schaute ich aber nochmal bei ihm vorbei. Er war noch da und allein mit dem Mitpatienten. Ich sprach ihn erneut an und verdeutlichte ihm, dass es für mich kein Spaß ist, wenn man über solche ernsten Dinge wie vorhin sprechen würde. Ich legte ihm sehr nahe, die Bibel zu lesen, um zu erfahren, was wirklich wahr ist. Dann wurde er abgeholt, weil das Taxi da war. Ein Mann in einem Dreibettzimmer, der einer Wirbelsäulenoperation entgegensah, erzählte mir bereitwillig von seiner Situation. Ich staunte wieder, dass ein Patient auf eine anteilnehmende Frage von mir so bereitwillig anfängt zu erzählen. Dieser Mann, im Arbeitsleben stehend, geschieden und ohne Anteilnahme seiner Eltern, muss schauen, wer ihm Wäsche bringt. Ich dachte darüber nach, wie viele Scherben es in seinem Leben gibt. Hier fragte ich, wie er denn damit zurechtkommt, wenn so manches in seinem Leben nicht gut läuft. Die Antwort war oberflächlich. Für mich bot dies einen Anlass, um ihm zu sagen, wie ich als Christin mit Niederlagen und Problemen umgehen darf. Dass ich einen Gott und Herrn habe, dem ich vertrauen, den ich um Hilfe bitten darf. Darauf antwortete er: „Ich bin Heide.“ „Wie tragfähig ist das?“, fragte ich zurück. Darauf hatte er eigentlich keine Antwort. Er signalisierte mir gegenüber in Bezug auf den Glauben eher Ablehnung. Wir kamen trotzdem noch über das Leben und über Hoffnung ins Gespräch. Ich erzählte, was mir der Glaube an Jesus bedeutet und dass ich weiß, dass er in allen Situationen meines Lebens dabei ist und immer das Beste will. Was aus dem Gespräch wird, muss ich Gott überlassen. Ich finde es erschreckend, wenn Menschen die wichtigsten Fragen, nämlich, was der Sinn des Lebens ist, was nach dem Tod kommt und das sicherste Ereignis im Leben, nämlich sterben zu müssen, derartig verdrängen oder oberflächlich behandeln. Nicht nur einmal erlebte ich das bei meinen Besuchen. Leider treffe ich immer wieder Oberflächlichkeit an, die mich traurig macht. Manchmal fühle ich mich auch hilflos und mutlos. Deshalb möchte ich nach solchen Begegnungen vor allem für die Menschen beten und sie dem Herrn anbefehlen. Gott ist immer noch mächtig und kann zu ihren Herzen reden. Ein anderes Mal kam ich in ein Einzelzimmer. Die Patientin hatte ein künstliches Kniegelenk bekommen. Ich brachte mein Staunen zum Ausdruck, dass sie so sportlich wirke und doch einen Gelenkersatz gebraucht hätte. Das Gespräch kam in Gang. Sie hätte größeren Blutverlust nach der OP erlitten und fühle sich noch schwach. Ich meinte, dass ich dann doch lieber gehen würde, damit sie zur Ruhe kommen könnte. Doch sie wollte, dass ich einen Stuhl nehme und dableiben sollte. Mir kam es bei ihren Fragen so vor, als wenn sie meine Motivation für den Dienst abtasten wollte. Sie selber könnte Kranke nicht versorgen. Wie man das bewältigen könne? Und dann: „Ohne Glauben an Gott kann ich mir mein Leben nicht vorstellen.“ Darauf konnte ich antworten „Ich auch nicht“. Sie reichte mir die Hand. Wir sprachen über Jesus, der der Herr unseres Lebens geworden ist. Ich freute mich, dass sie darum bat, gemeinsam zu beten. Kranke Glaubensgeschwister zu ermutigen ist ebenfalls ein wichtiger Dienst. Bis jetzt habe ich allerdings erst zwei gläubige Patienten kennenlernen dürfen. Bei einem anderen Gespräch hielt ich mich gerade auf dem Flur der Station auf, als mich ein Angehöriger ansprach. Er erzählte mir, wie lange er mit seiner kranken Frau in der Notaufnahme warten musste, bis man sich ihr zuwandte. Weiterhin erzählte er, dass er katholisch sei und dann im Zusammenhang mit den Problemen unserer Zeit meinte er: „Der liebe Gott war vielleicht etwas müde, als er den Menschen ja erst zum Schluss der Schöpfung geschaffen hat, weil der Mensch doch nicht so gut ausgefallen ist.“ Wie wenig wissen Menschen der Kirche vom Wort Gottes, kam es mir in den Kopf. Ich sagte ihm, dass Gottes Wort berichtet, dass der Schöpfer die Erschaffung des Menschen sogar als „sehr gut“ bezeichnet hat. Dass aber danach ein schreckliches Ereignis passiert ist, nämlich der Sündenfall und dann war der Mensch leider nicht mehr sehr gut. Wir brauchen deshalb die Erlösung von der Sünde und das hat Gott auch für uns „geregelt“, durch seinen Sohn, der für uns am Kreuz gestorben ist. Immer wieder lassen sich einzelne Patienten trösten. Ich wurde schon davon überrascht, dass mir Patienten zunächst nicht so vorkamen, als wenn sie innere Nöte hätten. Erst nach ein paar Sätzen, meinem Blick in ihre Augen, meiner vorsichtigen Nachfrage, öffnete sich manch einer dann doch. Dafür bin ich dann immer besonders dankbar und biete ein Bibelwort an. Immer wieder wird es im Anschluss an ein Gespräch angenommen. Einzelne Patienten fragen auch, wann und ob ich wiederkomme. Ich lerne bei diesem Besuchsdienst viel – über die Menschen, aber auch über mich. So wird mir deutlich, dass ich ohne meinen Herrn gar nicht wüsste, wie ich den mir fremden Menschen weise begegnen könnte. Und dass ich vor Augen habe, dass sie Gottes geliebte Geschöpfe sind, die er ruft. Wenn ich viele ältere Patienten treffe, dann steht mir sehr klar vor Augen, wie schnell das Leben vergeht und wie es treffsicher im Buch des Predigers Salomo heißt: „Und gedenke an deinen Schöpfer in den Tagen deiner Jugend, ehe die bösen Tage kommen und die Jahre herzutreten, da du wirst sagen: sie gefallen mir nicht.“ (Prediger 12,1) Zeiten der Krankheit und Not sind Gelegenheiten, sein Leben vor Gott zu ordnen, ihn zu suchen, die eigene Erlösungsbedürftigkeit und das Heil in Christus zu erkennen und anzunehmen. Möge Gott schenken, dass verlorene Menschen die Chance bekommen, im Krankenhaus von Christus hören. Deshalb bin ich froh, wenn diese Möglichkeit der Krankenbesuche noch lange bestehen bleibt und Gott diesen Dienst zu seiner Ehre gebrauchen kann.
1 Schmidt, Alvin J., Wie das Christentum die Welt veränderte, Resch Verlag, S. 147 ff, S. 179 ff.
2 Bei Grünen Damen oder Grünen Herren handelt es sich um Ehrenamtliche, die in der Evangelischen Kranken- und Alten-Hilfe e. V. (eKH) in Deutschland organisiert sind. Sie unterstützen Patienten und Pflegebedürftige sowie deren Angehörige in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Der Name Grüne Damen/Herren bezieht sich auf die Farbe der Kittel, welche die Ehrenamtlichen tragen.
Viel hilft viel – maximale Erfolge durch maximale Therapie?
Viel hilft viel – maximale Erfolge durch maximale Therapie?
Autor: Markus Vogel
Eine der vielen Spritzenpumpen gibt lautstark Alarm, bald muss das in ihr befindliche Medikament erneuert werden. Es dient der Kreislaufunterstützung und wird als eines von vielen Medikamenten kontinuierlich in einen Zugang am Hals des Patienten geleitet. Am Kopfende des Bettes meldet sich das Beatmungsgerät, denn die Beatmungsdrücke, mit denen der Apparat Luft in die Lunge drückt, müssen angepasst werden. An der anderen Seite übernimmt eine große Maschine den Nierenersatz, indem sie stetig das Blut von Schadstoffen befreit. Der Patient bekommt von alldem wenig mit, er befindet sich in einem tiefen künstlichen Koma. Ein solches Szenario ist wohl für die meisten Menschen hierzulande eine schreckliche Vorstellung, sowohl als Patient als auch als Angehöriger. Viele wünschen sich, nie eine Intensivstation betreten zu müssen. Und doch kann es für viele Menschen plötzlich zur Realität werden. Diese Station gilt als Schnittstelle zwischen Leben und Tod und als Inbegriff des medizinischen Konzepts der Maximaltherapie, in der das komplette medikamentöse und technische Repertoire moderner Medizin ausgenutzt wird. Seit Jahren und spätestens seit der Coronapandemie ist diese „Höchstform“ der Medizin heiß diskutiert worden. Wer soll eine Maximaltherapie erhalten? Wann ist Maximaltherapie sinnvoll? Wie lässt sich Übertherapie als Abgrenzung zur Maximaltherapie verhindern? Und was genau ist unter Maximaltherapie überhaupt zu verstehen? Solche und viele weitere Fragen stellen sich in der Diskussion um das Prinzip der Maximaltherapie.
1. Großes Spektrum
Der Begriff legt es bereits nahe: Bei der Maximaltherapie handelt es sich um die Ausschöpfung der am Patienten anwendbaren Therapiemöglichkeiten, seien sie medikamentös, maschinell oder interventionell. Im Allgemeinen wird Maximaltherapie mit intensivmedizinischer Behandlung gleichgesetzt, jedoch gibt es auch hier wichtige Aspekte zur Einordnung des Begriffs. Zum einen ist Maximaltherapie oft standortabhängig. In der Coronapandemie bestand die Maximaltherapie beim schweren Lungenversagen aus dem Lungenersatz mittels ECMO (Extrakorporale Membranoxygenierung), bei der das Blut außerhalb des Körpers mit Sauerstoff angereichert wird. Diese Therapie können nur große Kliniken mit ausreichend erfahrenem Personal in begrenzter Menge anbieten. Deshalb war es durchaus möglich, dass Patienten mit Lungenversagen eben nicht immer die Maximaltherapie erhielten, auch wenn es die maximale Intensivtherapie des behandelnden Krankenhauses war. Zum anderen ist Maximaltherapie auch ein situativer Begriff, denn nicht nur Patienten auf Intensivstationen nehmen eine Maximaltherapie in Anspruch, auch viele andere Fachgebiete setzen dieses Konzept um. In der Onkologie existieren beispielsweise viele für den Patienten sehr belastende maximale Therapieansätze. Ein Blasenkrebs, der die Muskelschicht des Organs befallen hat, wird in der Regel mit einer relativ nebenwirkungsreichen Chemotherapie vor- und nachbehandelt und zieht die komplette Entfernung der Blase mit kompliziertem und funktionell eingeschränktem Blasenersatz nach sich. Auch Strahlentherapien können zum Einsatz kommen. Ein Patient, der eine Maßnahme dieses Therapieschemas ablehnt, erhält formal keine Maximaltherapie seiner Erkrankung mehr. Ebenso ein sehr betagter Patient mit weit fortgeschrittener Nierenerkrankung, der eigentlich eine dauerhafte Dialysetherapie erhalten müsste, sich aber dagegen entscheidet. Auch er lehnt die Maximaltherapie in seiner Situation ab. Es wird deutlich, dass Maximaltherapie ein sehr vielgestaltiger Begriff ist und vorrangig, aber nicht ausschließlich, für die Intensivtherapie verwendet wird. Große Leistungen Die Medizin hat in den letzten 100 Jahren große Fortschritte gemacht. Viele Verfahren wurden entwickelt, um Krankheiten zu behandeln, hinauszuzögern und Symptome zu lindern. Es darf als Geschenk Gottes verstanden werden, in einer Zeit zu leben, in der viele Krankheiten als Banalitäten und nicht lebensverkürzend gelten. Und auch auf dem Gebiet der maximalen Intensivtherapie dürfen wir neben dem kritisch zu hinterfragenden Umfang dankbar sein, dass in schweren Krankheitssituationen ein künstlicher Organersatz flächendeckend zur Verfügung steht. Die Funktion von Lunge, Nieren und dem Herzen können heute unterstützt und ersetzt werden. Dazu steht ein großes Repertoire an hochwirksamen Medikamenten zur Kreislaufunterstützung, Schmerztherapie und Narkose bereit. In kritischen Situationen kann eine maximale Intensivtherapie Großes leisten. Auch wenn nur bei wenigen Patienten eine Restitutio ad integrum, also die vollständige Wiederherstellung der Gesundheit zu erreichen ist, so hilft die Maximaltherapie oft eine gewisse Lebensqualität wiederherzustellen. Im Mittel verlassen knapp 85 % aller schwerkranken Behandelten die Intensivstation lebend.
2. Großes Konfliktpotential
Jedoch muss ein maximaltherapeutischer Ansatz auch in sinnvollen Grenzen stattfinden. Nicht zuletzt, weil eine Übertherapie, also das Hinausgehen über die für den Patienten in seiner Situation angezeigte Therapie, medizinisch, ethisch und auch wirtschaftlich höchst bedenklich ist. Zum einen ist die richtige Indikation, also die fachgerechte Begründung für eine Maximaltherapie, sorgfältig zu stellen. In diese Entscheidungsfindung sollten einige wichtige Faktoren eingehen, wie etwa die zugrunde liegende Erkrankung, der körperliche und psychische Zustand des Patienten und nicht zuletzt der (manchmal auch nur mutmaßliche) Patientenwille. Gerade letzterer spielt in der Entscheidungsfindung eine wichtige Rolle, denn hier sind Konflikte im Behandlungsteam und mit Angehörigen nicht selten. Für den Behandler ist es von großer Bedeutung, durch gute Aufklärung und Gespräch eine fundierte Entscheidung mit dem Patienten zu erarbeiten. Denn es kann sowohl sein, dass ein Patient eine mögliche Maximaltherapie, entgegen der ärztlichen Empfehlung ablehnt, als auch eine Maximierung der Therapie entgegen des ärztlichen Rats fordert. Doch ebenso wichtig wie die Entscheidung zum Beginn einer Maximaltherapie, ist die Entscheidung zur Aufrechterhaltung dieser. Im Prozess muss regelmäßig evaluiert werden, ob das gesetzte Ziel noch erreichbar ist und wie der Verlauf der Erkrankung verbessert werden könnte. Gegebenenfalls müssen dann Therapie und Ziele neu angepasst werden und in manchen Fällen die Therapie deeskaliert oder sogar beendet werden.
3. Große Verantwortung
In vielen Szenarien ist es nur schwer möglich, ausführliche Gespräche in den Entscheidungsprozess mit einzubeziehen, denn viele kritische Situationen gehen mit eingeschränkter Kommunikationsfähigkeit seitens des Patienten einher. Wird dann die medizinische Indikation zur Maximaltherapie gestellt und ist der Standpunkt des Patienten zu dieser nicht eindeutig, wird eine Maximaltherapie regelhaft begonnen, um auch im Zweifelsfall keine lebenserhaltenden Maßnahmen unterlassen zu haben. Hierbei kann eine Patientenverfügung hilfreich sein, um die Ärzte bei der Erörterung des Patientenwillens zu unterstützen. Um diesen Zweck zu erfüllen, sollte das Dokument so unmissverständlich wie möglich formuliert sein. Insbesondere sind in diesem Zusammenhang allgemein gehaltene Aussagen weniger hilfreich. „Ich lehne lebenserhaltende Maßnahmen ab“, ist ebenso ungeeignet wie „ich verweigere jede Form der Maximaltherapie“, um zur Willensbildung beizutragen. Vielmehr sollten konkrete Maßnahmen nach einzelner Prüfung angenommen oder abgelehnt werden (Invasive Beatmung, Dialyse, künstliche Ernährung, et cetera). Eventuell sollte dann auch die Therapie erklärt und die möglichen Konsequenzen der Ablehnung dieser dargelegt werden, um dem Behandlungsteam ein informiertes Bild des Patientenwillens zu verschaffen. Außerdem kann es hilfreich sein, einen Zeitraum zu wählen, in dem zunächst die komplette maximaltherapeutische Bandbreite in Anspruch genommen wird. Dieser Zeitraum kann individuell gewählt werden. Sinnvoll ist hier sicherlich eine Festlegung, die sich am eigenen Gesundheitszustand, dem Verständnis von Lebensqualität und dem Alter orientiert. Nach dieser Zeit soll dann eine Neubewertung der Ziele und der klinischen Situation erfolgen und eventuell eine Anpassung stattfinden. Hier ist es auch wichtig zu betonen, dass ein palliativmedizinischer Ansatz auch bei laufender Maximaltherapie auf einer Intensivstation stattfinden und in der Patientenverfügung gewünscht werden kann. Weiterhin kann man das Behandlungsteam in seinen Entscheidungen unterstützen, indem eigene Überzeugungen über das Leben und den Tod kurz dargelegt werden. Für Christen ist es hier zum Beispiel möglich, die Heiligkeit und den Wert des Lebens zu unterstreichen, aber auf der anderen Seite auch darzustellen, dass das Sterben nicht das Ende, sondern einen Übergang darstellt. Diese Überzeugung sollte nicht nur niedergeschrieben, sondern auch im Kreis der Angehörigen bekannt sein. So kann sich eine differenzierte Vorstellung des Patientenwillens verschafft werden. Überhaupt ist die Vorsorgevollmacht eine Alternative zur Patientenverfügung. Im Gespräch mit dem Vorsorgebevollmächtigten können dann die möglichen medizinischen Szenarien erörtert und besprochen werden und gemeinsam die beste Entscheidung für den Patienten getroffen werden. Außerdem erspart sie die gerichtliche Bestellung eines Betreuers.
4. Großer Gott
Maximaltherapie ist ein medizinischer Ansatz, der zeitlich, örtlich und situativ gedeutet werden muss. Mit den richtigen individuellen Grenzen kann dieses Konzept zum Vorteil des Patienten dienen und Übertherapie vermieden werden. Christen steht die Möglichkeit, eine Maximaltherapie in Anspruch zu nehmen, offen, jedoch sollte die individuelle Entscheidung gut durchdacht und erbetet sein. Dazu gehört zum Beispiel auch das Einholen von Informationen zur gewünschten Therapie und die kritische Betrachtung dieser. Auch ein seelsorgerliches Gespräch kann in der Entscheidungsfindung helfen, die eigenen Wünsche und Ansichten mit dem Wort Gottes abzugleichen und zu einer informierten individuellen Entscheidung zu kommen. Eine Anpassung des Patientenwillens kann jederzeit vorgenommen werden, sobald sich die Ausgangssituation ändert. Im Zweifelsfall überstimmt der aktuell geäußerte Wille die Patientenverfügung. Als Christ darf man vertrauens- und verantwortungsvoll dem uns liebenden Gott die eigene Fügung anbefehlen, in dem Wissen, dass es Seine Gnade ist, die das eigene Leben erhält. Gott steht über den schwierigen Umständen des Einzelnen und verspricht uns Seinen Beistand. Das darf Hoffnung geben: Zum einen den Blick auf das Irdische und die damit verbundenen und verbleibenden Aufgaben und Möglichkeiten zu richten und zum anderen vorausschauend auf das kommende Reich Gottes zu warten. Ein Zwiespalt, den schon Paulus kannte: „Ich werde aber von beidem bedrängt: Ich habe Lust, abzuscheiden und bei Christus zu sein, denn es ist weit besser; das Bleiben im Fleisch aber ist nötiger um euretwillen.“ (Philipper 1, 23–24)
Wer möchte ich sein? Der Angriff auf die Identität
Wer möchte ich sein? Der Angriff auf die Identität
Mit Sicherheit hat sich jeder Mensch schon einmal die Frage gestellt: Wer möchte ich sein? Woher komme ich, wohin gehe ich? Und was ist der Sinn des Lebens? Die meisten Menschen versuchen den Sinn ihres Lebens durch Erfahrungen und Emotionen zu finden. Die einen sehen ihn im Sport und in hartem Training, manche in der Musik, die anderen meinen ihn auf Weltreisen oder in spirituellen Begegnungen zu entdecken. Die Frage nach dem Sein ist in jeder unserer Lebensphasen präsent. Die Rahmendaten unserer menschlichen Existenz sind offenkundig: Name, Beruf, Alter, Herkunft et cetera. Auf Grundlage dieser biografischen Säulen können wir uns der Frage nach dem Sinn unseres Lebens überhaupt nähern. Diese mit der Geburt festgeschriebenen (zum Beispiel der Name) oder dem zeitlichen Wandel unterliegenden Faktoren (zum Beispiel das Alter) sind fundamental für die Identitätsfindung. Doch was ist, wenn diese biografische Identität zerstört wird? Wenn wir uns an bisher festgeschriebenen Tatsachen nicht mehr festhalten können? Wenn wir in eine Sinnkrise geraten? Am 12. April 2024 ist eine dieser identitätsbildenden Konstanten mehr denn je attackiert worden: das Geschlecht.
1. Die Entpathologisierung der Transmedizin
Seit 2018 ist es im Rahmen der sozialen Transition möglich, dass geschlechtsdysphorische Personen durch ein ärztliches Attest nach § 45b des Personenstandgesetzes einen gegengeschlechtlichen Namen beim Standesamt wählen durften. Im ICD-10 kann die Diagnose der Geschlechtsdysphorie (F64.0) gestellt werden, wenn der geschlechtydysphorische Zustand für mindestens 3 bzw. 6 Monate anhält und mit einem Leidensdruck einhergeht. Im neuen ICD-11 wird die Diagnose unter dem Begriff „Geschlechtsinkongrenz“ (HA60.0) geführt, um den semantischen Anschein zu erheben, dass das biologische und das empfundene Geschlecht wirklich inkongruent zueinander seien. Im Vergleich zum biologischen Geschlecht sind Gefühle jedoch wandelbar, wie es auch eine Metaanalyse von Dr. James Cantor zeigt: 60—90 % der geschlechtsdysphorischen Kinder nahmen ihr ursprüngliches Geschlecht im Erwachsenenalter wieder an. Dies widerspricht der derzeitigen Theorie der Gesetzgeber, die von einem anhaltenden, seit Geburt oder Kleinkindalter angelegten Gefühl ausgehen, sich im falschen Körper zu befinden.
Wie bereits erwähnt, findet ein sprachlicher Wandel von "Dysphorie" (griechisch: schwer zu ertragen) zu "Inkongruenz" (lateinisch: nicht übereinstimmend) statt.
Der Begriff Geschlechtsdysphorie oder Geschlechtsidentitätsstörung markiert den Krankheitsaspekt der Diagnose. Man distanziert sich von der Dysphorie als Affektstörung und lässt das Empfinden, biologisches und gefühltes Geschlecht passten nicht zusammen, als festgesetzte Tatsache gelten. Die Diagnose der Geschlechtsinkongruenz wird im ICD-11, der zwar 2022 von der WHO eingeführt wurde, aber noch nicht vollständig übersetzt und bis dato in Deutschland gültig ist, in einem dafür eigens geschaffenen Kapitel namens „Zustand mit Bezug zur sexuellen Gesundheit“ verzeichnet. Die Diagnose der Geschlechtsdysphorie war im ICD-10 hingegen unter F64.0, den psychiatrischen Erkrankungen, gelistet. Mit der Neueinordnung der Begrifflichkeiten findet schlussendlich eine Entpathologisierung der Diagnose und damit eine Annäherung an den Normalzustand, an den physiologischen Zustand, statt. Dieser soll fortan nicht mehr als männlich oder weiblich gelten, sondern abhängig von Gefühlen geändert oder gar offengelassen werden können.
Doch nicht nur der ICD-11 bringt medizin-ethnische Umbrüche mit sich, auch der Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag soll zukünftig mehr Freiheit eingeräumt werden.
2. Das Selbstbestimmungsgesetz
Mit Beschluss des Selbstbestimmungsgesetzes am 12. April 2024 hat der Deutsche Bundestag verfügt, dass geschlechtsdysphorische Kinder und Jugendliche ab dem 1. November 2024 per Selbsterklärung einmal pro Jahr ihr Geschlecht beim Standesamt ändern lassen können, ohne dass es einer ärztlichen oder psychologischen Einschätzung bedarf. Bei Kindern unter 14 Jahren dürfen die Sorgeberechtigten den Antrag stellen, das Kind muss beim Behördengang lediglich anwesend sein. Sollten die Eltern dem Wunsch des Kindes nach Änderung des Geschlechtseintrags nicht nachkommen, kann ein Familiengericht involviert werden, das nach dem Kindeswohl entscheidet. Ab dem Alter von 14 Jahren kann der Jugendliche eigenständig agieren, ohne dass es einer Einwilligung der Eltern bedarf. Die ersten Anträge dürfen ab dem 1. August 2024 gestellt werden. Beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) heißt es dazu: „In der Erklärung hat die antragstellende Person zu versichern, dass die beantragte Änderung ihrer Geschlechtsidentität am besten entspricht und ihr die Tragweite der durch die Erklärung bewirkten Folgen bewusst ist.“ Dabei zeigen Studien sehr eindrücklich: Hat ein Kind die soziale Transition vollzogen, folgt meistens auch die medizinische Transition inklusive Pubertätsblockade, Hormonersatztherapie und geschlechtsangleichender Operationen. Die lebenslangen Konsequenzen einer Transition sind für Kinder und Jugendliche kaum zu überblicken. Das neue „Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag (SBGG)“, wie es offiziell heißt, lädt die verwirrten Kinder ein, ihr biologisches Geschlecht ohne juristische, medizinische und behördliche Hürden aufzugeben und ist damit in der Verharmlosung der Konsequenzen einer Transition kaum zu übertreffen. Nie zuvor gab es ein vergleichbares Ereignis in der deutschen Rechtsprechung, bei dem identitätsbildende Konstanten wie der Name oder das Geschlecht durch „Erklärung mit Eigenversicherung“ geändert werden konnten.
Als Argument für die Transition wird oft angeführt, dass die Betroffenen schließlich im falschen Körper geboren seien und sich dieses Leben im falschen Geschlecht ja nicht ausgesucht hätten. Das stimmt auch, denn niemand kann sich sein biologisches Geschlecht aussuchen, da es mit Verschmelzung von Eizelle und Spermium festgelegt ist. Die Behauptung, dass psychische Erkrankungen oder Suizidgedanken die Folge wären, wenn man die Personen nicht im empfundenen Geschlecht leben lässt, ihnen also die Transition ermöglicht, lässt sich mit zahlreichen Studien entkräften. 71 — 89 % der Jugendlichen sind bereits vor der Diagnose Geschlechtsdysphorie psychisch vorerkrankt. , Die meisten leiden unter Angststörungen und Depressionen. In einer Befragung von Eltern mit geschlechtsdysphorischen Kindern gaben 45 % der Eltern an, selbstverletzendes Verhalten bei ihrem Kind bemerkt zu haben, bevor es den Wunsch nach Transition äußerte. Zudem erleben geschlechtsdysphorische Jugendliche mit 97,5 % signifikant mehr Gewalt in ihrer Kindheit als die durchschnittliche Bevölkerung. Forscher gehen davon aus, dass frühe Bindungstraumata ein wesentlicher Faktor für die Entstehung einer Geschlechtsdysphorie sind. Ferner bestätigen zahlreiche Studien, dass die Raten an Depressionen und Suizidversuchen eben nicht durch ein Leben im anderen Geschlecht beseitigt werden, sondern massiv ansteigen. ,
Einhergehend mit der Änderung des Geschlechtseintrages kann in Zukunft auch ein Bußgeld verhängt werden, wenn man eine Transgender-Person mit ihrem „alten“ Vornamen anspricht. Gerade als Christen, die wir uns zu Gottes Schöpfungsordnung bekennen und dem Zeitgeist nicht beugen wollen, stellt uns dies vor neue Herausforderungen. Wenn man sich weigert, eine Person mit ihrem gegengeschlechtlichen Namen anzusprechen, kann ab dem 01. November „auf Grundlage des Gesetzes […] ein Bußgeld verhängt werden, wenn jemand die Änderung des Geschlechtseintrags von transgeschlechtlichen, nichtbinären oder intergeschlechtlichen Personen gegen deren Willen offenbart und dadurch die betroffene Person absichtlich schädigt“. Wer zukünftig eine männlich anmutende Person mit einem männlichen Vornamen anspricht, kann also damit rechnen, ihre Persönlichkeitsrechte zu verletzen und mit einer Geldstrafe belangt zu werden.
3. Die neue Leitlinie zur Geschlechtsdysphorie
Im März dieses Jahres wurde nach 7 Jahren Formulierungs- und Konsensarbeit die neue Leitlinie zur Geschlechtsinkongruenz vorgestellt. Sie proklamiert, dass psychische Erkrankungen eindeutig die Folge und nicht die Ursache von Geschlechtsdysphorien seien. Dabei wird sich auf 27 Fachgesellschaften und 2 Vertretungsorganisationen berufen. Eine davon ist die World Professional Association for Transgender Health (WPATH), die von mehreren Ländern, u. a. Schweden, als transaktivistische Lobbyorganisation eingestuft wird.
Ursprünglich war die neue Leitlinie als S3-Leitlinie angesetzt, sodass über 50 % der Empfehlungen evidenzbasiert hätten sein müssen. Es konnte jedoch nur eine S2k Einstufung erreicht werden. Diese Einordnung erhält eine Forschungsarbeit, wenn ihre Ergebnisse lediglich auf Konsens und nicht auf evidenzbasierten Studien basieren. Eine „systematische Recherche, Auswahl und Bewertung wissenschaftlicher Belege (Evidenz) zu den relevanten klinischen Fragestellungen“ wäre bei der Einstufung S2e erforderlich gewesen, die die Leitlinie ebenfalls verfehlte. Die sogenannten Experten räumen ein: „Es liegen derzeit noch wenige randomisiert kontrollierte Studien vor. Die Evidenz verbessere sich aber stetig.“
Eine „erbärmlich unzureichende“ Datenlage stellt auch Dr. Hillary Cass in ihrem 388-seitigen Review vom April 2024 fest. Von über 100 Studien könne man nur 2 Studien wissenschaftliche Qualitätsmerkmale wie Kontrollgruppen, Randomisierung und Follow-up nachweisen. Sie kritisiert, dass „diese nicht schlüssige und inakzeptable Studienlage […] als Grundlage für einflussreiche klinische Leitlinien herangezogen“ wird. Der NHS (National health service) verbot daraufhin den Einsatz von Pubertätsblockern und lobte Dr. Cass für ihre detaillierte Aufarbeitung, die „von großer internationaler Bedeutung“ sei.
Anstatt Konsequenzen aus den neusten Ergebnissen des Cass-Reviews zu ziehen, geht man in Deutschland in die entgegengesetzte Richtung. Unser Staat fördert letztendlich die Identitätskrisen junger Menschen und verharmlost die schwerwiegenden Folgen der Transbehandlung. In der neuen Leitlinie werden sämtliche Altersgrenzen für den Einsatz von Pubertätsblockern gestrichen, obwohl neben England auch andere Länder wie Schweden, Dänemark und einige nordamerikanische Bundesstaaten die Pubertätsblocker längst verboten haben. „Im Vergleich zu der Krisensituation sind die Nebenwirkungen einer Pubertätsblockade für die Betroffenen in aller Regel unerheblich.“ Daher „ist es medizinisch und ethnisch unangemessen […] die Gabe von Pubertätsblockern zu verweigern aus Sorge vor Nebenwirkungen“ , behauptet die Medizinethikerin Prof. Claudia Wiesemann, die als ärztliche Initiatorin der neuen Leitlinie gilt. Fatalerweise gibt es derzeit keine einzige Langzeitstudie, die das Nebenwirkungsprofil abschätzen kann. In kürzeren Beobachtungsstudien konnte bereits eine Abnahme der Knochendichte bis in den Osteoporosebereich und eine Intelligenzminderung bei Kindern unter Pubertätsblocker-Gabe festgestellt werden. , , Auch eine Zunahme an Depressionen und Persönlichkeitsstörungen wurde in zahlreichen Studien nachgewiesen. Entgegen der Behauptung, man würde geschlechtsdysphorische Kinder ohne Transition in den Suizid treiben, belegen zahlreiche Studien, dass die Betroffenen bereits vor der Entstehung ihrer Transidentität selbstverletztendes Verhalten zeigen und die Rate an Suiziden nach vollumfänglich stattgehabter Transition um das 20-fache steigt. , Auch der Jugendpsychiater Prof. Alexander Korte hinterfragt die neue Leitlinie und kommt zu dem Schluss, dass sie „eine willkürliche und ideologisch motivierte Zusammenstellung von vermeintlichen Belegen dafür [ist], dass die Behandlung für die Patienten angeblich mit Vorteilen verbunden“ sei. Sogar die Feministin Alice Schwarzer äußerte in einem Interview mit dem SPIEGEL kritisch: „Die Transition ist ein sehr schwerer Eingriff in Psyche und Körper. Darum halte ich dieses Selbstbestimmungsgesetz für verantwortungslos. Mit 14 [Jahren] stecken Jugendliche mitten in der Pubertät, in einer Phase also, in der viele nicht wissen, wer sie sind […]. Jugendlichen in dieser größten Identitätsverwirrung ihres Lebens als vermeintliche Lösung anzubieten, lebenslang Hormone zu nehmen und sich den Körper verstümmeln zu lassen – das ist Wahnsinn. Und irreversibel.“
4. Medizinethische Umbrüche im Jahr 2024
1) Entpathologisierung der Diagnose
• „Geschlechtsdysphorie“ (ICD10) wird zu „Geschlechtsinkongruenz“ (ICD11)
• Gefühle ersetzen wissenschaftliche Tatsachen in der Diagnosefindung
2) Neue S2k-Leitlinie zur Geschlechtsdysphorie
• keine Altersgrenze für Pubertätsblocker
• trotz unzureichender Studienlage bzw. gegenteiliger Indizien (z. B. Cass-Review)
3) Selbstbestimmungsgesetz
• 1x pro Jahr kann das Geschlecht beim Standesamt geändert werden
• es bedarf dafür keiner ärztlichen oder psychologischen Einschätzung
5. Hoffnungsvoller Ausblick
Die geschlechtliche Identität ist jedoch nur ein Teil unserer menschlichen Existenz. Der Sinn des Lebens lässt sich nicht beantworten, indem wir wissen, wie wir heißen, wo wir wohnen, wie alt wir sind und welchen Job wir haben, obwohl dies alles wichtige Eckdaten sind. Auch die Summe all unserer Erinnerungen und Erlebnisse beschreibt einen Menschen nur unzureichend. Natürlich prägen diese Erfahrungen eine Person, jedoch werden sie nie die Frage nach der eigenen Identität klären können. Denn unsere Identität liegt nicht in unserer Hand und ist auch nicht frei wählbar wie es uns der Zeitgeist weis machen will. Identität wird gestiftet, und zwar von dem, der uns geschaffen hat. „So schuf Gott die Menschen nach seinem Bild, als Gottes Ebenbild schuf er sie und schuf sie als Mann und als Frau.“ (1. Mose 1,27) Mit diesem Vers aus dem Schöpfungsbericht wird klar, dass Geschlechtsidentität nicht gefunden, sondern sie uns mit dem Zeitpunkt der Befruchtung gegeben wird, eben männlich oder weiblich. Folglich kann man seine in Gott gestiftete Identität nicht ändern, nur weil man jemand anderes sein möchte. Was geändert werden muss, ist unser Denken und nicht unser Geschlecht oder unser Vorname. Erst wenn wir unsere von Gott gegebene Identität annehmen und ihm zur Ehre leben, erlangen wir den Sinn des Lebens, der von so vielen Menschen verzweifelt gesucht wird. Dazu gehört auch, dass wir erkennen, dass wir Sünder sind und dass nur Christus uns erretten kann.
Gott lehrt uns in seinem Wort, welche Eigenschaften wir annehmen und welche wir ablegen sollen (1. Petrus 2). Wir erfahren, an welchem Lebenswandel Gott seine Freude hat und welche Taten und Gedanken er verabscheut. Unser HERR hat uns geschaffen, damit wir ihm als seine Kinder dienen, ihn verherrlichen und ihn preisen: "Denn wir sind seine Schöpfung, erschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, dass wir darin wandeln sollen." (Epheser 2,10) Auch die Antwort auf das Wohin hat Gott uns in seinem Wort geoffenbart. Wenn wir einst sterben, werden wir bei ihm im Himmel sein: „Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat." – Johannes 3,16.
Es ist der Schöpfer höchstpersönlich, der unserem Dasein einen Sinn und einen Wert verleiht. Wir wissen, dass er uns bewusst so geschaffen hat wie er es sich von jeher erdacht hat. Dieses Bewusstsein kann helfen, wenn Menschen ihre Identität, insbesondere ihr Geschlecht, hinterfragen. Sämtliche Transitionsmaßnahmen werden eine geschlechtsdysphorische Person nur noch weiter in ihre Identitätskrise treiben. Was diese Menschen wirklich brauchen, ist Frieden mit Gott. Diesen Frieden findet man dadurch, dass man seine Knie beugt und bekennt, dass man ein Rebell gegen den HERRN war.
Gott hat seinen Sohn Jesus Christus für unsere Sünden sterben lassen, damit wir Vergebung unserer Schuld haben dürfen. Allein deshalb sind wir unendlich teuer erkauft und von unermesslichem Wert (1. Korinther 6,20).
Als Christen ist es unser Vorrecht, Gottes geniale Schöpfungsordnung zu verteidigen und uns klar zu ihr zu bekennen. Es gibt kein „gefühltes“ Geschlecht, noch kann das biologische Geschlecht im Laufe des Lebens geändert werden. Schon gar nicht durch einen Eintrag beim Standesamt, auch wenn dieser jährlich möglich ist. Die Geschlechtschromosomen werden zum Zeitpunkt der Befruchtung im Mutterleibe festgelegt und lassen sich nicht durch Gefühle noch durch staatliche Behörden ändern. Ein Staat, der sich selbst zum Schöpfer über die Geschlechtlichkeit erhebt, raubt Gott die Ehre und ist damit zum Scheitern verdammt. Denn Identität findet man allein in Christus.
1 Bei Kindern darf die Diagnose Geschlechtsdysphorie nach ICD-10 gestellt werden, wenn diese sich seit mindestens drei Monaten dem anderen Geschlecht zugehörig empfinden und ein Leidensdruck besteht. Bei Erwachsenen muss die Dysphorie mindestens seit sechs Monaten vorliegen. C. Heil, Dorsch Lexikon der Psychologie, Hogrefe Verlag, 2021. Siehe https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/geschlechtsdysphorie abgerufen am 03.06.2024 2 J. Cantor, Do trans- kids stay trans- when they grow up? 2016. http://www.sexologytoday.org/2016/01/do-trans-kids-stay-trans-whenthey-grow_99.html
3 Eine Affektstörung ist eine Verhaltensstörung, in diesem Fall meint Geschlechtsdysphorie die gestörte Stimmung/das beeinträchtigte emotionale Denken in Bezug auf das eigene Geschlecht. Betroffene Personen empfinden, dass ihr biologisches Geschlecht nicht mit ihrem empfundenen Geschlecht übereinstimmt.
4 https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/presse/pressemitteilungen/aenderung-des-geschlechtseintrages-eine-erklaerung-beimstandesamt-soll-reichen224792 abgerufen am 03.06.2024
5 Olsen et al., Gender Identity Five Years after Social Transition. Pediatrics 150, 2. 2022.
6 Als Transition bezeichnet man den Wechsel vom biologischen Geschlecht in das „empfundene Geschlecht“. Man unterteilt die Transition in soziale und medizinische Maßnahmen. Zur sozialen Transition gehört beispielsweise das Tragen von gegengeschlechtlicher Kleidung oder das Annehmen eines anderen geschlechtsspezifischen Namens. Die medizinische Transition umfasst die Einnahme von Pubertätsblockern und Hormonpräparaten sowie geschlechtsangleichende Operationen.
7 Becerra-Culqui et al., Mental Health of Transgender and Gender Nonconforming Youth Compared With Their Peers. Pediatrics 141, 5, 2018.
8 Kozlowska et al., Australian children and adolescents with gender dysphoria: Clinical presentations and challenges experienced by a multidisciplinary team and gender service. Culture and Attachments. Vol. 1, 1, 2021, S. 70-95.
9 Becerra-Culqui et al., Mental Health of Transgender and Gender
Nonconforming Youth Compared With Their Peers. Pediatrics 141, 5, 2018.
10 L. Littman, Parent reports of adolescents and young adults perceived to show signs of a rapid onset of gender dysphoria, PLOS ONE, 2019.
11 Kozlowska et al., Australian children and adolescents with gender dysphoria: Clinical presentations and challenges experienced by a multidisciplinary team and gender service. Culture and Attachments. Vol. 1, 1, 2021, S. 70-95.
12 Giovanardi et al., Attachment Patterns and Complex Trauma in a Sample of Adults Diagnosed with Gender Dysphoria, Frontiers in Psychology, 2018.
13 Bränström et al., Reduction in Mental Health Treatment Utilization after gender-affirming surgeries: A total population study. Am J Psychiatry, 2020.
14 Van Mol et al. Correction: Transgender Surgery Provides No Mental Health Benefit, 2020.
15 Zitat des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/gesetze/gesetz-ueber- die-selbstbestimmung-in-bezug-auf-den-geschlechtseintragsbgg-- 224546 abgerufen am 03.06.2024
16 vergleiche https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/150071/ Neue-S2k-Leitlinie-zu-Geschlechtsinkongruenz-und-dysphorie-im- Kindes-und-Jugendalter-vorgestellt abgerufen am 27.05.2024
17 Leitlinien Einstufung siehe https://www.awmf.org/regelwerk/ stufenklassifikationen abgerufen am 04.06.2024
18 Zitat Cecilia Dhejne unter https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/ 150071/Neue-S2k-Leitlinie-zu-Geschlechtsinkongruenz-unddysphorie- im-Kindes-und-Jugendalter-vorgestellt abgerufen am 28.05.2024
19 Zitat „Studies in gender medicine fall woefully short in terms of methodological rigour. The methodological bar for gender medicine studies was set too low, generating research findings that are therefore hard to interpret.” in K. Abbasi, The Cass review: an opportunity to unite behind evidence informed care in gender medicine, BMJ, 2024.
20 Als Follow-Up bezeichnet man die Kontrolle des zu untersuchenden Studienmerkmals nach einem vorher im Studiendesign festgelegten Zeitraum, zum Beispiel erneute Blutdruck Messung nach zwölf Wochen bei Gabe eines neuen Blutdruckmedikaments.
21 H. Cass, Independent review of gender identity services for children and young people: Final report, 2024. https://cass. independent-review.uk/wp-content/uploads/2024/04/CassReview_Final.pdf abgerufen am 08.06.2024
22 Zitat „Your final report will not just shape the future of healthcare in this country for children and young people experiencing gender distress but will be of major international importance and significance.” unter https://segm.org/Final-Cass-Report-2024-NHS-Response- Summary abgerufen am 08.06.2024
23 https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/143851/Genderdysphorie- England-schraenkt-Verordnung-von-Pubertaetsblockern-ein abgerufen am 08.06.2024
24 Zitat Prof. Wiesemann in der Stellungnahme zur neuen S2k-Leitlinie https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/150071/Neue-S2k-Leitlinie-zu-Geschlechtsinkongruenz-und-dysphorie-im-Kindes-und-Jugendalter-vorgestellt abgerufen am 27.05.2024
25 Ebd.
26 M. Twohey, They paused puberty, but is there a cost? 14.11.2022. New York Times.
27 M. Biggs, Revisiting the effect of GnRH analogue treatment on bone mineral density in young adolescents with gender dysphoria. J. Pediatric Endocrinology and Metabol. 2021.
28 P. Hayes, Commentary: Cognitive, Emotional, and Psychosocial Functioning of Girls Treated with Pharmacological Puberty Blockage for Idiopathic Central Precocious Puberty. 2017.
29 vollumfänglich meint in diesem Fall nach stattgefundener sozialer und medizinischer Transition
30 L. Littmann, Maladaptive coping-mechanism, Parent reports of adolescent and young adults perceived to show signs of a rapid onset of gender dysphoria, PLOS ONE, 2018.
31 Dhejne et al., Long-Term Follow-Up of Transsexual Persons Undergoing Sex Reassignment Surgery: Cohort Study in Sweden. PLOS ONE, 2011.
32 Zitat Prof. Korte https://www.emma.de/artikel/trans-kinder-einmedizin- skandal-340959 abgerufen am 05.06.2024
33 Zitat Alice Schwarzer in einem Interview mit dem SPIEGEL am 22.08.2023, https://www.aliceschwarzer.de/artikel/trans-zu-sein-istmode- und-die-groesste-provokation-340581 abgerufen am 03.06.2024
34 vergleiche J. Koberschinski, Frühkindliche Störungen der Geschlechtsentwicklung, CDK Magazin Nr. 88, 2023.
Selbstliebe – Gebot oder Fallstrick?
Selbstliebe – Gebot oder Fallstrick?
Autor: Joel Winter
Das Konzept der Selbstliebe durchdringt viele Bereiche der modernen Gesellschaft. Menschen kommen sowohl im privaten als auch im beruflichen Umfeld mit dem Konzept der Selbstliebe in Kontakt, vor allem im therapeutischen Bereich der Psychologie, Psychiatrie und Seelsorge. Der Trend der Selbstliebe prägt viele Bücher und ist zentraler Bestandteil sogenannter Coaching-Sessions sowie von Meditationen und Yoga. Aber auch die christliche Welt ist von diesem Einfluss nicht unerfasst geblieben. Prominente Prediger und Pastoren haben dieses Konzept aufgenommen und tragen es an ihre Zuhörerschaft weiter.
1. HISTORISCHE EINORDNUNG:
Der Begriff der Selbstliebe wurde maßgeblich im letzten Jahrhundert geprägt. Als führender Autor ist hier Erich Fromm (1900-1980), ein humanistischer Psychoanalytiker, zu nennen. Fromm wurde seiner jüdisch-orthodoxen Erziehung zum Trotz in seinen Studien unter anderem stark von Sigmund Freud und Karl Marx geprägt. In seinen Mittzwanzigern nahm er das humanistisch-evolutionistische Weltbild an und schrieb fortan zahlreiche Bücher, zum Beispiel „Psychoanalyse und Ethik“. Das humanistische Menschenbild betrachtet den Menschen als intrinsisch gut und in seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten als nahezu unbegrenzt. Der Mensch könne seiner eigenen Vernunft vertrauen und mithilfe dieser Vernunft gültige, ethische Normen aufstellen. Er sei die oberste Instanz. Fromms Menschenbild wird anhand des folgenden Zitats deutlich: „Vom humanistischen Standpunkt gibt es nichts Höheres und nichts Erhabeneres als die menschliche Existenz.“1 Er wetterte gegen die Vorstellung, dass der Mensch einer innewohnenden Bosheit unterworfen ist und konstatierte, dass die biblische Doktrin von der Verdorbenheit des Menschen Selbsthass und Selbstverachtung als Folge mit sich bringe. Schlussendlich resümiert Fromm, dass die fehlende Liebe zum eigenen Ich für die gesellschaftlichen Probleme seiner Zeit verantwortlich sei: „Das Versagen unserer Kultur liegt […] nicht darin, dass sie zu selbstsüchtig [ist], sondern dass sie sich selbst nicht genug [liebt].“2 Andere Verfechter der Selbstliebe, wie Romano Guardini oder Walter Trobisch, führten diese Gedanken weiter.
2. Was meint Selbstliebe?
Bei genauerer Analyse des modernen Verständnisses von Selbstliebe lassen sich drei Grundvoraussetzungen benennen:
1. Der Mensch hat keine angeborene Selbstliebe, sondern muss sie erst aktiv erlernen.
2. Aus diesem Mangel an Selbstliebe entstehen große seelische Nöte und Probleme.
3. Liebe zur eigenen Person ist die Bedingung für Liebe zu anderen Menschen.3 Die Selbstliebe meint das Hegen von positiven Gefühlen gegenüber dem eigenen Ich unter Vorzeichen eines humanistischen Menschenbildes. Dabei wird die Fokussierung auf das Ich und die eigenen Bedürfnisse besonders betont. Die bewusste Förderung des Selbst biete dabei die Lösung für etwaige seelische Probleme. Die Bewältigung des Lebens geschehe aus eigener Kraft, indem der Einzelne sich das Gute, was vermeintlich in der eigenen Person steckt, bewusst macht und fördert. In der Literatur findet man neben dem Begriff der Selbstliebe zahlreiche weitere Begriffe wie Selbstannahme, Selbstfürsorge oder Selbstakzeptanz, die zwar von Autor zu Autor mit geringfügig divergierenden Bedeutungen versehen werden, aber grundsätzlich für den gleichen Grundgedanken stehen. „bedingungslosen Annahme“. Durch die bedingungslose Akzeptanz des Therapeuten dem Klienten gegenüber, könne der Klient eine gesunde und heile Beziehung zu sich selbst aufbauen.
3. Klientenzentrierte Therapie von Carl Rogers
Über die Jahre entwickelte sich das Konzept der Selbstliebe weiter. Der Psychotherapeut Carl Rogers bildete aus Fromms Theorem eine Methode, die in der Praxis angewendet werden konnte. Entsprechend wird erkennbar: „Fromm hat formuliert, spekuliert, und theoretisiert; Rogers praktiziert.“4 Rogers lehrte, dass jedem Menschen ein Drang zur Selbstverwirklichung innewohnt. In der Folge sei es der Ratsuchende, der am besten wisse, was ihm fehle, und nicht der Therapeut. Der Behandler ist in Rogers Therapie als Hilfesteller tätig, er agiert bewusst nondirektiv, also nicht lenkend. Streng zu vermeiden seien dabei Aufforderungen wie: „Sie sollten jenes tun oder lassen.“5 Besonderes Augenmerk verdient in diesem Zusammenhang der von Rogers geprägte Begriff der
4. Coaching-Hype
In vergleichbarer Weise präsentieren sich die Methoden des sogenannten Coachings. Hierbei handelt es sich um Beratungseinheiten für verschiedene Zielsetzungen, Gruppen und Personen. Während Coaching in Unternehmen zur Führungskräfteschulung schon weit verbreitet ist, hält es auch im privaten Bereich immer mehr Einzug. Das Coaching soll dem Ratsuchenden helfen, sich selbst zu reflektieren und mehr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu setzen. Der Coach versucht, dem Klienten seine Eigenschaften und Möglichkeiten zu spiegeln, damit der Klient sich der eigenen Stärken bewusst wird und eigene Lösungen entwickeln kann. Der Coach nimmt eine neutrale Position ein und unterstützt sowohl in der Zielsetzung als auch in der Umsetzung von Strategien die Autonomie des Klienten. „Die derzeitigen Coachingkonzepte enthalten zumeist eine Kombination von allgemein-psychologischen, kognitiv verhaltensorientierten, psychodynamischen und systemischen Techniken, modifiziert durch die Lebenserfahrung und Weltanschauung der Coaches.“20 Meditation, Yoga und Alltagspsychologie Nicht nur der therapeutische Bereich, sondern auch das Privatleben wird von der Philosophie der Selbstliebe geprägt. So sind viele Yoga- und Meditationsangebote stark auf das Ich ausgerichtet. Der Meditierende soll „in sich hineinhorchen“ und auf die eigenen Körperfunktionen achten, wie zum Beispiel den Atem.6 Durch die Beschäftigung mit der eigenen Person sollen Spannungen gelöst und innere Veränderungsprozesse angestoßen werden, sodass das vermeintlich Gute im Menschen hervorkommt. Weitere populärpsychologische Ratschläge beinhalten beispielsweise eine Taktik, die an die Geschichte des Narzissus erinnern lässt, soll man doch in den Spiegel schauen und dem Gegenüber dort laut seine Liebe bekunden. Kritik an eigenen Wegen solle vermieden werden, vielmehr seien es Komplimente, die der Einzelne sich geben solle.7
5. Selbstliebe in der Christenheit und biblische Einordnung
Die Philosophie der Selbstliebe konnte sich zunehmend über Predigten, Seelsorge und Bücher in der christlichen Welt ausbreiten. Zu dieser neuen Literatur zählen auch die Werke von Joyce Meyer, einer US-amerikanischen Rednerin mit großer medialer Reichweite. Ein Titel ihrer zahlreichen Online-Predigten lautet zum Beispiel „Selbstannahme – Du bist voll in Ordnung“.8 Folgende Aussagen vermitteln einen Eindruck von Meyers Glaubensverständnis und Menschenbild: „Liebt ihr euch selbst? Habt ihr eine gute Beziehung zu euch selbst?“ oder „Ich erlaube euch, euch selbst zu mögen!“9 Aber auch an anderer Stelle wird Meyers egozentrische Theologie deutlich: „Deshalb will ich unbedingt Menschen helfen, das Leben zu genießen, denn dafür ist Jesus gestorben.“10 Die Stoßrichtung des biblischen Befundes steht dem diametral entgegen, was wir beispielsweise in 2. Korinther 5,15 lesen: „Und Jesus ist deshalb für alle gestorben, damit die, welche leben, nicht mehr für sich selbst leben, sondern für den, der für sie gestorben und auferstanden ist.“ Den Grund, warum dennoch viele begeistert Meyers Vorträgen lauschen, hat bereits der Reformator Johannes Calvin vor 500 Jahren beschrieben: „Und so ist auch jeder, der die Vorzüge der menschlichen Natur mit seinen Reden kräftig herausgestrichen hat, zu allen Zeiten mit gewaltigem Beifall aufgenommen worden.“11 Auch Calvin sah in seiner Zeit Entwicklungen von Eigenliebe in der Gesellschaft: „Denn wir sind ja alle aus furchtbarer Blindheit in Selbstliebe versunken – und deshalb glaubt jeder, einen gerechten Grund zu haben, sich selbst zu erheben […].“12 Ergänzend führt der Theologe Dr. John Stott über christlich „verkleidete“ Selbstliebe aus, dass „ein vielstimmiger Chor heute einstimmig singt, ich müsse mich um jeden Preis lieben, dass Selbstliebe ein Gebot ist, das am meisten vernachlässigt wird, und die der Liebe zu Gott und zum Nächsten hinzugefügt werden muss.“13 So bezeichnet auch Joyce Meyer Selbstliebe als zwingende Bedingung für Nächstenliebe: „Wer andere lieben will, muss sich zuerst selbst lieben.“14 Sie beruft sich auf Matthäus 22,39 (und 3. Mose 19,18), wo es heißt: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Interessanterweise war der erste, der mit dieser Bibelstelle die moderne Selbstliebe propagierte, kein Christ, sondern der Psychoanalytiker Erich Fromm.15 Aber auch Walter Trobisch, lutherischer Pastor und Autor, zieht den gleichen Schluss: „Nur wer sich selbst liebt, kann den anderen lieben.“16 Wer die genannten Bibelstellen einer gründlichen Exegese unterzieht, wird feststellen, dass die Verfechter der Selbstliebe ihre Gedanken in die Bibel hineinlegen, statt sich von der Bibel lenken und korrigieren zu lassen. Zum einen spricht Jesus explizit von zwei höchsten, nicht von drei Geboten. Jesus geht also bei uns Menschen davon aus, dass wir eine schon vorhandene Selbstliebe in uns tragen. Zum anderen macht die Bibel klar, dass unsere Fähigkeit, den anderen gottgemäß zu lieben, nicht aus der praktizierten Selbstliebe kommt, sondern daher, dass Gott uns seine Liebe geschenkt hat: „Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt.“ (1. Johannes 4,19) Der Theologe J. I. Packer hilft bei der Einschätzung der christlichen Selbstliebe-Literatur: „Die modernen Christen verteilen eine dünne Schicht biblischer Lehre über eine Mischung aus volkstümlicher Psychologie und gesundem Menschenverstand, aber ihr allgemeiner Zugang zu der Sache spiegelt ganz klar Narzissmus wider, Egoismus und Selbstbezogenheit, eben die typisch weltliche Art des modernen Westens.“17 Ein weiteres wichtiges Argument gegen Selbstliebe finden wir in der Ankündigung der Bibel, dass in „schlimmen Zeiten“ die Menschen sich selbst lieben werden: „Das aber sollst du wissen, dass in den letzten Tagen schlimme Zeiten eintreten werden. Denn die Menschen werden sich selbst lieben, geldgierig sein, …“ (2. Timotheus 3,2; vergleiche auch Lukas 9,23; Johannes 12,25; Offenbarung 12,11).
5. Wie soll ein Christ von sich denken
Wenn ein Christ aus oben genannten Gründen nicht den Weg der Selbstliebe einschlagen möchte, bleibt ihm dann nur die Alternative des Selbsthasses und das ständige Niedermachen der eigenen Person? Die biblische Alternative stellt eine andere dar. Der berühmte Theologe A. W. Tozer hat es treffend ausgedrückt: „Der siegreiche Christ jubiliert nicht über sich selbst, aber erniedrigt sich auch nicht. Sein Hauptinteresse ist von sich selbst auf Christus übergegangen.“18 Sowohl Selbsthass als auch Selbstliebe sind auf das Ich ausgerichtet.19 Ganz frei von allen Selbstbezügen wird nur derjenige,
der sich um Jesus Christus dreht. Ein Christ kann nach dem Motto des Galaterbriefes leben: „Und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir.“ (Galater 2,20) Die Lösung besteht also darin, im Blick auf den Erlöser „sich selbst zu vergessen“. Alle übertriebenen Gedanken der Selbstliebe werden verblassen, wenn ein Mensch denjenigen zum Mittelpunkt hat, für den er wirklich erschaffen wurde und sich auf ihn und sein Wort ausrichtet. „Tut nichts aus Selbstsucht oder nichtigem Ehrgeiz, sondern in Demut achte einer den anderen höher als sich selbst. Jeder schaue nicht auf das Seine, sondern auf das des anderen.“ (Philipper 2,3–4) Ein Christ sollte sich nicht im Prachtkleid von durch Selbstliebe gefördertem Hochmut und Stolz zeigen, sondern im schlichten Gewand der Demut: „Ihr alle sollt euch gegenseitig unterordnen und mit Demut bekleiden.“ (1. Petrus 5,5) Der beständige Blick auf Gott ermöglicht es, für die eigenen natürlichen Bedürfnisse zu sorgen, ohne einer Selbstliebe anheim zu fallen, die den Menschen zum Mittelpunkt macht.
[1] Fromm, Erich: Psychoanalyse und Ethik – Bausteine zu einer humanistischen Charakterologie. München. dtv. 1985. S. 21. [2] Ebd., S. 111.
[3] Trobisch, Walter: Liebe dich selbst. Wuppertal. R. Brockhaus Verlag. 1986. S. 9.
[4] Brownback, Paul: Selbstliebe – Eine biblische Stellungnahme. Asslar. Herold-Bücher im Verlag Schulte+Gerth. 1988. S. 77.
[5] Ebd., S. 78.
[6] Morrison, Mady: Geführte Meditation für Entspannung & Zufriedenheit. Abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=mn-KTgQnYg0, zuletzt abgerufen am 31.05.2024.
[7] Jeanmaire, Tushita M. in: GlücksPost Nr. 46, 16. November 2006, S. 38.
[8] Meyer, Joyce: Selbstannahme – Du bist voll in Ordnung. Abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=Gz_R15KJVyc, zuletzt abgerufen am 31.05.2024.
[9] Brenscheidt, Thorsten: Spürst du Gott schon oder liest du noch die Bibel? Lage. Lichtzeichen Verlag. 2014. S. 203-210.
[10] Meyer, Joyce: Mit Leidenschaft und Zielen leben. Abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=H026DDSz2PA, zuletzt abgerufen am 03.06.2024.
[11] Calvin, Johannes: Institutionen der christlichen Religion. Neukirchen- Vluyn. Neukirchener Verlag des Erziehungsvereins. 1984. S. 134.
[12] Ebd. S. 448.
[13] Nannen, Els: Selbstliebe und Selbstannahme. Abrufbar unter: https://horst-koch.de/selbstliebe-e-nannen/ zuletzt abgerufen am 31.05.2024.
[14] Brenscheidt, Thorsten: Spürst du Gott schon oder liest du noch die Bibel? Lage. Lichtzeichen Verlag. 2014. S. 204.
[15] Fromm, Erich: Psychoanalyse und Ethik – Bausteine zu einer humanistischen Charakterologie. München. dtv. 1985. S. 104.
[16] Trobisch, Walter: Liebe dich selbst. Wuppertal. R. Brockhaus Verlag. 1986. S. 14.
[17] Hunt, Dave: Rückkehr zum biblischen Christentum. Bielefeld. clv. 1988. S. 182.
[18] Hunt, Dave: Die Verführung der Christenheit. Bielefeld. clv. 1987. S. 201.
[19] Brownback, Paul: Selbstliebe – Eine biblische Stellungnahme. Asslar. Herold-Bücher im Verlag Schulte+Gerth. 1988. S. 133.
[20] Holm-Hadulla, R. Coaching. Psychotherapeut Nr. 47, S. 241-248, 2002. abgerufen am 11.07.2024 unter https://doi.org/10.1007/s00278-002-0236-7
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Was soll meine Seele heilen? Eine Untersuchung zu Psychotherapie und Seelsorge
Was soll meine Seele heilen? Eine Untersuchung zu Psychotherapie und Seelsorge
Autor: Jonas Janik Ralf Koberschinski & Dr. med. Mira Pankratz
Immer mehr Menschen leiden an psychischen Erkrankungen. 2022 verzeichnete die Kaufmännische Krankenkasse 16 % mehr Krankschreibungen aufgrund seelischer Erkrankungen.1 Folglich rücken Psychopharmaka und Psychotherapie als zunehmend gefragte Heilmittel in den Fokus unserer Gesellschaft. Letzteres wollen wir in diesem Artikel näher untersuchen, da in der Psychotherapie und ihren zahlreichen Schulen eine gute Lösung gesehen wird. Auch in den Gemeinden erfahren wir einen großen Bedarf an Seelsorge. In Anbetracht der gesellschaftlichen Präsenz der Psychotherapie mit ihren zahlreichen Schulen und ihrer (scheinbaren) Professionalität, drängt sich immer wieder die Frage auf, ob die Seelsorge durch psychotherapeutische Methoden bereichert werden sollte. Sind wir mit der Bibel im Einklang, wenn wir als Christen Psychotherapie praktizieren? Verschiedene Stimmen plädieren dafür.2 Einer der Gründe dafür besteht in der ihr zugeschriebenen hohen Wirksamkeit und man meint pragmatisch, dass diese wirkmächtige Methode die Seelsorge ergänze.
1. DIE WIRKSAMKEIT DER PSYCHOTHERAPIE
Dass Psychotherapie eine wirksame Methode zur Behandlung zahlreicher psychischer Erkrankungen ist, wird inzwischen weithin, obgleich nicht ohne Widerspruch, angenommen.3 Mehr als 35.000 Primärstudien4 sprechen dafür. Dazu kommen circa 6000 Metaanalysen.5 In Metaanalysen werden Ergebnisse aus vielen Primärstudien zusammengefasst und nach verschiedenen Schwerpunkten in einem deutlich größeren Datenkontext bewertet. Durch dieses systematische Bündeln vieler Einzelstudien erhöht sich der Evidenzgrad (Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Ergebnis der Wahrheit entspricht) einer wissenschaftlichen Aussage. In Bezug auf die Frage nach der Wirksamkeit einer Intervention, kommen Metaanalysen deshalb eine besondere Relevanz zu.6 Jede Einzelstudie kann nur eingeschränkt und in unterschiedlichem Ausmaß die Wirksamkeit einer Behandlung begründen. 7 In Anbetracht der schieren Datenmenge wird heutzutage allgemeinhin angenommen, dass Psychotherapie wirklich wirkt. Gemeinsame Wirkfaktoren Nun gibt es viele unterschiedliche Psychotherapieschulen (zum Beispiel psychodynamische oder verhaltenstherapeutische Psychotherapie), die in ihrem Problem- und Therapieverständnis stark voneinander abweichen. Hier drängt sich die Frage auf, welche dieser Schulen die am besten wirksame ist. Überraschenderweise sieht sich die Psychotherapieforschung mit der Erkenntnis konfrontiert, dass keine bestimmte Therapieschule der anderen überlegen ist.8 Dieser Umstand wurde bereits 1936 von dem US-amerikanischen Psychologen und Psychotherapieforscher Saul Rosenzweig erwähnt.9 Die Erkenntnis über die Gleichwertigkeit der verschiedenen Psychotherapieansätze (bezogen auf die Wirksamkeit) lässt die Schlussfolgerung zu, dass es gemeinsame Wirkfaktoren geben muss, die zum Erfolg der Psychotherapie im Allgemeinen führen. Das stellt die Unterteilung in Schulen ein Stück weit infrage. Denn die einzelnen Schulen gehen gerade davon aus, dass aufgrund ihrer speziellen Methodik die Behandlung wirksam ist und nicht aufgrund allgemeiner Wirkfaktoren, die, egal welcher Schule man angehört, wirken, sodass die Schulzuordnung letztlich mehr oder minder überflüssig sei. Über die Jahrzehnte wurden verschiedene Modelle entwickelt, die diese gemeinsamen Wirkfaktoren darstellen sollen. Eines dieser Modelle, das Kontextuelle Metamodell, 10 wurde von Wampold et al. konzipiert. Es nimmt an, dass die Psychotherapie ihre Wirkung aufgrund eines bestimmten Kontextes entfaltet, in dem Therapeut und Patient interagieren. Dieser Kontext wird durch drei wesentliche Aspekte geschaffen: Zuerst braucht es eine echte Beziehung zwischen Therapeut und Patient. Diese Beziehung soll vertraulich, authentisch und über das Pflichtmaß an Freundlichkeit hinausgehend sein. Zweitens müssen sowohl der Patient als auch der Therapeut eine Erwartung an die Therapie haben. Der Patient muss tatsächlich davon ausgehen, dass der Therapeut seine Probleme erklären und passende Lösungsmöglichkeiten anbieten kann. Aber auch der Therapeut braucht eine positive Erwartungshaltung. Er muss davon überzeugt sein, dass die durch ihn durchgeführte Therapie hilft.
Der dritte und letzte Wirkmechanismus umfasst die tatsächliche Durchführung der Therapie durch einen ausgebildeten Therapeuten. Bei der Behandlung selbst wird die Wirkung nicht psychotherapieschulen- spezifischen Faktoren zugeordnet, sondern der Annahme, dass gesundheitsfördernde Verhaltensweisen besprochen und trainiert werden. Dazu gehören Bereiche wie ein verändertes Denken und eine Veränderung der Sicht auf die Welt, eine Erklärung für die bestehenden Probleme zu haben, Selbstreflexion oder auch das Anleiten bei sozialer Interaktion. Außerdem soll ein gestärktes Selbstwertgefühl das Bewusstsein der Selbstwirksamkeit schaffen. Erzielt der Patient eine Verbesserung in einem dieser Lebensbereiche, so wirkt sich dies positiv auf die anderen beispielhaft genannten Felder aus. Wenn sich die eigentliche Wirksamkeit der Psychotherapie entsprechend des Kontextuellen Metamodells in einer „echten Beziehung“, einer „bestimmten, positiven Erwartung“ und der „Durchführung von geschultem Personal“ finden lässt, kann dadurch auch die Effektivität von Interventions-Apps und Laientherapie erklärt werden.11 Die abstrahierten, gemeinsamen Wirkfaktoren lassen sich teilweise auch in anderen Kontexten wiederfinden, wie zum Beispiel in der Seelsorge. Worin sich Psychotherapie und Seelsorge ähneln und worin sie sich grundlegend unterscheiden, wird im Folgenden am Beispiel der kognitiven Verhaltenstherapie gezeigt.
2. KOGNITIVE VERHALTENSTHERAPIE
Die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) wird hier als ein Psychotherapiekonzept herausgegriffen, das Einzug in die christliche Seelsorge erhalten soll.12 Auf den ersten Blick könnte man meinen, die KVT sei im Vergleich zur von Siegmund Freud begründeten Psychoanalyse weltanschaulich neutral. Kann sie daher problemlos in die Seelsorge integriert oder gar losgelöst von der Seelsorge von Christen angeboten werden? Wir können die Kernfrage unserer Untersuchung zuspitzen: Sollten Christen „Kognitive Verhaltenstherapie“ praktizieren? Lerntheoretische Grundlagen Verhaltenstherapien sind aus den lernpsychologischen Erkenntnissen des Behaviorismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hervorgegangen. Zu dieser Zeit wurden Lerntheorien (zum Beispiel klassische und operante Konditionierung)13 formuliert, die bis heute an den Universitäten gelehrt werden. Die Grundannahme der Verhaltenstherapie ist, dass das Verhalten eines jeden Menschen zu einem Großteil erlernt und in der Konsequenz auch modifizierbar ist. Wir können also neue Verhaltensweisen lernen und alte wieder verlernen. Das Attribut „kognitiv“ wendet die eben genannten Überlegungen auf das Denken an, was bedeutet, dass auch unsere Denkweisen modifiziert werden können. Durch die KVT sollen „falsche“ Überzeugungen oder „nicht dienliche“, die den Patienten belasten, erkannt und verändert werden. Es soll also ein schädliches Gedankenverhalten modifiziert und in produktive Bahnen gelenkt werden. Unser Denken und unser Verhalten haben Auswirkungen auf unser gesamtes Leben. Ständig finden wir uns in verschiedenen Situationen wieder, die wir bewerten und auf die wir reagieren müssen. Diese Reaktionen können gewollte oder ungewollte Gefühle, körperliche Erregungszustände oder Verhaltensweisen sein. Wenn wir infolge einer durch uns als kritisch bewerteten Situation ein bestimmtes negatives Denk- und Verhaltensmuster erlernen, können wir dieses unbewusst auf weniger kritische Situationen übertragen. Die Kopplung von Bewertung und Reaktion führt dann zu unangemessenem Denken und Handeln. Die KVT setzt an dieser Stelle an und möchte die unangemessen negativen Gedanken durch angebrachtere Vorstellungen ersetzen. Durch die Therapie soll der Patient befähigt werden, seine Gedanken besser kontrollieren zu können und zur Bewertung von Situationen Maßstäbe heranzuziehen, die ihn eine Gegebenheit positiver erleben lassen. Die KVT lässt sich auf vier grundlegende Prinzipien reduzieren.15 Erstens ist sie zielorientiert. Sie beschäftigt sich mit der Bewältigung konkreter Probleme. Im Gegenteil dazu versucht die Psychoanalyse zuerst verborgene Traumata zu ergründen, um sie anschließend zu bewältigen. Zweitens ist die KVT im Hier und Jetzt verankert. Änderungen des Denkens und Verhaltens sollen vor Ort und in der Gegenwart vollzogen werden. Drittens ist das handelnde Subjekt der Patient selbst. Der Therapeut gibt lediglich eine Hilfe zur Selbsthilfe (Stichwort: Selbstwirksamkeit). Viertens zielt die KVT darauf ab, negative Gedankenautomatismen zu erkennen und zu durchbrechen. Klinische Anwendung Für die KVT gibt es viele Indikationen: Depression,16 Angststörungen,17 Panik,18 Schlafstörungen,19 Zwangsstörungen, Reizdarm-Syndrom, Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung, chronische Schmerzen, Tinnitus, rheumatische Erkrankungen, überaktive Blase, et cetera.20 Ein Vorzug dieser Therapieschule besteht darin, dass bis zum Eintreten einer Besserung der Beschwerden im Durchschnitt weniger Therapiesitzungen benötigt werden als bei anderen Psychotherapieformen.21 Grob skizziert läuft die KVT wie folgt ab: Ein Hilfesuchender sucht einen Therapeuten aus. In ersten Gesprächen wird überprüft, ob zwischen den beiden Parteien die nötige, vertrauensvolle Beziehung hergestellt werden kann (siehe oben). Anschließend wird eine Problem- und Verhaltensanalyse durchgeführt und ein Therapieplan aufgestellt. Dann werden Methoden besprochen, die vom Patienten regelmäßig geübt werden sollen. Hausaufgaben sind Teil der Therapie. Ein Beispiel für eine Technik, die in einer Situation mit destruktiven Gedanken zum Einsatz kommen kann, ist die kognitive Umstrukturierung. Allerlei Gedanken schwirren durch unsere Köpfe und werden selten reflektiert. Dieses Reflektieren ist der Arbeitsauftrag bei der „kognitiven Umstrukturierung“. Der Patient soll Gedanken, die ihn beeinträchtigen, identifizieren, kritisch reflektieren und gegebenenfalls modifizieren lernen. Ein kurzes Beispiel: Ein Patient hat eine Depression.22 Er identifiziert Gedanken nach dem Muster: „Was kann ich eigentlich? Ich bin nutzlos.“ Diese werden beispielsweise umstrukturiert in: „Nein, ich denke, ich bin nutzlos.“ Das Hinzufügen der Einordnung „ich denke“ bewirkt eine bewusste Distanzierung vom eigenen Denken. Erst dadurch wird eine Überprüfung des Wahrheitsgehalts ermöglicht. So kann es gelingen den „Circulus vitiosus“ in einen „Circulus virtuosus“23 zu überführen (von „fehlerhaft“ zu „fähig“). Wenn das erreicht ist und beim Hilfesuchenden zur Gewohnheit geworden ist, hat die KVT ihr Zeil erreicht.
3. BIBLISCHE BEURTEILUNG DER KVT
Diese kurze Übersicht befähigt uns bereits, eine kritische Analyse und Beurteilung dieses Therapiekonzepts im Rahmen des christlichen Weltbilds vorzunehmen. Die eben dargestellte Methode der „kognitiven Umstrukturierung“ und Distanzierung zu akzidentellen Gedankengängen weist positive Elemente auf. Was Paulus Christen aufträgt, klingt ähnlich: „Denn die Waffen unseres Kampfes sind nicht fleischlich, sondern mächtig für Gott zur Zerstörung von Festungen; so […] nehmen [wir] jeden Gedanken gefangen unter den Gehorsam Christi“ (2. Korinther 10,4). Insofern trägt uns Paulus lange vor der Begründung der KVT in gewisser Weise das Prinzip der „kognitiven Umstrukturierung“ auf. Wir sollen unsere (respektive alle) Gedanken umstrukturieren, indem wir unsere Gedanken anhand der Bibel überprüfen und sie mithilfe der uns zugesprochenen Verheißungen hinterfragen. Dazu schreibt Paulus in Philipper 4,8: „Übrigens, Brüder, alles, was wahr, alles, was ehrbar, alles, was gerecht, alles, was rein, alles, was liebenswert, alles, was wohllautend ist, wenn es irgendeine Tugend und wenn es irgendein Lob [gibt], das erwägt!“ Die KVT macht sich an dieser Stelle eine gute Methode zu eigen, weil sie unbewusst auf biblische Prinzipien zurückgreift. Neben dieser einen Methode, die wir in der KVT finden und die durchaus biblisch begründbar nachzuahmen ist, treten andere Faktoren hervor, die sich nicht mit dem christlichen Weltbild vereinbaren lassen. Was der KVT den Anschein der Neutralität nimmt, ist das zugrundeliegende Menschenbild. Im gängigen Standardwerk „Lehrbuch der Verhaltenstherapie“ heißt es dazu: „Jeder psychotherapeutische Ansatz – jede Richtung, jede ‘Schule‘ – vermittelt über die eigenen Modellvorstellungen auch ein bestimmtes Bild vom Menschen. Dies wird oft nicht explizit ausformuliert, sondern in den Behandlungsempfehlungen zeigt sich indirekt, welchen Zusammenhängen besonderes Gewicht beigemessen wird.“24 Demgemäß handelt es sich bei der KVT nicht um eine objektive und neutrale Beobachtungsmethode, sondern die gewonnenen Erkenntnisse werden innerhalb der jeweiligen Weltanschauung weiterverarbeitet. Im Fall der KVT handelt es sich um ein materialistisch geprägtes Weltbild, welches sich von geistlichen Realitäten distanziert. Damit zeichnet sich ein erster gravierender Unterschied zur Grundausrichtung der Seelsorge ab. Die Unterschiede lassen sich kategorisch in drei Punkten25 zusammenfassen:
a) Gottlos Die KVT ist gottlos aufgebaut. Gott ist nicht Teil der Gleichung, die zum Ergebnis einer gelungenen Therapie führen soll. Ausgangspunkt und handelndes Subjekt in der KVT ist nicht der heilige und gerechte Gott, wie er in der Bibel in Römer 3 oder Jesaja 6 beschrieben wird. Sondern der Fokus liegt auf menschlichen Gedanken, die für das Leben einer Person zuträglich oder hinderlich sein können. Die KVT kreist von ihrem Wesen her einzig und allein um den Menschen, während die echte Seelsorge um Gott kreist.
b) Relativistisch Die KVT hält sich weder an Gottes Maßstab (die Bibel) noch an irgendein anderes für alle Teilnehmer verbindliches Wertegerüst. Jeder Hilfesuchende muss sich zuerst seine eigene Lebens- und Moralvorstellung konzipieren, um anschließend innerhalb dieser Vorstellungen, die für niemanden sonst eine Verbindlichkeit haben, eine Lösung für seine Probleme finden. Offen bleibt die Frage, woran sich der Patient beim Erstellen seiner persönlichen Maßstäbe orientieren soll. Was ist zuträglich und was ist hinderlich? Es liegt nahe, dass die Bewertung von Patient zu Patient, aber auch von Therapeut zu Therapeut divergieren und sich jederzeit ändern, also relativieren, kann. Seelsorge entscheidet anders. Sie ist in Gottes Wort gegründet und hat damit feste, für jeden anhand der Bibel überprüfbare Werte. Denn nur Gott allein hat das Recht, die Macht und die Weisheit, gute und richtige Maßstäbe festzulegen. Und deshalb orientiert sich der Christ an ihm.
c) Menschenzentriert Weil bewusst keine definierte Transzendenz und insbesondere nicht der Gott der Bibel im Mittelpunkt der Verhaltenstherapie steht, rückt der einzelne Mensch an diesen Platz. Insofern spielen für die KVT grundsätzliche theologische Wahrheiten keine Rolle. Zwei wesentliche konstitutive Merkmale des Christentums sind die Geschöpflichkeit und die Sündhaftigkeit des Menschen, der seinem vollkommenen, heiligen Schöpfer gegenüber steht. Indem die Geschöpflichkeit geleugnet wird, erleidet der Mensch den Verlust entscheidender Bestandteile seines Wertes. Auf welcher Basis soll ich den Gedanken „ich bin wertlos“ umstrukturieren, wenn ich – zugespitzt gesprochen – arm, arbeitslos und in zerrütteten Verhältnissen lebe? Worin kann ich einen Wert finden, der nicht durch mein eigenes Denken oder das Urteilen anderer zunichte gemacht werden kann? Die Seelsorge hat keine Probleme damit, eine feststehende Lösung für diese Gedanken zu bieten, was nicht leugnet, dass es eine Herausforderung ist. Der Mensch hat einen Wert aufgrund seines Schöpfers (1. Mose 1,26). Und diesem Schöpfer sind seine Geschöpfe so viel wert, dass er trotz des Sündenfalls seinen geliebten Sohn Jesus Christus geschickt hat, um Sündern den einzigen Weg zum unverdienten Heil zu ebnen (Johannes 3,16 und 14,6). Nur über diesen gottzentrierten Ansatz kann man dem Menschen gerecht werden und seinem tiefsten Problem – der Verlorenheit vor Gott – begegnen. Die KVT missachtet diese Verlorenheit und kennt auch keine Ewigkeit. Sie verspricht „die Lösung“ von Problemen allein aus menschlicher Kraft mit täuschenden Gedanken, wie „ich bin gut“ oder „ich muss nur mir selbst gefallen“. Solche menschenzentrierten Gedanken verhüllen Hilfsbedürftigen den Blick auf ihre wahre Hilfsbedürftigkeit, die Möglichkeit der Buße und das Heil. Außerdem können sie auch zu direkt spürbaren Schäden führen. Der Berliner Psychiater Prof. Bschor verweist auf weitere, bedenkenswerte Wirkungen der Psychotherapie: „Immer wieder kommt es dazu, dass sich Menschen im Rahmen einer Psychotherapie vom Partner trennen oder die Arbeit kündigen. [...] Auch wurden Psychotherapie- Patienten beobachtet, bei denen sich durch die intensive Beschäftigung mit der eigenen Person ausgeprägte egoistische Züge entwickelt haben.“26 Insofern verliert die KVT die Verlorenheit des Menschen aus den Augen – seine prekäre Situation vor Gott. Indem die Sündennatur missachtet wird, wird der Weg zum Kreuz und zur Buße verbaut, den Gott jedem von uns eröffnet hat. Vermeintlich positive Gedanken, die helfen sollen, den Menschen aus seiner emotionalen Tiefe zu befreien, täuschen ihn vielmehr und verdecken ihm, wie bereits erwähnt, die Sicht auf seine Verlorenheit, seine wahre Hilfsbedürftigkeit und auf das Heil Gottes.
4. FAZIT
Die kognitive Verhaltenstherapie und die biblische Seelsorge27 haben eine nicht miteinander zu vereinbarende Anthropologie. Können Christen dennoch kognitive Verhaltenstherapie praktizieren? Hierauf können wir eine klare Antwort geben: Nein. Denn Christen würden, wenn sie sich der KVT bedienten, eine Methode anwenden, die entgegengesetzt zum christlichen Weltbild konzipiert wurde, auch wenn das nicht immer direkt offensichtliche Konsequenzen haben muss. Eine „normale“ KVT ersetzt und ergänzt keine Seelsorge, weil sie dahin leitet, dass man sich selbst helfen kann und Gott nicht nötig hat. Sie führt weg von der Sündenerkenntnis und arbeitet daher entgegen der Seelsorge. Nur weil Seelsorge, die es schon länger gibt, Prinzipien verwendet, die die KVT ebenfalls anwendet, heißt es nicht, dass man alles andere aus der KVT in die Seelsorge integrieren sollte. Dessen muss man sich bewusst sein, wenn man sich einst einer solchen Therapie unterzogen hat oder vielleicht gerade unterzieht. Dabei können einem Fragen helfen wie: Welche Denk-Prinzipien bekomme ich vermittelt? Stimmen diese mit der Bibel überein? Wo muss ich Buße tun? Glücklicherweise verlieren wir nichts, wenn wir uns der KVT nicht bedienen. Die oben genannten, allgemeinen Wirkfaktoren der Psychotherapie lassen sich großteils auch auf eine liebevolle, sorgfältige seelsorgerliche Begleitung im Rahmen der Gemeinde übertragen. Insofern können wir genauso einen wirksamen Kontext schaffen, in dem wir unserem Gegenüber wertschätzend und authentisch begegnen, mit der festen Überzeugung, dass unsere Methodik (Seelsorge) wirksam ist. „Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes ganz zubereitet sei, für jedes gute Werk ausgerüstet.“ (2. Timotheus 3,16–17) Wie Paulus können wir darauf vertrauen, dass Gott dazu fähig ist, durch sein Wort Christen, in egal welcher Lebenssituation sie sich befinden mögen, zu befähigen, ein ihm wohlgefälliges und zugerüstetes Leben zu führen. Jeder Christ steht in der Verantwortung „Seelsorge“ anzubieten, also sich den Problemen seiner Glaubensgeschwister anzunehmen, beziehungsweise jemanden zu suchen, der sich dessen annehmen kann und der einem hilft, die Wahrheit aus 2. Timotheus 3,16–17 auf das eigene Leben anzuwenden. Dabei mag es sicher nicht schaden, wenn der Seelsorger sich theoretisch (und natürlich auch praktisch) darin übt, Hilfesuchende anhand der Bibel und im liebevollen Gespräch zu überführen und zu begleiten. Von der Bibel her findet sich das Konzept des professionellen Seelsorgers nicht. Aber es findet sich, dass die Ortsgemeinde der Ort ist, in dem Seelsorge primär ausgeübt werden soll. Hebräer 10,23–25: „Lasst uns das Bekenntnis der Hoffnung unwandelbar festhalten – denn treu ist er, der die Verheißung gegeben hat –, und lasst uns aufeinander achthaben, um uns zur Liebe und zu guten Werken anzureizen, indem wir unser Zusammenkommen nicht versäumen, wie es bei einigen Sitte ist, sondern [einander] ermuntern, und [das] umso mehr, je mehr ihr den Tag herannahen seht!“ Jeder Christ ist generell angehalten, sich in einer Ortsgemeinde einzubringen. Durch ihren objektiven Wahrheitsgehalt, dadurch, dass sie zu Gott hinführt, dadurch, dass sie Befreiung durch Vergebung bietet und um Ewigkeit bemüht ist, bietet uns die Seelsorge so viel mehr als eine KVT. Und dadurch kann der Christ zu guter Letzt im Gegensatz zum Gottlosen, der allein auf seine Selbstwirksamkeit zurückgeworfen ist, auf Gottes Wirksamkeit hoffen. Hebräer 4,14–16 bestätigt uns dies : „Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis. Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde. Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.“
[Quellen] siehe PDF
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Was soll meine Seele heilen? Eine Untersuchung zu Psychotherapie und Seelsorge.pdf
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Was sollte bei einer depressiven Symptomatik medizinisch abgeklärt werden?
Was sollte bei einer depressiven Symptomatik medizinisch abgeklärt werden?
Autor: Dr. rer. nat. Martin Schumacher & Dr. med. Matthias Klaus
„Unspezifische Verhaltens- und Stimmungsänderungen sind oft das erste und manchmal für längere Zeit das einzige und ausschließliche Anzeichen für eine unerkannte körperliche Erkrankung. Durch ihre offensichtliche und überzeugende 'psychologische' Natur und Präsentation führen solche maskierten körperlichen Zustände den Arzt häufig in die Irre und verhindern so jede weitere medizinische (das heißt somatische) Untersuchung, was zu Fehldiagnosen und damit zwangsläufig zu einer fehlgeleiteten Behandlung führt.“1
– Erwin Koranyi (1924–2012), kanadischer Psychiatrieprofessor
Eine gedrückte Stimmung, Interessenverlust, Freudlosigkeit, leichte Ermüdbarkeit, ein vermindertes Selbstwertgefühl, Schlafstörungen, eine Verminderung des Antriebs und Ähnliches mehr sind häufige Probleme von Menschen, die ärztliche oder seelsorgerliche Hilfe suchen. Wenn mehrere dieser Symptome bei einem Betroffenen länger als zwei Wochen bestehen, rechtfertigt dies gemäß dem gültigen Diagnoseschlüssel ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation2 die Diagnose einer Depression (Diagnosecodes F32-F39). Der Begriff Depression wird dabei nur beschreibend verwendet, das heißt, er fasst mehrere Symptome in einem Begriff zusammen. In diesem Sinn bezeichnet Depression keine Krankheit, sondern das zeitgleiche Auftreten mehrerer Symptome (wie zum Beispiel Fieber und Gliederschmerzen in der somatischen Medizin). Der Begriff Depression umfasst nicht nur verschiedene Schweregrade der Symptomatik (leicht/mittelgradig/ schwer), sondern auch unterschiedliche Typen, wie depressive Episode, reaktive Depression, endogene Depression (Melancholie), Dysthymie (chronische leichte Depression), atypische Depression (vorwiegend Symptome organischer Art), Prämenstruelle Dysphorische Störung (eine schwere Form des Prämenstruellen Syndroms (PMS) mit Depression), Wochenbettdepression und psychotische Depression. Differenzialdiagnostisch muss eine Depression von anderen Krankheitsbildern wie Demenz, Stupor, Delirium, Parkinson oder auch einem Burnout abgegrenzt werden. Außerdem wird die Unterscheidung zwischen einer Bipolaren Störung (früher auch als manisch-depressive Erkrankung bezeichnet) und einer Depression oft verfehlt, weil (hypo)manische Phasen des Öfteren nur von kurzer Dauer sind und von den Betroffenen nicht als krankhaft angesehen werden. Aus diesen Gründen wird das Vorliegen einer Bipolaren Störung manchmal erst nach vielen Jahren diagnostiziert, was die Wahl der Pharmakotherapie und den Krankheitsverlauf negativ beeinflusst. Umgangssprachlich wird der Begriff Depression inflationär gebraucht. Ein Blick auf die Zahlen zeigt, dass man tatsächlich von einer Volkskrankheit sprechen könnte. Das Risiko, im Laufe des Lebens an einer Depression (alle Formen) zu erkranken, liegt national wie international bei 16–20 %. Das bedeutet, dass jeder fünfte bis siebte Mensch in seinem Leben die Erfahrung einer Depression macht. Frauen sind dabei etwa doppelt so häufig wie Männer betroffen. Die Häufigkeit einer behandelten Depression (Diagnoseprävalenz) wird stetig größer; von 2009–2017 stieg sie um 26 %.3
1. Depressionstypen
Depressionen können sehr viele verschiedene Ursachen haben. Die Art und auch der Schweregrad der Symptome sind unspezifisch und lassen leider keinen Rückschluss auf die Ursache zu. Sinnvoll ist die Unterscheidung von grundsätzlich drei verschiedenen Depressionstypen, in die die oben genannten verschiedenen Ausprägungen einer Depression eingruppiert werden können. Endogene Depression (Melancholie) Die Melancholie ist eine schwere Erkrankung, die mit einer ausgeprägten somatischen Symptomatik wie beispielsweise einer psychomotorischen Verlangsamung einhergeht. Darüber hinaus zeigt sie einen wiederkehrenden (episodischen) Verlauf und tritt oft familiär gehäuft auf. Oft bestehen auch Wahnideen (zum Beispiel Versündigungswahn, Verarmungswahn) und das Risiko eines Suizids ist erhöht. Beim Auftreten einer endogenen Depression können oft keine auslösenden Faktoren erkannt werden, die Depression beginnt dann wie „aus heiterem Himmel“. Der Anteil dieses Depressionstyps beträgt etwa 10 %. Psychogene (neurotische, reaktive) Depression Bei der psychogenen Depression liegt die Ursache für die depressive Symptomatik in äußeren oder inneren psychischen Faktoren.4,5 Hierzu zählen unter anderem erlittene Traumata, Verluste, Stress und schwierige Lebensumstände. Die psychogene Depression ist mit einem Anteil von etwa 80 % die weitaus häufigste. In diesem Fall ist eine seelsorgerliche Begleitung die „Therapie“ der Wahl. Psychogen verursachte Depressionen haben bei einer Elimination der verursachenden Faktoren eine sehr gute Prognose. Exogene (sekundäre) Depression Dieser Typ umfasst alle Depressionen, die durch physische Faktoren ausgelöst werden. Die Liste der potentiellen Ursachen ist sehr lang und umfasst neben vielen verschiedenen körperlichen Erkrankungen einen Mangel an wichtigen Nährstoffen, Nebenwirkungen von Medikamenten, Drogen und Intoxikationen (Schwermetalle, organische Gifte). Der Anteil dieser Depressionsform beträgt etwa 10–20 %. Auf die Abgrenzung der exogenen Depressionen von den anderen genannten Depressionstypen wird im Folgenden näher eingegangen. Der Begriff Depression umfasst nicht nur verschiedene Schweregrade der Symptomatik (leicht/mittelgradig/ schwer), sondern auch unterschiedliche Typen, wie depressive Episode, reaktive Depression, endogene Depression (Melancholie), Dysthymie (chronische leichte Depression), atypische Depression (vorwiegend Symptome organischer Art), Prämenstruelle Dysphorische Störung (eine schwere Form des Prämenstruellen Syndroms (PMS) mit Depression), Wochenbettdepression und psychotische Depression. Differenzialdiagnostisch muss eine Depression von anderen Krankheitsbildern wie Demenz, Stupor, Delirium, Parkinson oder auch einem Burnout abgegrenzt werden. Außerdem wird die Unterscheidung zwischen einer Bipolaren Störung (früher auch als manisch-depressive Erkrankung bezeichnet) und einer Depression oft verfehlt, weil (hypo)manische Phasen des Öfteren nur von kurzer Dauer sind und von den Betroffenen nicht als krankhaft angesehen werden. Aus diesen Gründen wird das Vorliegen einer Bipolaren Störung manchmal erst nach vielen Jahren diagnostiziert, was die Wahl der Pharmakotherapie und den Krankheitsverlauf negativ beeinflusst. Umgangssprachlich wird der Begriff Depression inflationär gebraucht. Ein Blick auf die Zahlen zeigt, dass man tatsächlich von einer Volkskrankheit sprechen könnte. Das Risiko, im Laufe des Lebens an einer Depression (alle Formen) zu erkranken, liegt national wie international bei 16–20 %. Das bedeutet, dass jeder fünfte bis siebte Mensch in seinem Leben die Erfahrung einer Depression macht. Frauen sind dabei etwa doppelt so häufig wie Männer betroffen. Die Häufigkeit einer behandelten Depression (Diagnoseprävalenz) wird stetig größer; von 2009–2017 stieg sie um 26 %.3 Das folgende Flussdiagramm soll dabei helfen, sich im Diagnostikprozess zu orientieren, indem ein schrittweises Vorgehen zur medizinischen Abklärung von Depressionen vorgestellt wird. Die in diesem Artikel genannten Maßnahmen werden in einer übersichtlichen Form dargestellt und konkrete Maßnahmen aufgezeigt. Die im Flussdiagramm häufig erwähnten Basismaßnahmen (BM) sind von fundamentaler Wichtigkeit und sollten nicht vernachlässigt werden. Eine detaillierte Beschreibung findet man im Artikel „Basismaßnahmen Depressionen“ ab Seite 22 in diesem Heft.
2. Exogene Ursachen von Depressionen
Depressionen können durch viele verschiedene Faktoren verursacht werden. Einige davon sind trivial und werden deshalb oft nicht in Betracht gezogen. Einige dieser Faktoren sind beispielsweise:
– Schlafmangel
– übermäßiger Konsum digitaler Medien
– einseitige Ernährung (vegetarisch, vegan, Fastfood)
– rezeptpflichtige Medikamente (Antibabypille)
– körperliche Inaktivität, Übergewicht
– Eisenmangel (häufig bei menstruierenden Frauen; auch ohne manifeste Anämie)
– Borreliose
– Autoimmunkrankheiten (Lupus, Rheumatoide Arthritis, Hashimoto-Thyreoiditis, Sjögren-Syndrom, Diabetes Typ I)
– Medikamente
– Drogen (Kokain, Cannabis)
– Obstruktive Schlafapnoe (unbehandelt)
– Infektionen durch Bakterien, Viren, Protozoen, Würmer oder Pilze
– Erbkrankheiten (Morbus Wilson, Porphyrie, Chorea Huntington)
– Hormonelle Störungen (Fehlfunktion von Schilddrüse oder Nebenniere, Diabetes, Prämenstruelles Syndrom)
– Tumore (Gehirn, Pankreas)
– Allergien/Unverträglichkeiten (Fruktose, Laktose)
– Mangelzustände (Eisen, Vitamine, Mineralien, Spurenelemente)
– Organerkrankungen (Herz, Niere, Leber, Pankreas)
– Neurologische Erkrankungen (Epilepsie, Multiple Sklerose)
– Intoxikationen (Schwermetalle, organische Gifte)
3. Wann ist eine medizinische Untersuchung angezeigt?
In jedem Fall sollte eine medizinische Untersuchung erfolgen. Leider wird diese häufig nicht oder nur unzureichend durchgeführt. In vielen Fällen ist es schwierig zu beurteilen, ob mögliche körperliche Ursachen ausreichend abgeklärt wurden. Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen mit schwerer Depression ist an eine somatische Ursache zu denken.14–16 Im Folgenden soll ein Leitfaden an die Hand gegeben werden, mit dem man überprüfen kann, ob eine ausreichende medizinische Abklärung erfolgt ist, beziehungsweise welche Untersuchungen angezeigt sind. Das Erkennen einer organischen Ursache (zum Beispiel Hirntumor) ist von großer Wichtigkeit und Tragweite, da in solchen Fällen sowohl eine Seelsorge als auch eine medikamentöse antidepressive Therapie die Ursache nicht behandeln können.
4. Medizinische Basisuntersuchungen
Um herauszufinden, welche Ursache zu dem depressiven Beschwerdebild führen, sollten gewisse Untersuchungen immer durchgeführt werden, wir nennen sie daher Basisuntersuchungen. Hierzu gehören:
– umfassende Anamnese
– medizinische Untersuchung (inklusive Vitalzeichen und neurologischem Status)
– Laboranalysen (Blutbild, CRP, BSG, TSH, Elektrolyte, Ferritin, Leber- und Nierenwerte)
– Medikamentenanamnese (auch rezeptfreie Präparate und Nahrungsergänzungsmittel, siehe Infobox „Medikamente als Auslöser von Depressionen‟)
5. MEDIKAMENTE ALS AUSLÖSER VON DEPRESSIONEN
Eine besondere Beachtung als mögliche Ursache einer depressiven Symptomatik verdienen Medikamente und Drogen. Sehr viele Medikamente können Symptome einer Depression hervorrufen, insbesondere wenn mehrere Medikamente gleichzeitig eingenommen werden (Polypharmazie). Ältere Menschen sind diesbezüglich besonders empfindlich und auch öfters betroffen. Es ist eine gewisse Ironie, dass sogar viele Psychopharmaka psychische Symptome verursachen können, die nur schwer von denen einer psychischen Störung unterschieden werden können.17 Es wurde auch nachgewiesen, dass moderne Antidepressiva sogar Suizide und Gewalttaten auslösen können, vor allem in der ersten Woche nach Medikationsbeginn.24 Die folgenden Medikamentengruppen und Medikamente sind als mögliche Auslöser von Depressionen bekannt. Die angeführten Wirkstoffnamen stellen nur eine Auswahl dar. Es muss betont werden, dass nicht alle Wirkstoffe einer Medikamentengruppe, zum Beispiel Antibiotika, eine Depression auslösen können. Es ist insbesondere darauf zu achten, ob es eine zeitliche Beziehung zwischen der Einnahme eines Medikaments und des Auftretens der depressiven Symptomatik gibt. Hier folgt eine kleine Auswahl von Medikamenten, die depressive Symptome auslösen können:
– Antiepileptika (Topiramat, Phenytoin, Primidon, Phenobarbital)
– Kortikosteroide (Prednisolon, Methylprednisolon)
– Kontrazeptiva (Antibabypille)
– Immunsuppressiva (Azathioprin, Zytostatika, Interferon)
– Antipsychotika (Olanzapin, Amisulprid, Quetiapin, Risperidon, Haloperidol)
– Antibiotika (Fluorchinolone, Ofloxacin, Gyrasehemmer)
– Virostatika (Aciclovir)
– Antihypertensiva (ACE-Hemmer, Betablocker, Calciumkanalblocker)
Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass ein längerfristiger Drogenkonsum häufig depressive Symptome hervorruft. Allen voran ist der Alkoholkonsum zu nennen, dann aber auch Drogen wie Kokain, Amphetamine und Cannabis
6. BESONDERHEIT AUTOIMMUNE ENZEPHALITIS (Gehirnentzündung)
In den vergangenen 25 Jahren wurde die Verursachung von Psychosen, Zwangserkrankungen und affektiven Störungen (Depressionen) durch Autoimmun Enzephalitiden (Gehirnentzündungen) intensiv erforscht. Beim Vorliegen eines oder mehrerer der untenstehenden Anzeichen ist eine Lumbalpunktion und Untersuchung des Liquors angezeigt.20 Allerdings ist es auch möglich, dass eine Autoimmun-Enzephalitis ohne die unten aufgelisteten Anzeichen oder einen positiven Befund der Autoantikörperserologie (Seronegativität) vorliegt. Vorwiegend psychiatrische Symptome und zusätzlich folgende Symptome können Ausdruck einer autoimmunen Enzephalitis sein:
– Krampfanfälle
– Bewegungsstörungen
– Bewusstseins- und/oder Kognitionsstörungen
– Fieber
– fluktuierende psychiatrische Symptome
– Kopfschmerzen
– kürzlich entdeckte Tumore
– neurologische Defizite
– Sprach- und Sprechstörungen
– Therapieresistenz gegenüber einer psychopharmakologischen Standardtherapie
7. Warnhinweise beachten – von versteckten Hinweisen bis zu ernsten Warnzeichen (Red Flags)
Entsprechend des breiten Ursachenspektrums exogener Depressionen ist die Anzahl der möglichen medizinischen Diagnostik sehr groß. Eine umfassende apparative und labormedizinische Untersuchung ist jedoch sehr aufwendig und in den meisten Fällen nicht angezeigt. Erst wenn bestimmte Indikatoren vorhanden sind, sollten weitergehende, über die genannten Basisuntersuchungen hinausgehende Schritte durchgeführt werden.18,19 Folgende Warnzeichen sprechen für eine organische Ursache.3,18-20 Insbesondere wenn die Zeichen oder Symptome in einem zeitlichen Zusammenhang mit dem Auftreten der depressiven Symptomatik stehen, sind sie ein starker Hinweis hierfür. Eine neue schwere depressive Symptomatik und:
– neurologische Fokalsymptomatik (zum Beispiel Lähmungen, Bewegungs-, Sensibilitäts- oder Sprechstörungen)
– auffällige klinische Veränderungen (zum Beispiel ausgeprägter Gewichtsverlust oder -zunahme, Fieber)
– ausgeprägte Bewusstseins- und/oder kognitive Störungen
– psychotische Symptomatik (optische Halluzinationen, Wahn)
– fehlende Hinweise auf psychosoziale Stressfaktoren und/oder schwierige Lebensumstände des Patienten
– bekannte schwere chronische oder akute somatische Begleiterkrankung
– chronischer Verlauf der depressiven Symptomatik
– Therapieresistenz gegenüber einer psychopharmakologischen Standardtherapie
– erstmaliges Auftreten der depressiven Symptomatik in einem Alter von mehr als 35 Jahren
– regelmäßiger Konsum von Medikamenten, Alkohol oder Drogen
– Kopfverletzung(en)
– ungewöhnliche Kopfschmerzen oder Änderung des Kopfschmerzmusters
– Änderung des Bewusstseins (Bewusstseinstrübung) oder der Persönlichkeit
– plötzliche Todesangst
– kürzlich entdeckte Tumore
– Krampfanfälle (Epilepsie)
– fluktuierende psychiatrische Symptome
8. Zusammenfassung
Depressionen kommen häufig vor und sind oft mit großem Leid verbunden. Dass es verschiedene Ursachen von Depressionen gibt, wird meist nicht beachtet, da die Diagnose ja zuerst einmal deskriptiv, also nur beschreibend ist. Eine depressive Symptomatik kann auch durch eine Vielzahl physischer Faktoren ausgelöst werden. Da die Symptomatik keinen Hinweis auf ihre Ursache erlaubt, ist eine medizinische Untersuchung in jedem Fall angezeigt. Wenn nötig, sollten weitergehende Untersuchungen durchgeführt werden. Ein ausführliches Literaturverzeichnis erlaubt ein vertieftes Studium dieser Thematik.
[1] Koranyi, Morbidity and rate of undiagnosed physical illness in a psychiatric clinic population. Arch Gen Psychiatry 36(4): 414 (1979)
[2] Dilling, Mombour & Schmidt, Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD–10 Kapitel V (F). Hohgrefe 2015
[3] AWMF, Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression – Langfassung Version 3.2.2022 https://register.awmf.org/assets/guidelines/nvl005l_S3_Unipolare-Depression_2023-07.pdf
[4] Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Campus Verlag 2015
[5] Hari, Der Welt nicht mehr verbunden. Die wahren Ursachen von Depressionen – und unerwartete Lösungen. HarperCollins 2021
[6] Barsky & Silbersweig, Depression in Medical Illness. McGraw-Hill 2016
[7] Hasan, Praxishandbuch Somatik und Psyche. Urban & Fischer 2024
[8] Moore & Jefferson, Handbook of Medical Psychiatry. Elsevier Mosby 2004
[9] Skaer, Depression & Other mental illnesses caused by medical diseases. Eigenverlag 2017
[10] Summergrad, Muskin, Silbersweig & Querques, Textbook of Medical Psychiatry. American Psychiatric Association Publishing 2020
[11] Whitlock, Symptomatic Affective Disorders. Academic Press 1982
[12] Cutler & Marcus, Psychiatry. Oxford University Press 2010
[13] Mateson, Missing The Diagnosis: The Hidden Medical Causes of Mental Disorders (2015) https://www.continuingedcourses.net/active/courses/course101.php
[14] Bock, Das entzündete Gehirn. Wenn der Körper die Seele krank macht. riva 2022
[15] Bock & Stauth, Healing the New Childhood Epidemics. Autism, ADHD, Asthma, and Allergies. Ballantine Books 2008
[16] Charlier, Somatische Differenzialdiagnosen psychischer Symptome im Kindes- und Jugendalter. Springer 2016
[17] Breggin & Cohen, Your Drug May Be Your Problem. Da Capo Lifelong Books 2007
[18] Taylor, Psychological Masquerade. Distinguishing Psychological from Organic Disorders. Springer Publishing Company 2007
[19] Morrison, When Psychological Problems Mask Medical Disorders. Guilford Publications 2015
[20] Universitätsmedizin Göttingen, Ambulanz für Autoantikörper-vermittelte psychiatrische Erkrankungen https://psychiatrie.umg.eu/patienten-besucher/ambulanzen/autoantikoerper-vermittelte-psychiatrische-erkrankungen/
[21] Schaub, Das unterschätzte Element. Die Wiederentdeckung des Eisenmangelsyndroms. Verlag Aude-Curare 2009
[22] Jacobson, Laboratory Medicine in Psychiatry and Behavioral Science. American Psychiatric Association Publishing 2023
[23] Kohse, Taschenlehrbuch Klinische Chemie und Hämatologie. Thieme 2019
[24] Healy, Psychiatric Drugs Explained. Elsevier 2023
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Psychopharmaka – Nutzen und Risiken
Psychopharmaka – Nutzen und Risiken
Autor: Dr. rer. nat. Martin Schumacher
Psychopharmaka sind ganz allgemein Stoffe (Chemikalien oder Pflanzenextrakte), die eine erwünschte Wirkung auf die Psyche ausüben. Wikipedia definiert Psychopharmaka folgendermaßen: „Ein Psychopharmakon ist eine psychoaktive Substanz, die als Arzneistoff genutzt wird. Sie beeinflusst die neuronalen Abläufe im Gehirn und bewirkt dadurch eine Veränderung der psychischen Verfassung“.1 Alle Psychopharmaka beeinflussen einen oder mehrere neurochemische Vorgänge im Gehirn. Dieses reagiert, indem es sich an den durch das Medikament hervorgerufenen neuen Zustand anpasst und ihn zu kompensieren versucht. Die Wirkung von Psychopharmaka kann von den Betroffenen durchaus als hilfreich empfunden werden. Diese subjektiv empfundene Wirkung setzt sich aus mehreren Komponenten zusammen. Alle Substanzen haben einen beträchtlichen Placeboeffekt und viele psychische Leiden eine natürliche Heilungstendenz, die beide fälschlicherweise auch der Wirkung des Medikaments zugeschrieben werden können.
Krankheitszentriertes Modell | Wirkstoffzentriertes Modell |
---|---|
PP* korrigieren einen unnormalen Zustand des Gehirns. | PP erzeugen einen unnormalen Zustand des Gehirns. |
PP wirken spezifisch auf Krankheiten. | PP sind unspezifische psychoaktive Substanzen. |
Die therapeutischen Effekte beruhen auf der Wirkung auf die Pathophysiologie der Krankheit oder dem biologischen Mechanismus, der die Symptome erzeugt. | Hilfreiche Effekte sind das Produkt von wirkstoffinduzierten Veränderungen der normalen Hirnfunktion. |
PP wirken bei „Kranken“ anders als bei Gesunden. | PP zeigen bei „Kranken“ und bei Gesunden die gleichen Wirkungen. |
Beispiele: Insulin bei Diabetes, Antibiotika bei bakteriellen Infektionen | Beispiel: Alkohol bei sozialer Phobie |
*PP = Psychopharmaka
In der Tabelle (siehe oben) werden zwei verschiedene Modelle der Wirkungsweise von Psychopharmaka vorgestellt. 2 Das wirkstoffzentrierte Modell beschreibt meiner Meinung nach die wissenschaftlichen Beobachtungen zutreffender.
1. Gegenüberstellung von zwei Modellen der Wirkungsweise von Psychopharmaka
Die Begriffe Antidepressivum und Antipsychotikum (früher: Neuroleptikum) suggerieren, dass diese Medikamente gezielt gegen Depressionen beziehungsweise Psychosen wirken. Dies ist aber nicht der Fall. Sie wirken unspezifisch und auch nicht bei jeder Depression beziehungsweise Psychose (zum Beispiel, wenn diese durch eine körperliche Krankheit verursacht ist). Sie werden auch bei vielen anderen psychiatrischen Krankheitsbildern eingesetzt. Die Entdeckung der Neurotransmitter und das Verständnis der pharmakologischen Wirkmechanismen der Psychopharmaka führten zur Formulierung der Serotonin- Hypothese der Depression und der Dopamin- Hypothese der Schizophrenie, die gerne zur Erklärung dieser psychischen Störungen gebraucht werden. Diese Hypothesen sind jedoch keine wissenschaftlich fundierten Fakten, sondern nur grobe Erklärungsmodelle, die von den meisten Experten nicht mehr vertreten werden. So bezeichnet ein bekannter deutscher Psychiater und Depressionsexperte die Serotonin-Hypothese der Depression als „das Märchen vom Serotoninmangel“.3 Die tatsächlichen Ursachen psychischer Störungen sind offensichtlich wesentlich komplexer als die genannten einfachen Hypothesen und es gibt bis heute keine allgemein anerkannten Modelle und Erklärungen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Psychopharmaka psychische Störungen nicht im Sinne einer heilenden Wirkung beeinflussen, sondern eher eine unspezifische Unterdrückung von Symptomen bewirken. In dieser Hinsicht kann man sie mit Medikamenten wie Aspirin® oder Ibuprofen zur Behandlung von Fieber oder Schmerzen vergleichen.
2. Die Verschreibungspraxis von Psychopharmaka
Im Jahr 2021 wurden in der Bundesrepublik Deutschland 2,5 Milliarden Tagesdosen Psychopharmaka verordnet.4 Gemessen an der Zahl der Verordnungen (Rezepte) in der Bundesrepublik Deutschland standen diese Präparate im selben Jahr an dritter Stelle. Diese Zahlen deuten auf eine ernsthafte Problematik hin. Wenn man bedenkt, dass es vor 1950 nur sehr wenige Verordnungen von Psychopharmaka gab (alle wichtigen Präparate wurden erst später entdeckt und auf den Markt gebracht), wird der rasante Aufstieg des Gebrauchs der Substanzen deutlich. Der Anstieg der Verschreibungszahlen ist bis heute ungebrochen. An der Spitze stehen die Antidepressiva. Die Zahl der Tagesdosen dieser Medikamente hat sich in den letzten 40 Jahren mehr als verzehnfacht. Wie lässt sich dieser hohe Gebrauch von Psychopharmaka erklären? Als Gründe können unter anderem das gegenwärtig dominierende biologische Modell der psychischen Störungen, die Zunahme der Anzahl der psychiatrischen Diagnosen,5 die sich verändernde Gesellschaft und der Lebensstil, sowie die sinkende Resilienz in der westlichen Welt genannt werden.
3. Einteilung der Psychopharmaka
Grundsätzlich werden Psychopharmaka nach ihrer Indikation in verschiedene Klassen eingeteilt. Allerdings muss man betonen, dass diese Einteilung idealisiert ist und im psychiatrischen Alltag nicht strikt eingehalten wird. Moderne Psychopharmaka, zum Beispiel aus den Gruppen der Antidepressiva und Neuroleptika, kommen häufig bei einer Vielzahl von psychischen Störungen zum Einsatz. In den folgenden Abschnitten werden die verschiedenen Präparate zunächst mit ihrem Wirkstoffnamen und dann in Klammern mit einem oder mehreren gebräuchlichen Handelsnamen aufgeführt. Viele Psychopharmaka sind mittlerweile auch als Generika erhältlich, wobei der Handelsname dann häufig den Wirkstoffnamen erhält (zum Beispiel Quetiapin-ratiopharm®). Zu beachten ist, dass die Handelsnamen von Präparaten mit dem gleichen Wirkstoff je nach Anbieter und Land oft unterschiedlich sind.
4. Antidepressiva
Antidepressiva sind das Flaggschiff der medikamentösen Behandlung psychischer Störungen. Sie kommen nicht nur bei Depressionen zum Einsatz, sondern auch bei vielen anderen Krankheitsbildern wie zum Beispiel bei Ängsten, sozialen Phobien, posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS), Panikstörungen, Zwangsstörungen, Bulimie, Persönlichkeitsstörungen und bipolaren Depressionen. In diesem Sinne werden sie manchmal als regelrechte „Allheilmittel“ selbst bei leichteren psychischen Problemen verschrieben. Bevorzugt werden heutzutage moderne Präparate. Alte Präparate wie die Trizyklischen Antidepressiva (zum Beispiel Amitriptylin (Saroten®), Imipramin (Tofranil®), Clomipramin (Anafranil®)) und die Monoaminoxidase-Hemmer (zum Beispiel Moclobemid (Aurorix®), Tranylcypromin (Jatrosom®)) werden nur noch selten eingesetzt. Bei schweren Depressionen sind sie jedoch wirksamer als die modernen Präparate (Selektive Serotonin Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRIs)). Im Folgenden sind die wichtigsten modernen Antidepressiva aufgeführt. Sie wurden alle nach 1980 in Deutschland zugelassen. Dies sind: Fluvoxamin (Fevarin®), Fluoxetin (Fluctin®), Citalopram/Escitalopram (Cipralex®, Escitalex®), Sertralin (Gladem®, Zoloft®), Paroxetin (Paroxedura®, Paroxat®, Seroxat®), Vortioxetin (Brintellix®), Venlafaxin (Efexor®, Trevilor®), Duloxetin (Duloxalta®, Cymbalta®), Mirtazapin (Remeron®) und Trazodon (Trittico®). Am beliebtesten sind Citalopram/Escitalopram, Sertralin und Venlafaxin, die zusammen etwa zwei Drittel der verschriebenen modernen Antidepressiva ausmachen. Wie sieht es mit der Wirksamkeit dieser Medikamente bei der Behandlung von Depressionen aus? In einer großen Meta-Analyse aus dem Jahr 2018, in der die Ergebnisse vieler klinischer Studien mit insgesamt mehr als 110 000 Patienten zusammengefasst wurden, zeigte sich eine mittlere Wirksamkeit, die jedoch nur wenig über der eines Placebos (Scheinmedikament ohne Wirkstoff) liegt. In einer großen klinischen Studie (STAR*D) des Nationalen Instituts für seelische Gesundheit der USA (NIMH) mit über 4000 Patienten untersuchte man die Wirksamkeit von Antidepressiva unter sehr realitätsnahen Bedingungen über einen längeren Zeitraum. Dabei erhielten alle Patienten zunächst das bekannte Antidepressivum Citalopram und wurden bei Nichtansprechen in bis zu drei weiteren Schritten auf andere Antidepressiva umgestellt. Oder sie bekamen zusätzlich andere Präparate mit einem unterschiedlichen Wirkmechanismus. Insgesamt zeigten in der ersten Behandlungsstufe (Citalopram) nur 26 % der Patienten eine Remission (Rückbildung) der depressiven Symptomatik. In den weiteren Behandlungsschritten nahm der Anteil der Patienten mit Remission kontinuierlich ab. Auffällig ist auch der hohe Anteil von Patienten, die wegen mangelnder Wirksamkeit oder starker Nebenwirkungen aus der Studie ausschieden, obwohl die Betreuung der Patienten während der Studie ausgesprochen gut war. Untersucht wurde ebenso die Frage, wie stabil die Wirkung über einen längeren Zeitraum ist.
„Alle Substanzen haben einen beträchtlichen Placeboeffekt und viele psychische Leiden eine natürliche Heilungstendenz, die beide fälschlicherweise auch der Wirkung des Medikaments zugeschrieben werden können.“
Am Ende des einjährigen Beobachtungszeitraums zeigten insgesamt nur noch 108 der 4041 Patienten (das heißt 2,7 %), die zu Beginn an der Studie teilgenommen hatten, eine anhaltende Remission. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Wirksamkeit moderner medikamentöser Depressionstherapien unbefriedigend ist. Wie erklärt sich dann, dass viele Menschen mit Depressionen berichten, dass ihnen Antidepressiva geholfen haben? Umfangreiche Studiendaten zeigen, dass sich die Wirkung von Antidepressiva aus mehreren Komponenten zusammensetzt:
– natürlicher Krankheitsverlauf: 24 %,
– Placeboeffekt: 51 % und
– zusätzlicher Medikamenteneffekt: 25 %.
Der tatsächliche Effekt eines Antidepressivums beträgt also im Durchschnitt nur ein Viertel des beobachteten Gesamteffekts.6 Neben dem starken Placeboeffekt der Antidepressiva ist zu beachten, dass die meisten Depressionen einen gutartigen Verlauf haben und nach einigen Wochen oder Monaten von selbst, das heißt ohne Behandlung, aufhören. Verglichen mit einer Psychotherapie sind Antidepressiva ähnlich wirksam. Diese kritische Sichtweise, dass moderne Antidepressiva nur eine geringe Wirksamkeit haben, wird inzwischen auch von zahlreichen Psychiatern geteilt. Bemerkenswert ist, dass die „Leitlinie Unipolare Depression“ der deutschen psychiatrischen Fachgesellschaften zur Behandlung leichter und mittelschwerer Depressionen in erster Linie Psychotherapie empfiehlt.7 Neben ihrer bescheidenen Wirksamkeit weisen die modernen Antidepressiva einen weiteren Schwachpunkt auf: eine ganze Reihe von zum Teil schwerwiegenden Nebenwirkungen, die leider oft nicht die erforderliche Beachtung finden und vielen Betroffenen nicht hinreichend bekannt sind.8 Diese Nebenwirkungen sind keine seltenen Ereignisse, sondern treten bei einem beträchtlichen Anteil der Patienten auf. Besonders wichtige potentielle unerwünschte Wirkungen, die jedoch nicht bei jedem Antidepressivum auftreten, sind die Verursachung von Suizid und Aggression (besonders in den ersten Wochen der Einnahme), sexuelle Nebenwirkungen („genitale Anästhesie“), emotionale Abstumpfung, Auslösen einer manischen Phase, Akathisie (Sitz- und Stehunruhe) und das sogenannte Absetzsyndrom.9 Insbesondere Paroxetin und Venlafaxin sind dafür bekannt, dass das Absetzen oft problematisch ist.
5. Neuroleptika/Antipsychotika
Eine bekannte Psychiaterin bezeichnet Neuroleptika als „die bittersten Pillen“.10 Diese Medikamente kann man zu Recht so nennen, denn sie werden wegen ihrer Nebenwirkungen von vielen Patienten nur ungern eingenommen. Dabei ist zu beachten, dass dies nicht für alle Neuroleptika gleichermaßen gilt. Zudem hängt die Ausprägung der Nebenwirkungen stark von der eingesetzten Dosis ab. Die Wirkung der Neuroleptika auf Wahnvorstellungen, Halluzinationen und Denkstörungen beruht auf einer unspezifischen Symptomunterdrückung und geht mit einer Indifferenz (Gleichgültigkeit) gegenüber Gefühlen, Gedanken und Eindrücken einher. Insbesondere bei quälenden Wahnideen und psychotischen Ängsten kann dies durchaus als hilfreich und erwünscht erlebt werden. Patienten, die Neuroleptika einnehmen, berichten jedoch häufig, dass ihre Wahnvorstellungen oder Halluzinationen nicht völlig verschwinden. Sie werden aber nicht mehr als so belastend und beängstigend empfunden. Außerdem schützen sie vor äußerem Stress und erzeugen gewissermaßen ein „dickes Fell“. Wie stark diese Wirkung ist, hängt vom Präparat und vor allem von der Dosis ab. Sie sollte nur so hoch sein, dass der gewünschte Effekt erzielt wird. Bei einigen Neuroleptika (unten mit einem Stern* gekennzeichnet) treten bei Überschreiten einer bestimmten Dosis „extrapyramidale Symptome“ (EPS) auf, die sehr unangenehm sind. Dazu gehören akute Dystonien (unwillkürliche Muskelbewegungen), Rigor (Muskelsteifheit) und Tremor (Zittern). Diese Nebenwirkungen entsprechen zum Teil dem Krankheitsbild der Parkinson-Krankheit. Eine andere Gruppe von Neuroleptika (unten mit zwei Sternen** gekennzeichnet) verursacht keine oder nur wenig EPS. Dafür treten als unerwünschte Nebenwirkungen oft eine Sedierung und Stoffwechselstörungen auf, die sich in einer zum Teil drastischen Gewichtszunahme, Bluthochdruck und der Entstehung eines Diabetes Typ 2 äußern können (metabolisches Syndrom). Eine wichtige Nebenwirkung vieler Neuroleptika ist das sogenannte „Neuroleptikainduzierte dysphorische Syndrom“. Dabei handelt es sich um einen medikamentös erzeugten Zustand, der leicht mit der Negativsymptomatik einer Schizophrenie oder mit einer Depression verwechselt werden kann. Viele Patienten berichten, dass sie unter der Einnahme von Neuroleptika unter einer belastenden „emotionalen Abstumpfung“ leiden, bei der sie weder Freude noch Trauer empfinden können. In diesem Fall sollte nicht zusätzlich ein Antidepressivum oder ein weiteres Neuroleptikum eingenommen werden, sondern man sollte die Dosis reduzieren, ein besser verträgliches Präparat einnehmen oder das Neuroleptikum nach Möglichkeit ganz absetzen. Gebräuchliche Neuroleptika sind: Risperidon* (Risperdal®), Aripiprazol* (Abilify®, Arpoya®), Olanzapin** (Zyprexa®), Quetiapin** (Seroquel®), Haloperidol* (Haldol®), Cariprazin* (Reagila®), Ziprasidon (Zeldox®), Amisulprid* (Solian®) und Clozapin** (Leponex®). Die heutzutage am meisten verordneten Präparate sind Quetiapin, Olanzapin und Risperidon. Im Folgenden wollen wir einige interessante Ergebnisse der großen klinischen Studie CATIE, in der die Wirksamkeit und Nebenwirkungen von vier neueren „atypischen“ Neuroleptika (Olanzapin, Quetiapin, Risperidon, Ziprasidon) mit einem älteren (typischen) Neuroleptikum verglichen wurden, betrachten. In dieser realitätsnahen Studie erhielten insgesamt 1432 Patienten mit der Diagnose Schizophrenie über einen Zeitraum von 18 Monaten die üblichen Dosen der oben genannten Neuroleptika. Besonders bemerkenswert ist die Beobachtung, dass es keine signifikanten Unterschiede zwischen den fünf untersuchten Präparaten gab. Etwa drei Viertel der Studienteilnehmer schieden vorzeitig aus der Studie aus, insbesondere wegen mangelnder Wirkung oder unerwünschter Nebenwirkungen. Darüber hinaus mussten circa 15 % der Teilnehmer trotz der Einnahme der Neuroleptika wegen einer Verschlechterung ihres psychischen Zustandes hospitalisiert werden. Es wird oft behauptet, Neuroleptika würden nicht abhängig machen. Es ist jedoch so, dass viele Menschen nach längerer Einnahme Probleme mit dem Absetzen haben. Ein zu rasches Absetzen führt häufig zum Wiederauftreten psychotischer Symptome, die aber oft nicht Ausdruck der zugrunde liegenden Problematik sind, sondern eine Reaktion des Gehirns auf das plötzliche Fehlen des Neuroleptikums. Das Absetzen sollte daher immer langsam und in kleinen Schritten erfolgen. Eine langfristige Einnahme kann verschiedene schwerwiegende Folgen haben, die oft chronisch und therapieresistent sind. Dazu gehören Spätdyskinesien (das heißt unwillkürliche Muskelbewegungen wie Zucken, Tics, Grimassieren, Herausstrecken der Zunge und so weiter), Akathisie, Diabetes (vor allem bei Clozapin, Olanzapin und Quetiapin) und die sogenannte Supersensitivitätspsychose. Diese geht mit einer Verschlechterung der psychotischen Symptomatik trotz Neuroleptika einher und kann ein Absetzen des Präparates unmöglich machen.10-12 Neuroleptika sollte man nur bei starker psychomotorischer Erregung, Wahn und/oder Halluzinationen („Stimmen hören“) einsetzen. Bei quälenden Wahnvorstellungen, starken psychotischen Ängsten oder großer psychischer Erregung können sie sehr hilfreich sein (eine andere Möglichkeit sind Benzodiazepine). Einzelne Nebenwirkungen werden möglicherweise als psychische Probleme fehlinterpretiert. Die Dosis sollte so niedrig wie möglich sein und die Einnahmedauer so kurz wie nötig. Der Einsatz von Neuroleptika bei Kindern, Jugendlichen und älteren Menschen ist problematisch und sollte sehr zurückhaltend erfolgen.
6. Stimmungsstabilisierer/ Phasenprophylaktika
In diesem Abschnitt geht es insbesondere um die medikamentöse Behandlung von psychischen Störungen, die sich in periodisch wiederkehrenden Phasen von Manie und Depression äußern. Früher sprach man von „manisch-depressivem Irresein“ (MDI) und meinte damit wiederkehrende schwere Depressionen (Melancholie) und/oder Manien. Diese Krankheitsbilder waren sehr selten und so schwerwiegend, dass in der Regel eine stationäre Behandlung erforderlich war. Heute werden unipolare und bipolare Verläufe getrennt klassifiziert und meist nur bipolare Verläufe mit sogenannten „Stimmungsstabilisierern“, auch Phasenprophylaktika genannt, behandelt. Mit Ausnahme von Lithium setzt man die Medikamente dieser Gruppe auch zur Behandlung der Epilepsie ein. Die wichtigsten Stimmungsstabilisierer sind Lithium (Quilonum®, Hypnorex®, Lithiofor®), Valproat (Convulex®, Ergenyl®), Carbamazepin (Tegretal®) und Lamotrigin (Lamical®).
Die weitaus größte Bedeutung innerhalb dieser Medikamentengruppe hat Lithium, das in Form eines Salzes verabreicht wird. Bei der medikamentösen Behandlung der bipolaren Depression sollte Lithium das Mittel der Wahl sein. Leider ist dies in der Praxis nicht der Fall und viele Psychiater geben anderen Medikamenten (Neuroleptika und/oder Antidepressiva) den Vorzug. Lithium wirkt sowohl in akuten Phasen als auch prophylaktisch. Bei etwa einem Drittel der Patienten wird langfristig eine vollständige Beschwerdefreiheit erreicht. Bei unzureichender Wirkung oder schweren Nebenwirkungen kann Lithium durch Valproat, Carbamazepin oder Lamotrigin ersetzt werden. Insgesamt werden diese Medikamente zu wenig angewendet. Neuroleptika und Antidepressiva sind keine Stimmungsstabilisierer und sollten nicht die Mittel der ersten Wahl sein. Neuere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass es einen fließenden Übergang zwischen den beiden Polen Manie und Depression gibt. Einige Menschen, deren psychisches Problem als Depression diagnostiziert wurde, haben auch einen mehr oder weniger großen Anteil an Manie (die sich oft nicht als Euphorie, sondern als Reizbarkeit äußert). In diesem Fall sollten Antidepressiva
vermieden und eine Behandlung mit Stimmungsstabilisierern durchgeführt werden. Lithium und Lamotrigin sind auch zur Behandlung und Prophylaxe von wiederkehrenden rein depressiven Phasen (Melancholie) gut geeignet. Die Behandlung der bipolaren Depression mit Antidepressiva bringt keinen Nutzen, ist aber mit erheblichen Risiken verbunden. Der langfristige Krankheitsverlauf kann negativ beeinflusst und manische Phasen ausgelöst werden.
7. Sedativa/Hypnotika
Die folgenden Arzneimittel werden insbesondere bei Erregtheit und Unruhe, Ängsten, Panikattacken und Schlaflosigkeit eingesetzt. An erster Stelle sind hier die sogenannten Benzodiazepine zu nennen. Dabei handelt es sich um eine alte Medikamentengruppe, die man seit etwa 60 Jahren verwendet. Früher wurden Medikamente wie Valium und Librium („Mutters kleine Helfer“) in großer Zahl zur Behandlung leichterer unspezifischer psychischer Störungen, ausgelöst durch Alltagsprobleme, verschrieben. Dazu gehören psychosomatische Beschwerden („vegetative Dystonie“), Angstzustände, Depressionen und Schlafstörungen. Benzodiazepine sind wirksame Medikamente, die man früher erfolgreich gegen verschiedene Formen von Angst und Depression, die sehr häufig gemeinsam auftreten, einsetzte. In den 80er- Jahren wurde ihr Abhängigkeitspotenzial erkannt und dann an ihrer Stelle die weniger wirksamen modernen Antidepressiva (SSRIs) verschrieben. In den folgenden Jahren ging die Zahl der Verordnungen von Benzodiazepinen stark zurück. Das Absetzen von Benzodiazepinen nach längerer regelmäßiger Einnahme kann sehr problematisch sein. Einige häufig verwendete Benzodiazepine sind Bromazepam (Bromazanil®), Oxazepam (Praxiten®, Adumbran®, Seresta®), Lorazepam (Tavor®, Temesta®), Alprazolam (Tafil®), Chlordiazepoxid (Librium®) und Diazepam (Valium®), wobei Lorazepam und Diazepam am häufigsten verordnet werden.4 Gesunder und ausreichender Schlaf ist für das psychische Wohlbefinden des Menschen sehr wichtig. Länger andauernde Schlaflosigkeit kann zu psychischen Problemen führen. Eine gute Schlafhygiene ist daher unerlässlich. Erst wenn alle Änderungen der Lebensgewohnheiten keinen Erfolg gebracht haben und die Schlafstörungen ein größeres Problem darstellen, sollte man in Absprache mit einem Arzt an eine medikamentöse Behandlung denken. Dem Ausbruch einer schweren psychischen Störung geht oft eine Phase der Schlaflosigkeit voraus. Diese Entwicklung lässt sich möglicherweise durch den kurzfristigen Einsatz von Schlafmitteln aufhalten. Als Hypnotika (Schlafmittel) werden heute meist die sogenannten „Z-Substanzen“ verordnet, zum Beispiel Zolpidem (Stilnox®, Bikalm®) und Zopiclon (Ximovan®, Imovane®). Der biochemische Wirkmechanismus ist der gleiche wie bei den Benzodiazepinen. Das Abhängigkeitspotenzial ist mit dem der Benzodiazepine vergleichbar. Zur Verbesserung des Schlafes werden auch sedierende Antidepressiva wie Doxepin, Mirtazapin, Trazodon oder Trimipramin verschrieben, was durchaus hilfreich sein kann. Sedierende Neuroleptika wie zum Beispiel Quetiapin sind als Schlafmittel nicht zu empfehlen. Eine andere Option ist der Einsatz von sedierenden Antihistaminika, die man meist rezeptfrei in einer Apotheke beziehen kann. Auch diese Präparate sollten nur kurzfristig und im Notfall zur Beruhigung und als Schlafmittel verwendet werden, zum Beispiel Diphenhydramin (Betadorm®, Halbmond®, Benocten®), Doxylamin (Hoggar®) und Hydroxyzin (Atarax®).
8. Alternativen zu Psychopharmaka
Pflanzliche Mittel (Phytopharmaka) wie Baldrian und Passionsblume werden oft als „sanfte“ Mittel zur Beruhigung und Schlafförderung empfohlen.13 Auch Johanniskrautpräparate (zum Beispiel Jarsin®) können bei leichten bis mittelschweren Depressionen hilfreich sein.7 Homöopathische Mittel, Schüssler-Salze und ähnliche Präparate der Alternativmedizin können aus christlicher Sicht nicht empfohlen werden.14 Bei einer saisonal abhängigen Depression („Winterblues“) erwies sich eine Lichttherapie als wirksam. Die entsprechenden Lampen kann ein Arzt verordnen, oder man kauft oder leiht sie in einer Apotheke. Klinische Studien zeigen, dass bei Depressionen und anderen psychischen Problemen Sport hilfreich ist. Eine gesunde Lebensweise mit ausreichend Schlaf, einer ausgewogenen naturbelassenen Ernährung, körperlicher Betätigung und guten Kontakten mit anderen Menschen tragen zur seelischen Gesundheit bei.
9. Abschließende Bewertung der Psychopharmaka und praktische Ratschläge
Allgemein kann man sagen, dass zu viele Menschen Psychopharmaka einnehmen, weil ihre Wirksamkeit geringer und die Nebenwirkungen und Risiken höher als angenommen sind. Die Dosis sollte immer so niedrig wie möglich und die Einnahmedauer nur so lang wie nötig sein. Die gleichzeitige Einnahme mehrerer Psychopharmaka ist mit erhöhten Nebenwirkungen und Risiken verbunden und nach Möglichkeit zu vermeiden. Der Einsatz dieser Substanzen bei Kindern und Senioren hat besondere Risiken, die sorgfältig abgewogen werden müssen. Die möglichen Langzeitfolgen einer Einnahme von Psychopharmaka sind besorgniserregend15 und dürfen nicht verharmlost werden. Bei psychotischer Angst, längerer Schlaflosigkeit, unerträglicher Niedergeschlagenheit, quälendem Wahn und Halluzinationen und wiederkehrenden Episoden von Depression und/oder Manie sind Psychopharmaka hilfreich und ihre Einnahme angezeigt. Es ist wichtig festzuhalten, dass der Anteil der Menschen, die im Laufe ihres Lebens an einer schweren psychischen Störung („endogene Psychosen“, das heißt Melancholie, Manie, Schizophrenie, Bipolare Störung) erkranken, nur gering ist. Das bedeutet, dass der weitaus größte Teil der psychisch Erkrankten eher an funktionellen Störungen leidet, die keine Krankheit im eigentlichen Sinne darstellen. Da Psychopharmaka oft nicht die erhoffte Wirkung zeigen, wird versucht, durch Wechsel auf andere Präparate der gleichen Gruppe, Erhöhung der Dosis, Kombination mehrerer Substanzen der gleichen Gruppe oder Hinzunahme von Medikamenten aus anderen Gruppen (zum Beispiel Neuroleptika bei Depressionen) doch noch die gewünschte Wirksamkeit zu erzielen. Dieses „Ausprobieren“ kommt in der Praxis häufig vor, hat aber wenig Aussicht auf Erfolg, wie sich bei der Besprechung der Ergebnisse der STAR*D-Studie zeigte. In dem Buch „Antidepressiva – Wie man die Medikamente bei der Behandlung von Depressionen richtig anwendet und wer sie nicht nehmen sollte“ von dem Psychiater Prof. Bschor werden die verschiedenen Strategien der Depressionstherapie kritisch diskutiert.3 Mirtazapin und Trazodon wirken in niedriger Dosierung beruhigend und schlaffördernd und sind diesbezüglich hilfreich. Entscheidet man sich für die Medikamente, ist es wichtig, die Einnahme und einen Absetzplan mit dem Arzt zu besprechen. Vor häufigem Wechsel und Kombinationen von Psychopharmaka („Ausprobieren“) muss gewarnt werden. Dies führt meist nicht zum Erfolg. In jedem Fall sollte der Arzt einen sinnvollen Behandlungsplan vorlegen, dem der Patient zustimmen kann. Eine langfristige Einnahme (das heißt über Jahre) bedarf besonderer Gründe und sollte nicht ohne Absetzversuche erfolgen. Das Buch Gott ist mehr als genug von Jim Berg enthält zwei Zeugnisse von gläubigen Frauen, die jahrelang Psychopharmaka eingenommen haben, dann aber einen besseren Weg fanden.16 Dieses Buch möchten wir als seelsorgerliche Hilfe für Betroffene empfehlen. Für Interessierte steht eine ausführlichere Abhandlung (66 Seiten) über Psychopharmaka mit vielen kommentierten Literaturhinweisen zur Verfügung.17
8. Biblisch-seelsorgerliche Aspekte
Psychisches Leiden ist so alt wie die Menschheit und gehört, wie körperliche Krankheit und Tod, zum Leben dazu. Im Wort Gottes finden wir Depressionen, Ängste, psychosomatische Probleme und Wahnsinn (5. Mose 28,28; Daniel 4,29–34; 1. Samuel 21,16). Der von Gott geschaffene Mensch ist eine Einheit von Körper und Geist (oder auch Seele). Zwischen diesen Teilen bestehen enge Beziehungen. So wie ein betrübter Geist körperliche Leiden auslösen kann (psycho-somatisch), ist es auch möglich, dass sich körperliche Krankheiten auf den Zustand des Geistes auswirken (somato-psychisch). Es gibt nicht nur körperliche, sondern auch seelische Schmerzen. Diese können ganz unterschiedlicher Art und Intensität sein. Seelische Schmerzen können unerträglich stark sein und Menschen in den Suizid treiben. Wie geht man mit solchen Schmerzen in rechter Weise um? Für Christen sollte klar sein, dass alle Umstände des Lebens einen Sinn haben und Teil von Gottes Plan und dem, was er zulässt, sind. Hiob sagte in seinem großen Leid zu seiner Frau: „Wir sollten das Gute von Gott annehmen, und das Böse sollten wir nicht auch annehmen?“ (Hiob 2,10) Deshalb gilt es, alles Leid in unserem Leben zuerst aus der Hand Gottes anzunehmen und ein Ja dazu zu haben. In dieser Situation ist es wichtig, als erstes nach Gott und seinen Gedanken zu fragen. Von König Asa lesen wir: „Und Asa wurde krank an seinen Füßen im 39. Jahr seines Königreichs, und seine Krankheit war sehr schwer; doch suchte er auch in seiner Krankheit nicht den HERRN, sondern die Ärzte“ (2. Chronik 16,12; vergleiche Lukas 8,43). Asa liebte den Herrn, aber in dieser leidvollen Situation traf er die falsche Entscheidung. Das sollte uns eine Warnung sein. Es ist die Erfahrung vieler Kinder Gottes, dass sie in schwierigen Situationen und in großem Leid Gott in besonderer Weise kennengelernt haben. Gott kann im Leid besonders durch Sein Wort zu uns reden (Psalm 119,143). Das geistliche Leben wird dadurch belebt und gestärkt. Durch das Leid ist uns die Möglichkeit gegeben, uns selbst und unsere Motive, Gott und auch unsere Mitmenschen besser kennenzulernen. Auf die Frage nach dem Warum des Leidens finden wir oft keine Antwort und bei längerer Dauer sind Vertrauen, Hoffnung und Geduld gefragt (vergleiche Lukas 8,43 und Lukas 13,11). In Gottes Plan hat alles seine Zeit (Prediger 3,1–8; 1. Petrus 5,6), auch das Heilen (Prediger 3,3). Wie schön ist es, wenn ein Kind Gottes bekennen kann: „Siehe, zum Heil ward mir bitteres Leid“ (Jesaja 38,17). Selbst erlebtes Leid und erfahrene Hilfe Gottes kann auch für andere zum Segen werden: „Damit wir die zu trösten vermögen, die in allerlei Bedrängnis sind, durch den Trost, mit dem wir selbst von Gott getröstet werden“ (2. Korinther 1,4). Nach Gottes Gedanken soll Sein Kind, das leidet, in der Not nicht allein sein. Dies ist ein Aspekt, der uns die Wichtigkeit der örtlichen Gemeinde vor Augen führt. In Galater 6,2 heißt es: „Einer trage des anderen Lasten, so sollt ihr das Gesetz des Christus erfüllen!“ Verständnis, Trost und Ermutigung sind Balsam für die leidende Seele. Der Auftrag Gottes ist klar: „Wir ermahnen euch aber, Brüder: Verwarnt die Unordentlichen, tröstet die Kleinmütigen, nehmt euch der Schwachen an, seid langmütig gegen jedermann!“ (1. Thessalonicher 5,14) Unter Kleinmütigen und Schwachen dürfen wir sicher auch Menschen mit seelischen Problemen und Nöten verstehen. In diesem Dienst kommt dem Wort Gottes eine besondere Rolle zu: „Wie gut ist ein Wort, das zur rechten Zeit gesprochen wird!“ (Sprüche 15,23; vergleiche Sprüche 25,11) In der Heiligen Schrift werden mehrfach Ärzte erwähnt. Lukas, der Verfasser des dritten Evangeliums und der Apostelgeschichte, war Arzt (Kolosser 4,14). Auch von Medizin, zum Beispiel Balsam, ist die Rede (Jeremia 8,22; 51,8). In 1. Timotheus 5,23 wird Timotheus angewiesen: „Trinke nicht mehr nur Wasser, sondern gebrauche ein wenig Wein um deines Magens willen und wegen deines häufigen Unwohlseins.“ Im Zusammenhang mit unserem Thema kann man Wein auch als sanftes Psychopharmakon betrachten (Sprüche 31,6). Es ist also nicht falsch, zur rechten Zeit einen Arzt aufzusuchen, und es ist auch keine Sünde, Psychopharmaka einzunehmen. Aber letztlich sollen wir unser Vertrauen nicht auf Menschen und Medikamente setzen, sondern auf den lebendigen Gott (Jeremia 17,5; Sprüche 3,5). Gott allein kann heilen – der Arzt und seine Therapien sind nur Hilfsmittel. So wie manche körperlichen Schmerzen auch mit den stärksten Schmerzmitteln nicht verschwinden, so können auch seelische Leiden trotz aller Medikamente, die keine Wundermittel sind und ihre klaren Grenzen haben, bestehen bleiben. Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang an die Verheißung des Wortes Gottes: „Denn ich bin überzeugt, dass die Leiden der jetzigen Zeit nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns geoffenbart werden soll. [...] Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung mitseufzt und in Wehen liegt bis jetzt; und nicht nur sie, sondern auch wir, die wir die Erstlingsgabe des Geistes haben, auch wir erwarten seufzend die Sohnesstellung, die Erlösung unseres Leibes“ (Römer 8,18.22–23). Ja, es wird der Tag kommen, von dem es heißt: „Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, weder Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!“ (Offenbarung 21,4–5)
[1] Wikipedia, Psychopharmakon (o. J.) https://de.wikipedia.org/wiki/Psychopharmakon
[2] Moncrieff, A Straight Talking Introduction to Psychiatric Drugs. The Truth About How They Work and How to Come Off Them. PCCS Books 2021
[3] Bschor, Antidepressiva. Wie man die Medikamente bei der Behandlung von Depressionen richtig anwendet und wer sie nicht nehmen sollte. Südwest 2018
[4] Ludwig, Mühlbauer & Seifert, Arzneiverordnungs-Report 2022. Springer 2023
[5] Frances, Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen. DuMont Buchverlag 2014
[6] Kirsch, Listening to Prozac but hearing placebo: A meta-analysis of antidepressant medication. Prevention & Treatment, 1(2): Article 2a (1998) https://pdfs.semanticscholar.org/2e38/26a18b32d3e029400df21eae5298a02d7985.pdf
[7] DGPPN, Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression, Springer (2015) https://www.leitlinien.de/themen/depression/pdf/depressionvers3-2-lang.pdf
[8] Ansari, Unglück auf Rezept. Die Anti-Depressiva-Lüge und ihre Folgen. Klett-Cotta 2019
[9] Fava, Antidepressiva absetzen. Anleitung zum personalisierten Begleiten von Absetzproblemen. Schattauer 2023
[10] Moncrieff, The Bitterest Pills. The Troubling Story of Antipsychotic Drugs. Palgrave Macmillan 2013
[11] Healy, Psychiatric Drugs Explained. Elsevier 2023
[12] Chouinard, Samaha, Chouinard, et al. Antipsychotic-Induced Dopamine Supersensitivity Psycho-sis: Pharmacology, Criteria, and Therapy. Psychother Psychosom 86(4):189-219 (2017) https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/28647739/
[13] Wormer, Natürliche Antidepressiva. Sanfte Wege aus dem Stimmungstief. Mankau Verlag 2022
[14] Pfeifer, Gesundheit um jeden Preis? Alternative Medizin und christlicher Glaube. Brunnen Verlag 2008
[15] Whitaker, Anatomy of an Epidemic. Magic Bullets, Psychiatric Drugs, and the Astonishing Rise of Mental Illness in America. Crown 2011 Die deutsche Ausgabe (Titel: Anatomie einer Epidemie) erscheint voraussichtlich im Oktober 2024.
[16] Berg, Gott ist mehr als genug. Grundlagen für eine ruhige Seele. Impact 2018 Die beiden erwähnten Zeugnisse findet man auch hier: https://biblische-lehre-wm.de/wp-content/uploads/Zeugnissevon-Jenny-und-Anne.pdf
[17] Schumacher, Psychopharmaka und Seelsorge. Script 2021 https://biblische-lehre-wm.de/wp-content/uploads/Psychopharmaka-und-Seelsorge-MSchumacher.pdf
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Basismaßnahmen bei Depressionen
Basismaßnahmen bei Depressionen
Autor: Dr. med. Matthias Klaus
Wer depressiv ist, sieht kein Licht am Ende des Tunnels. Die Stimmung ist anhaltend trübe, die Motivation und die Freude fehlen. Häufig gesellen sich Schlaflosigkeit und rasche Erschöpfung hinzu. Die Gedanken kreisen – insbesondere in der Nacht – und lassen sich nicht stoppen. Dies sind nur einige der möglichen Symptome, die eine Depression kennzeichnen. Doch wie findet man heraus aus dem tiefen Loch? Wie kann eine Leiter nach oben gebaut werden? Der erste Schritt ist die ärztliche Einordnung, warum diese Symptome auftreten. Liegt eine körperliche Erkrankung oder eine familiäre Belastung vor oder sind die Symptome eine Reaktion auf schwere Lebensumstände? Unabhängig von der sich aus den jeweiligen Ursachen ergebenden spezifischen Behandlung, greifen die in diesem Artikel entfalteten Basismaßnahmen[1] bei jeder Art der Depression und helfen, die Symptome zu lindern oder gar zu überwinden. Die Basismaßnahmen bei Depressionen sind also nicht anstelle der spezifischen ärztlichen oder seelsorgerlichen Behandlung anzusehen, sondern als Grundlage, auf der die spezifischen Interventionen aufbauen.
1. Das vertrauensvolle Gespräch
Die wichtigste Säule bei der Behandlung von depressiven Symptomen ist das Gespräch. Der Betroffene braucht eine Beratung, in der er vermittelt bekommt, dass er mit seinen Beschwerden nicht isoliert dasteht. Die unterschiedlichen Puzzleteile, wie zum Beispiel Schlaflosigkeit, innere Unruhe und starke Stimmungsabsenkung, sind Ausdruck eines Gesamtbilds, nämlich eines depressiven Syndroms.[2] Es gilt, diese Symptome empathisch einzuordnen und in einem zweiten Schritt Hoffnung aufzuzeigen. Die meisten Depressionen klingen nach Wochen bis Monaten von selbst ab, die Prognose ist außerordentlich gut, auch wenn ein langer Atem nötig ist. Die Hintergründe, Symptome und typischen Verläufe einer Depression zu erklären, wirkt bereits therapeutisch (sogenannte Psychoedukation). Der Depressive ist seinen Krankheitszeichen nicht hilflos ausgeliefert, sondern kann ihnen durch wirksame Maßnahmen entgegentreten. Er ist also nicht Opfer einer Erkrankung, die über ihn kommt, sondern kann aktiv an seiner Genesung mitwirken. Das Gespräch muss schließlich den ins Zentrum rücken, der unser Erschaffer und zugleich unser Erlöser ist – Jesus Christus. Durch ihn gibt es tragfähige Hoffnung, die auch in die tiefste Dunkelheit hineinleuchtet. Er ruft: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, so will ich euch erquicken! Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen! Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“ (Matthäus 11,28–30) Im Zusammenhang mit einer Depression treten häufig aussichtlose Betrachtungsweisen bis hin zu Selbstmordgedanken auf. Wozu leben? Echte Antworten hierauf bietet allein Jesus Christus: Es lohnt sich zu leben, weil wir nicht nur von unserem Schöpfer gewollt, sondern auch innig geliebt sind. Wer Christus gehört, wer ihn mit Buße und im Glauben annimmt, darf aus den großen Verheißungen der Bibel Trost und Hoffnung schöpfen – und er bekommt täglich Kraft, gegen die Übermacht der lähmenden Gefühle anzukämpfen.[3]
2. Tagesstruktur
Eine wesentliche Basismaßnahme, um depressive Symptome zu bekämpfen, liegt in der Tagesstrukturierung. Aufgrund der raschen Ermüdbarkeit sowie dem fehlenden Antrieb werden häufig natürliche, tagesstrukturierende Elemente wie beispielsweise der Gang zur Arbeit oder zur Schule, sportliche Aktivitäten, Gemeinschaftsaktionen wie Treffen mit Familie und Freunden, Gottesdienstbesuche oder regelmäßige Mahlzeiten aufgegeben. Häufig steht dahinter die Überzeugung, dass die zusätzliche Ruhe und Entlastung zu einer Linderung der Depression beitragen. Leider ist jedoch häufig das Gegenteil der Fall. Beim Aufbau einer gesunden Tagesstruktur ist darauf zu achten, dass der Betroffene nicht überfordert wird. Dies gelingt durch einen schrittweisen Auf- und Ausbau einzelner Elemente im Tagesplan. Hilfreich sind klar definierte, konkrete Aufgaben, die täglich abgehakt werden können (beispielsweise Spaziergänge, regelmäßige Mahlzeiten, im Verlauf Sport, Erledigung von häuslichen Tätigkeiten, überschaubare Hilfeleistungen für Dritte). Geplante häufige Pausen zu Beginn des Strukturaufbaus werden sukzessive verkürzt. Entgegen der Neigung, sich zurückzuziehen, ist eine regelmäßige Teilnahme am Gottesdienst wichtiger Teil der Strukturierung. Das Ziel dieser Maßnahme besteht nicht darin, wieder das „alte“ Tagespensum zu erreichen. Wenn beispielsweise eine hohe körperliche Belastung, wie etwa das Pflegen von Angehörigen, zur depressiven Symptomatik geführt hat, dann ist an dieser Stelle eine Entlastung und Umstrukturierung der Lebenssituation vonnöten.[4]
„Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, so will ich euch erquicken! Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen! Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“
Matthäus 11,28–30
3. Sport
Eine der wirksamsten Methoden gegen depressive Symptome besteht in sportlicher Betätigung aller Art. [5] Dabei ist bemerkenswert, dass schon ein täglicher Spaziergang einen langanhaltenden positiven Effekt auf die Stimmungslage und Motivation hat. Wichtig bei der körperlichen Aktivität ist nicht so sehr die Intensität der Bewegung, sondern vielmehr die Regelmäßigkeit und eine ausreichende Dauer (mindestens 30 Minuten pro Tag). Häufig hilft es daher, Sport in einer Gruppe zu betreiben. Wer Sport treibt, verspürt einen nachhaltig stressmildernden Effekt, stärkt das Immunsystem, fördert die Schlafqualität und baut soziale Kontakte aus. Glückshormone werden ausgeschüttet, Stresshormone abgebaut, natürliche Killerzellen (Teil des Immunsystems) produziert und allgemein Herz und Muskeln gestärkt.[6]
4. Schlaf
Fast immer leiden Depressive unter Ein- oder Durchschlafstörungen, Früherwachen, Tagesmüdigkeit oder seltener an einer deutlich verlängerten Schlafdauer von bis zu 14 Stunden. Wer immer wieder erwacht und von Gedankenkreisen geplagt ist, fühlt sich tagsüber nicht erholt. Wenn am Tag versucht wird, den nächtlichen Schlafmangel auszugleichen, verstärken sich jedoch nachweislich depressive Symptome – eine Abwärtsspirale. Die Schlafqualität zu verbessern ist daher eine wesentliche Säule der Basismaßnahmen gegen Depressionen. Dies gelingt mittels konsequenter Schlafhygiene. Die fünf wesentlichen Schritte finden sich in der Infographik „5 Schritte zu einem erholsamen Schlaf‟.
5. Wachtherapie
Die Wachtherapie ist ein effektives Mittel, um kurzfristig und rasch depressive Symptome zu lindern. Hierfür wird eine Nacht lang ganz auf Schlaf verzichtet. Man bleibt also eine Nacht lang wach, macht weder vorher einen Mittagsschlaf noch in der Nacht kurze Nickerchen. Um eine gesamte Nacht wach zu bleiben, braucht es Verbündete, beispielsweise eine weitere Person, mit der man die Nacht über aufbleibt. Unterstützende Maßnahmen, damit es gelingt sind: ein nächtlicher Spaziergang, Bewegung mit Fitnessübungen oder Gesellschaftsspiele. Erst am Folgetag geht man zur üblichen Zeit ins Bett. Viele Depressive berichten, dass sie nach einer durchwachten Nacht bereits am nächsten Vormittag prompt eine verbesserte Stimmung und einen gesteigerten Antrieb verspüren. Dies stimmt hoffnungsvoll, da es zeigt, dass die Betroffenen tatsächlich noch gute Gefühle und Motivation wahrnehmen können. Der Nachteil besteht darin, dass die Wirkung nur von kurzer Dauer ist und meist am Folgetag bereits die depressive Grundstimmung zurückkehrt. Eine Wachtherapie kann beliebig häufig wiederholt werden, einige führen sie einmal pro Woche durch. Nur wenigen Personen ist von einer Wachtherapie abzuraten, hierzu gehören Patienten mit einer Epilepsie oder mit der Diagnose einer bipolaren Erkrankung.
6. Lichttherapie
Für die saisonal betonte Depression eignet sich in vielen Fällen eine Lichttherapie. In den dunklen Monaten kommt es bei einigen Menschen durch die nur kurze Sonnenscheindauer zu einer regelmäßig im Herbst und Winter auftretenden Depression. Der fehlende Sonnenschein wird mit einer speziellen Lichtlampe mit einer Helligkeit von 10.000 Lux ausgeglichen (zu beziehen via Rezept oder frei verkäuflich über eine Apotheke). Hierfür setzt man sich in einem Abstand von circa einem halben Meter von der Lampe entfernt hin, ohne direkt in die Lampe zu blicken. Dies sollte täglich je 30 Minuten lang für mindestens 30 Tage angewandt werden. Anschließend kann beurteilt werden, ob die Lichttherapie wirksam ist und die depressiven Beschwerden gemildert wurden. Bei guter Wirksamkeit sollte die Lichttherapie konsequent während der gesamten Wintermonate fortgeführt werden.
7. Ernährung
Eine gesunde Ernährung fördert das allgemeine Wohlbefinden. Sie sollte praktisch, schmackhaft und sättigend sein. Nicht die zeit- und kostenintensive Diät führt zum Ziel, sondern einfache Schritte: ein hoher Anteil an Gemüse, Obst und gesunden Ölen, sättigende Beilagen, weitgehender Verzicht auf Fastfood, Süßigkeiten oder Knabbergebäck. Außerdem sind regelmäßige Mahlzeiten (drei- bis viermal täglich), am besten in Gemeinschaft dienlich.[7]
8. Fazit
Mit Hilfe der Basismaßnahmen kann der Depressive unter Anleitung und Motivation durch Angehörige, Seelsorger und Ärzte das Heft des Handelns (wieder) in die Hand nehmen.
"Du hast mir meine Klage in einen Reigen verwandelt; du hast mein Trauergewand gelöst und mich mit Freude umgürtet, damit man dir zu Ehren lobsinge und nicht schweige. O HERR, mein Gott, ich will dich ewiglich preisen!"
Psalm 30,12–13
[1] Siehe hierzu Selalmazidou, A.-M. et. al.: Depression: Niedrigschwellige Kardinalmaßnahmen als Basis jeder Behandlung. Fortschr Neurol Psychiatr 2023; 91(12): 523-534. DOI: 10.1055/a-2169-2120
[2] Hier kann nicht genauer darauf eingegangen werden, dass die Psychiatrie vorrangig deskriptiv, also beschreibend vorgeht. Das depressive Syndrom (also das Nebeneinander von verschiedenen charakteristischen Symptomen über mehr als mindestens zwei Wochen) wird als Depression bezeichnet. Dabei meint Depression nicht, dass es sich um eine eigentliche Krankheit handelt, sondern beschreibt lediglich den Zustand des Patienten. Die Ursache ist damit keineswegs geklärt.
[3] In einem zweiten Schritt werden hier spezifische Maßnahmen folgen: Welche Grundüberzeugungen verbergen sich hinter den Depressionen? Welche biblische Wahrheit steht diesen Grundüberzeugungen entgegen? Wie können sie überwunden werden? Vergleiche hierzu Antholzer, R.: Lehrbuch Biblische Seelosrge, Band IV. Hamburg: tredition. 2021. S. 113–154.
[4] Vergleiche hierzu Somerville, R. B.: Christ & depressiv. Wie kann das sein? Dübendorf: Verlag Mitternachtsruf und Christliche Verlagsgesellschaft. 2. Auflage 2019. S. 65–67.
[5] Noetel, M. et al.: Effect of exercise for depression: systematic review and network meta-analysis of randomised controlled trials. BMJ. 2024 Feb 14; doi: 10.1136/bmj-2023-075847.
[6] Hier sei exemplarisch auf eine Studie verwiesen. Mathot, E. et al.: Systematic review on the effects of physical exercise on cellular immunosenescence-related markers - An update. Exp Gerontol. 2021 Jul 1. doi: 10.1016.
[7] Zur weiteren Lektüre empfohlen: Prock, P.: Welchen Stellenwert hat Lebensstilmedizin in der Seelsorge. Waldems: 3L Verlag. 2019. und Prock, P. u. G.: Essen ist mehr. Ernährung aus biblischer, wissenschaftlicher und praktischer Sicht. Augustdorf: Betanien. 2019.
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Basismaßnahmen bei Depressionen.pdf
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STIKO – noch vertrauenswürdig? Ein Kommentar
STIKO – noch vertrauenswürdig?
Autor: Dipl. med. Sabine Kirchner
Die Ständige Impfkommission (STIKO) ist ein unabhängiges, ehrenamtliches Expertengremium, das Impfempfehlungen für die Bevölkerung in Deutschland entwickelt. Dabei orientiert sie sich an den Kriterien der evidenzbasierten Medizin und berücksichtigt sowohl den individuellen Nutzen für geimpfte Personen als auch den Nutzen für die gesamte Bevölkerung.
Ihre Arbeit wird von der STIKO-Geschäftsstelle im Fachgebiet Impfprävention des Robert Koch-Instituts koordiniert und durch systematische Analysen der Fachliteratur unterstützt. Ziel ist es, die Impfempfehlungen an neue Impfstoffentwicklungen und Erkenntnisse aus der Forschung optimal anzupassen. Die STIKO gibt neben den Empfehlungen zu Standardimpfungen auch Empfehlungen zu Indikationsimpfungen bei besonderen epidemiologischen Situationen oder Gefährdungen für bestimmte Personengruppen. Diese umfassen auch Impfungen aufgrund von beruflichen beziehungsweise arbeitsbedingten Risiken sowie Reiseimpfungen.
Für die Zulassung eines Impfstoffs ist dessen Wirksamkeit (im Vergleich zu Placebo oder einem bereits verwendeten Impfstoff) und Sicherheit (unter anderem Häufigkeit von Impfreaktionen und Nebenwirkungen) relevant. Darauf aufbauend analysiert die STIKO das Nutzen-Risiko-Verhältnis für die zu impfende Gruppe, unter Einbeziehung der Epidemiologie auf Bevölkerungsebene und der Effekte verschiedener Impfstrategien für Deutschland. Außerdem entwickelt die STIKO Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung. (1)
Neuausrichtung der STIKO
Am 12. Februar 2024 gab Karl Lauterbach die Bildung einer neuen STIKO bekannt: 14 der insgesamt 19 Sachverständigen kamen neu hinzu. Die konstituierende Sitzung fand am 13. und 14. März 2024 in Berlin statt.
Von den bislang 17 Mitgliedern blieben nur 5 in dem Gremium vertreten.
„Die STIKO hat in der Pandemie große Leistungen erbracht“, erklärt Lauterbach.
„Jetzt wird sie mit vielen neuen Mitgliedern aus sehr unterschiedlichen Fachbereichen jünger und noch interdisziplinärer besetzt. Auch wissenschaftliche und praktische Spitzenkräfte bauen das neue Team auf. Auch in Zukunft werden die Impfkampagnen der Bundesregierung auf der Grundlage der STIKO-Empfehlungen beruhen. Die Unabhängigkeit der STIKO von politischer Einflussnahme hat sich bewährt und bleibt weiter bestehen.“
Neben Expertinnen und Experten aus Immunologie, Mikrobiologie, Pädiatrie, Gynäkologie, Allgemein- und Arbeitsmedizin werde die STIKO künftig um Fachkenntnisse in Modellierung und Kommunikation erweitert. So werden ihr die Kommunikationswissenschaftlerin Prof. Dr. Constanze Rossman von der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie die Epidemiologin Dr. Berit Lange vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung angehören. Lange ist Leiterin der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie und Sprecherin des Modellierungsnetzwerkes für schwere Infektionskrankheiten.
Kritiker mahnen an, dass der personelle Austausch von zweidritteln des Gremiums einen erheblichen Erfahrungsverlust bedeute. So äußert sich beispielsweise der Kinderarzt Prof. Dr. med. Fred-P. Zepp, der seit 1998 über zwei Jahrzehnte in der STIKO tätig war: „Die neue STIKO wird wahrscheinlich eine gewisse Zeit benötigen, um sich in die anstehenden Themen einzuarbeiten und belastbare Empfehlungen vorzubereiten Das ist dem Bundesministerium für Gesundheit aber sicher auch bewusst“. (3)
Politische Einflussnahme auf STIKO-Empfehlungen
Doch bleibt die STIKO wirklich frei von politischer Einflussnahme? Dass die STIKO mitnichten ein unabhängiges Gremium, sondern leit- und lenkbar ist, soll das Beispiel der Corona-Impfempfehlungen für Kinder zeigen.
Neben dem bisherigen Vorsitzenden der STIKO Prof. Dr. Thomas Mertens und seiner Stellvertreterin Prof. Dr. Dr. med. Sabine Wicker schied auch der Immunologe Prof. Dr. med. Christian Bogdan, der sich 2021 gegen eine generelle Kinderimpfkampagne aussprach, welche die Bundesregierung an der Ständigen Impfkommission vorbei vorantrieb, aus dem Gremium aus. Es fehle an ausreichend Daten über Nebenwirkungen, so Bogdan. „Eine Impfempfehlung kann nicht einfach deswegen ausgesprochen werden, weil es gerade gesellschaftlich oder politisch opportun erscheint“. Die Wirksamkeit für Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren sei zwar nachgewiesen, aber in Sachen Nebenwirkungen fehlen noch ausreichend Daten. Die Immunantwort eines Kindes kann anders verlaufen als bei einem Erwachsenen. Deswegen braucht man da mehr Daten.“ Beim BioNtech-Impfstoff habe das Paul-Ehrlich-Institut beispielsweise „Hinweise für ein erhöhtes Auftreten von Herzmuskelentzündungen im zeitlichen Kontext zur Impfung, vor allem bei jüngeren Männern mitgeteilt. Ich will nicht die Pferde scheu machen. Aber wir brauchen eben Daten und sollten nicht eine generelle Kinderimpfkampagne starten.“
Ziel müsse es sein, in erster Linie diejenigen durch eine Impfung zu schützen, die ein erhöhtes Risiko haben schwer zu erkranken oder sogar zu sterben. „Eine Impfung von Kindern nur zum Zwecke des indirekten Schutzes anderer ist keine ausreichende Impfindikation. Eine Impfquote von 70 bis 80 Prozent, die als Schwelle für eine sogenannte Herdenimmunität gilt, sei auch ohne die umfassende Impfung von Kindern zu erreichen.
Der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn begrüßte das grüne Licht der EU-Arzneimittelbehörde EMA für eine Zulassung des ersten Corona-Impfstoffs für Kinder. Es sei „eine großartige Nachricht“, dass das in Deutschland entwickelte Präparat auch sicher und wirksam für Kinder ab zwölf Jahren sei, sagte der CDU-Politiker damals in Pretoria am Rande eines Südafrika-Besuchs. Die EMA hatte am Vortag eine EU-Zulassung des BioNtech-Präparats für Kinder von zwölf bis 15 Jahren befürwortet. (4)
Im August 2021 empfahl die STIKO die Corona-Impfung für alle zwölf- bis siebzehn jährigen Jugendlichen (Epidemiologisches Bulletin 33/2021), im Mai 2022 zusätzlich für alle Kinder von fünf bis elf Jahren (Epidemiologisches Bulletin 21/2022). Im November 2022 kam die Impfempfehlung für Kinder mit Vorerkrankungen von sechs Monaten bis vier Jahren, die Impfempfehlung für gesunde fünf bis elf Jährige wurde im gleichen Atemzug zurückgenommen (Epidemiologisches Bulletin 46/2022). Im Mai 2023 wurde Gott sei Dank die Impfempfehlung für Säuglinge, Kinder und Jugendliche ohne Grunderkrankungen zurückgenommen, auch angefangene Grundimmunisierungen sollten nicht mehr vervollständigt werden (Epidemiologisches Bulletin 21/2023).
Was gibt es seit März 2024 neues von der STIKO?
Wie die dts-Nachrichtenagentur am 24. März 2024 aus Berlin berichtete, spricht sich der STIKO-Vorsitzende Prof. Dr. Klaus Überla für Impfungen in Schulen aus. Um die Impfquote gegen HPV-Infektionen bei Jugendlichen zu steigern, sollten dringend neue Wege bestritten werden. Überla kündigte außerdem eine Impfempfehlung gegen RSV-Infektionen bei Kleinkindern an.
Zum HPV-Schulimpfprogramm gibt es bereits eine Etablierung eines HPV-Schulimpfprojektes in Leipzig und Umgebung.
Mit dem Ziel der Verbesserung der Impfbereitschaft und der Erhöhung der HPV-Impfrate gründete 2018 eine Initiative von Ärzten, Apothekern und Gesundheitswirten in Leipzig das HPV-Schulimpfprojekt. Es beinhaltet die Information und Aufklärung der Eltern über HPV innerhalb der regulär stattfindenden Elternabende und das niederschwellige Angebot der Impfung der Kinder im schulischen Umfeld im Intervall. 87,1 % der Eltern beurteilen die Möglichkeit einer Impfung in der Schule positiv. Zudem äußerten 73,9 % den Wunsch nach weiteren Informationen zur Impfung an Schulen. Zum aktuellen Schuljahr 2023/2024 erhielten 147 von 505 angesprochenen Schülerinnen und Schülern in ausgewählten vierten und fünften Klassen ihre erste Impfdosis. (5)
Erinnerungen…
Unser Bruder im HERRN Nico Rudat aus Schorndorf, der in der ehemaligen Sowjetunion geboren wurde, berichtete einmal, dass vor seiner Schule ein Bus vorfuhr aus dem zwei Krankenschwestern ausstiegen und nach der Order die Ärmel hochzukrempeln alle Kinder eine Impfung erhielten. Weder er noch seine Eltern wissen bis heute, um welche Impfung es sich dabei handelte.
Das erinnert mich schon an meine Facharztausbildung in einer Kinderklinik in der ehemaligen DDR. Jeder Assistenzarzt hatte nach Zuteilung eine Kinderkrippe zu betreuen. Dort fanden dann einmal wöchentlich „Mütterberatungen“ ohne Mütter statt. Die Erzieherinnen brachten die Kinder, manche noch im Säuglingsalter und nach der Untersuchung erhielten sie die erforderlichen Impfungen. In der DDR gab es nur Pflichtimpfungen. Bei bestimmten Erkrankungen zum Beispiel bei Frühgeborenen oder neurologischen Erkrankungen durften wir eine Impfrückstellung attestieren. Ein Satz einer älteren Kollegin ist mir bis heute in Erinnerung geblieben: „Beim Impfen sind wir immer mit einem Fuß im Knast!“ Auch das Gesundheitsamt hat regelmäßig die Schüler in den Schulen geimpft. Ich wünsche mir solche Zustände nicht zurück!
Nach § 223 StGB ist eine Impfung ohne Einwilligung des Impflings beziehungsweise bei Minderjährigen seiner Sorgeberechtigten eine Körperverletzung und kann mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren geahndet werden.
Fazit
Wir leben in einer gefallenen Welt mit Krankheiten und Tod und sind dankbar, dass es für viele schwere Erkrankungen die Möglichkeit einer Impfprävention gibt, die wir auch nutzen sollten. Über viele Jahre stand die STIKO für freie und wirtschaftlich wie politisch unabhängige Empfehlungen. Durch die jüngsten Ereignisse zeigt sich jedoch, dass auch STIKO-Mitglieder stark beeinflussbare Menschen sind. Aus der Corona-Impfmisere sollten wir gelernt haben, STIKO-Empfehlungen nicht unkritisch zu übernehmen. Gott hat uns einen Verstand gegeben oder um es mit Paulus zu sagen: „Prüfet aber alles, das Gute haltet fest!“ (1. Thessalonicher 5,21)
Leider verfolgen viele Wissenschaftler stur ihr Ziel ohne nach rechts und links zu schauen, aus welcher Motivation auch immer. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass die neuesten Empfehlungen sich eher an dem aktuellen politischen Kurs als an medizinischer Maßgabe orientieren.
Wenn wir wiedergeborene Christen sind, ist unser Leib ein Tempel des Heiligen Geistes und Gott ist es nicht egal, wie wir mit unserem Körper – seinem Tempel – umgehen. Wir gehören nicht mehr uns selbst, sondern Gott, deshalb sollen wir ihn mit unserem ganzen „Sein“ verherrlichen. (1. Korinther 6,19-20)
Als Ärzte sind wir verpflichtet unsere Patienten aber auch unsere Geschwister in der Gemeinde, die oftmals medizinische Laien sind, nach bestem Wissen und Gewissen aufzuklären und Impfnebenwirkungen sowie Impfversager an das Paul-Ehrlich-Institut zu melden, auch wenn das alles andere als bequem ist und nicht honoriert wird.
Quellen:
- RKI Stand 29.8.2023
- Express.de 9.12.2021
- FAZ online 12.2.2024
- Weltplus 29.5.2021
- Ärzteblatt Sachsen 4/2024
- https://www.24vita.de